• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Medizinstudenten in einer Obdachlosenpraxis: Lernen jenseits von „Paradefällen“ in der Universitätsklinik" (18.02.2000)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Medizinstudenten in einer Obdachlosenpraxis: Lernen jenseits von „Paradefällen“ in der Universitätsklinik" (18.02.2000)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

A-363 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 7, 18. Februar 2000

T H E M E N D E R Z E I T

Möglichkeiten kontrollierten Ge- brauchs von psychotropen Substan- zen oder die Frage nach den gesell- schaftlichen Kosten einer repressiv ausgerichteten Drogenpolitik. Mi- chels forderte, eine neue Drogenpoli- tik müsse vorurteilsfreie Forschung wirklich zulassen, und Politik müsse sich ebenso vorurteilsfrei von unab- hängiger Forschung beraten lassen und ihre Vorgaben nach deren Er- kenntnissen ausrichten.

Prof. Dr. jur. Lorenz Böllinger, Fachbereich Rechtswissenschaft der

Universität Bremen, vertrat die Auf- fassung, dass eine Reform, die dem tatsächlichen Scheitern der kontra- produktiven Prohibitionspolitik und den faktischen Errungenschaften von niedrigschwelligen, risikomin- dernden Angeboten der Drogenhilfe Rechnung trage, seit langem über- fällig sei. Er forderte verwaltungs- und sozialrechtliche Regelungen für eine Zulassung von Fixerräumen, für eine Erprobung der ärztlich kontrol- lierten Heroinvergabe, für eine Sprit- zenvergabe im Strafvollzug und für

eine Entkriminalisierung des Klein- handels zur Eigenbedarfsdeckung.

Angesichts der Erkenntnisse über die geringe Gefährlichkeit des Konsums bestimmter bislang noch illegalisierter Drogen solle bei Ge- währleistung einer adäquaten Herstel- lungs- und Vertriebskontrolle nach dem Beispiel des Lebensmittelgeset- zes die Entkriminalisierung von beispielsweise Cannabis erwogen wer- den. So ließen sich die weitaus schäd- licheren Folgen der Strafverfolgung vermeiden. Dr. Ingbert Weber TAGUNGSBERICHT/BERICHTE

a war ein Mann, der über Juckreiz im Rückenbereich klagte. Ich sollte mir das anse- hen.“ Die Ärztin illustriert ihre Aus- führungen mit einem Foto. Zu sehen ist der mit Maden übersäte Rücken des Patienten. Beklemmende Stille im Raum. Das nächste Bild zeigt eine aus- geprägte Staudermatitis, dann einen völlig deformierten Fuß, die Zehen sind schwarz. Zaghafte Zwischenfrage, ob das ein diabetischer Fuß sei. Schließ- lich folgt das Bild von einem Pa- tienten mit einer großflächigen Dermatitis am rechten Bein. Die Socken sind bereits in die Haut eingewachsen. Das alles habe auch fürchterlich gerochen, erin- nert sich die Dozentin, um dann zu ergänzen: „Dieser Mann kam kurz zuvor aus der Ambulanz ei- nes Berliner Krankenhauses zu uns.“ Dort habe man zwar eine frische Platzwunde am Kopf des Patienten versorgt, dieses „Pro- blem“ aber einfach übersehen.

Einigen Betrachtern entgleisen ob solcher Fotos die Gesichtszü-

ge. Es handelt sich um Medizinstuden- ten im 5. und 6. Klinischen Semester.

Vor ihnen steht die „Obdachlosenärz- tin“ Dr. med. Jenny De La Torre.

Nicht schockieren, sondern ins Gespräch kommen

Seit dem Sommersemester 1998 spricht sie fast jede Woche vor Medizin- studenten der Humboldt-Universität

zu Berlin. Initiiert haben dies Mitarbei- ter des dortigen Instituts für Sozial- medizin und Epidemiologie. So sollen die künftigen Ärzte etwas über jene Patientengruppen erfahren, die durch ihre extremen Lebensbedingungen schneller als andere erkranken. „Den Studenten werden dabei Krankheits- bilder vorgestellt, die unter den Para- defällen in der Uniklinik so gut wie nicht vorkommen“, sagt die stellvertre- tende Lehrbeauftragte des Instituts, Dr. med. Jaqueline Müller- Nordhorn. Die Seminare finden stets am Freitagnachmittag statt.

Als Veranstaltungsort dient ein Nebenraum der Obdachlosen- praxis am Ostbahnhof.

Kein Zweifel – die Bilder aus den Patientendokumenta- tionen haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Aber Jenny De La Torre will nicht schockieren.

Geduldig lenkt sie die Diskus- sion auf Aspekte der Sozialana- mnese, spricht über Schmerz- empfindungen, Leidensgrenzen und das Schamgefühl ihrer

Medizinstudenten in einer Obdachlosenpraxis

Lernen jenseits von „Paradefällen“

in der Universitätsklinik

Für Medizinstudenten im 5. und 6. Klinischen Semester an der Humboldt-Universität zu Berlin ist ein Seminar in der Obdachlosenpraxis von Dr. med. Jenny De La Torre

am Ostbahnhof Pflicht. Das Angebot wird bislang aber kaum zur Kenntnis genommen.

D

Erstaunt über die akribische Dokumentation der Obdachlosenpraxis: die Studenten beim Rundgang durch die Praxisräume Fotos: Burkhard Lange

(2)

Patienten. Und immer wieder über die Frage: Warum gehen sie erst so spät zum Arzt?

Plausible Antworten gibt es nicht, aber Erklärungsversuche: „Die- se Menschen haben Angst vor Ärzten und weißen Kitteln, sie wollen nicht mehr zu uns. Also müssen wir auf sie zugehen.“ Zu oft hatten Obdachlose schlechte Erfahrungen gemacht, seien gedemütigt worden und spürten, in

„normalen“ Arztpraxen nicht unbe- dingt gern gesehen zu sein. Dabei sei es nicht nur das ramponierte Selbstbe- wusstsein, sondern auch das nach wie vor vorhandene Schamgefühl, das vie- le Obdachlose von

einem Arztbesuch abhalte. Wie weit so etwas gehen kann, wird den Studenten am Beispiel eines Mannes verdeut- licht, der sich eines Tages mit diffusem Schmerzempfinden vorstellte und im Übrigen nur um ei- nen frischen Ver- band für sein rech- tes Bein bat. Die Untersuchung er-

gab ein zyanodisch verfärbtes Bein, das bereits eiskalt war. Mit Verdacht auf einen akuten Gefäßverschluss wur- de der Patient sofort in die nächstgele- gene Klinik gebracht und operiert. Bis dahin war ihm überhaupt nicht klar, dass sein Bein längst verloren war und er ohne schnellen Eingriff nicht über- lebt hätte.

Patienten motivieren, gesund zu werden

Viele Krankheitsbilder, die in der Obdachlosenpraxis vorgestellt wer- den, bedürfen einer längeren Behand- lung oder medikamentösen Therapie.

Die Studenten fragen nach der Com- pliance Obdachloser und danach, wie es der Ärztin gelingt, ihre Patienten über einen längeren Therapiezeit- raum an die Praxis zu binden. Darauf gibt es keine einfache, schnelle Ant- wort. De La Torre jedenfalls erinnert immer wieder daran, dass mit jeder Behandlung auch der Kampf um das Vertrauen ihrer Klientel beginnt. Es

nütze nichts, einen fiebernden Patien- ten mit Paracetamol und einer Bett- ruhe-Empfehlung zu entlassen, wenn nicht einmal geklärt sei, in welchem Bett er sich auskurieren kann. Was bringe es, fragt sie, offene Wunden zu desinfizieren und zu verbinden, wenn man den Kranken anschlie- ßend mit sei-

nen verdreckten Klamotten wie- der ziehen lässt?

Weit mehr als in einer „norma- len“ Arztpraxis müssen sich Pra-

xismitarbeiter und Ärztin hier um ei- nen persönlichen Zugang zum Patien- ten bemühen, auch um festzustellen, wie man ihn motivieren kann, zu sei- ner Gesundung beizutragen.

Alkohol, Aufgabe der eigenen Persönlichkeit, Verwahrlosung, Selbst- mordgefährdung und seelische Ein- samkeit erschweren diese Bemühun- gen. „Aber es nützt nichts“, konstatiert De La Torre, „wir müssen gemeinsam nach Punkten und Zielen suchen, an denen sich der Patient festhalten kann.

Es muss etwas geben, für das es sich lohnt, die Genesung selbst zu wollen und an ihr mitzuarbeiten.“

Reduzierte sich die Neugier der Studenten anfangs darauf, wie etwa die Behandlung der Patienten versiche- rungstechnisch abgewickelt wird, wir- ken sie jetzt viel nachdenklicher. Spä- ter, beim Rundgang durch die Praxis- räume, dämmert es einigen, dass auch sie schon einmal Obdachlose in ihrer Ausbildung gesehen haben, auf der Station oder in der Notaufnahme ihres Lehrkrankenhauses. Was aber ist hier bei der medizinischen Betreuung an-

ders? Was wird „evaluiert“? Gibt es ei- gene Behandlungsstandards? Was be- deutet „Niedrigschwelligkeit des An- gebots“ im Alltag einer Obdachlosen- praxis? Keiner der Studenten kann oder will sagen, wie er sich vor diesem Termin die Arbeit der inzwischen bun- desweit bekannten Berliner Obdachlo-

senpraxis vorgestellt hat. Von der ap- parativen Ausstattung, fast ausschließ- lich aus Spenden finanziert, sind alle beeindruckt. Interessiert richten sich die Blicke auch auf den Medikamen- tenschrank. Aufmerksam werden ein- zelne Packungen beäugt und weiterge- reicht. Eher zufällig fallen die Wörter Arztmuster und Spenden, doch wie auf Kommando schauen jetzt alle nach dem Verfallsdatum. De La Torre kann sie beruhigen: „Es werden grundsätz- lich keine Medikamente mit abgelau- fenem Verfallsdatum gegeben, auch wenn es nur kurz überschritten ist. Die Obdachlosen sollen keinesfalls das Ge- fühl haben, Patienten zweiter Klasse zu sein; das wäre fatal.“

Das Angebot der Humboldt-Uni- versität für die Medizinstudenten ist bundesweit einmalig. Es mag auch ei- ne Reaktion auf die Auseinanderset- zung um die medizinische Versorgung Obdachloser sein, die in Berlin – ge- fördert durch den früheren Ärztekam- merpräsidenten Dr. med. Ellis Huber – heftiger und öffentlicher als andern- orts geführt wird. Reinhold Schlitt A-364 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 7, 18. Februar 2000

T H E M E N D E R Z E I T BERICHTE

Der Nebenraum als Seminarort: Studenten der Humboldt-Universität erfahren vor Ort etwas über die besonderen Bedingungen des Behandlungsan- gebots für Obdachlose.

✒Was wird gegeben? Wo kommt es her? Inter- essierte Blicke in den Medikamentenschrank

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Vergessen wird dabei, daß die- ser Akt so alt ist, wie die Menschheit selbst und daß auch Erregungspha- se und Herzklopfen (Steigerung der Pulsfrequenz und Blutdruckanstieg)

I Die Komplexit¨ atsklasse coNP I Zwischen P und NPC: NP-intermediate I Die Komplexit¨ atsklassen EXPTIME und PSPACE.. BuK/WS 2017 VL-18: Jenseits von P und

Angesichts gravierendster Probleme im deutschen Ge- sundheitssystem, für viele deutsche Kassenärzte mit zum Teil existenzbedrohen- der Berufssituation, beweist die von

Ungeduldig waren wir damals bereit für komplizierte Zusammen- hänge, für Einsatz und Lernleistung, für die ethische Herausforderung des gewählten Faches, für das Studi- um eben..

Wie weit so etwas gehen kann, wird den Studenten am Beispiel eines Mannes verdeut- licht, der sich eines Tages mit diffusem Schmerzempfinden vorstellte und im Übrigen

Ganz gleich, ob die einen sich wie Statisten inmitten einer weit- läufigen MGM-Kulisse bewe- gen, die anderen auf den Spuren ihres historischen Er- bes wandeln — sie alle werden

Sofern der Arbeitgeber nicht ausdrücklich oder stillschweigend hierzu eine Genehmigung erteilt hat, muss man davon ausgehen, dass Ihnen eine private Nutzung grundsätzlich

1 des Grundgesetzes (GG) sollen diejeni- gen hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer, die nicht die Staatsangehörig- keit eines Mitgliedstaates der Europäischen