Deutsches ÄrzteblattJg. 103Heft 4113. Oktober 2006 A2677
P O L I T I K
D
as Bild „L'air et la chanson“ des belgischen Surrealisten René Magritte zeigt eine sorgfältig gemalte Pfeife, unter die der Künstler „Ceci n'est pas une pipe“ geschrieben hat. In einem ähnlich rätselhaften Verhältnis zueinander wie Titel und Gemälde Magrittes stehen Name, Motive und In- halt des Arbeitsentwurfs für ein „Gesetz zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in der Gesetzlichen Krankenversiche- rung (GKV-WSG)“. Die in den großkoali- tionären Eckpunkten vorgegebenen Marksteine für die Gesundheitsreform hießen eigentlich Bürokratieabbau,Wettbewerb, Transparenz und Budget- abschaffung im Vertragsarztbereich.
Der ausführende Gesetzentwurf zeigt aber sofort die surrealen Konnotatio- nen, die eine quasi ikonologische Ein- heit mit ihrem jeweiligen Thema bilden und die eigentlich immer mit den Wor- ten des berühmten Vorbildes „Ceci n'est pas …“ beginnen müssten. Unter die dezidiert vorgezeichnete „Budget- abschaffung“ gehörte also zum Bei- spiel: „Dies ist keine Budgetabschaf- fung.“ Denn floatende Punktwerte als Basis der ärztlichen Leistungsvergü- tung sollen zwar künftig durch regional unterschiedliche (sic!) feste Eurobeträ- ge abgelöst werden; aber das Credo der Beitragssatzstabilität, zunehmende Pauschalierungen, Abstaffelungsrege- lungen ohne stringenten Bezug zu be- triebswirtschaftlich ermittelten Kosten und vergangenheitsbasierte Regellei- stungsvolumina für Ärzte zementieren die bestehende Unterbezahlung ärztli- cher Leistungen und führen zu einer stringenteren Budgetierung denn je.
„Dies ist kein Wettbewerb“ müsste die entsprechende Themenunterschrift
heißen: Ungeachtet des wettbewerbs- hindernden Charakters von Mono- und Oligopolen strebt das GKV-WSG eine Reduktion der Zahl von Krankenkassen an und zwingt die Kassenverbände in einen vom Gesundheitsministerium kontrollierten Bundes-Spitzenverband.
Gleichförmige Mittelzuweisungen aus dem Gesundheitsfonds und das Einpro- zentlimit bei Zusatzbeiträgen missach- ten die bisherige Konkurrenz um den günstigsten Beitragssatz. Noch wettbe- werbsfeindlicher ist das gesetzlich vor- gesehene Verbot für Kassenärztliche Vereinigungen, sich an der hausarzt-
zentrierten und der integrierten Versor- gung zu beteiligen, denn damit werden ausgerechnet die erfahrensten und potentesten Akteure vom Markt fernge- halten und die vertragswilligen Ärzte ih- res faire Bedingungen garantierenden Interessenvertreters beraubt.
„Dies ist keine Transparenz“ sollte an der hierzu passenden Stelle stehen:
Denn schon die detailverliebte Regulie- rungswut des GKV-WSG kehrt Nikolaus Luhmanns Funktionsbeschreibung, Recht diene der Reduktion von Komple- xität, ins krasse Gegenteil um. Aber nicht nur die schiere Gesetzesmasse, auch die vielen auf Abschaffung nach- vollziehbarer Entscheidungswege und Ausweitung ministerieller Ersatzvorna- men angelegten Regelungen befördern die wachsende Intransparenz des Sys- tems. In der Folge werden beispiels- weise durch die Neuorganisation des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) die Akzeptanz und Gerichtsfes- tigkeit seiner Richtlinien abnehmen.
Seine unter Beteiligung von Patienten- vertretern sorgfältig vorbereiteten und vollständig veröffentlichten Beschlüsse
werden derzeit noch von Vertretern der Krankenkassen und der KBV gefasst, wodurch sie eine Legitimationskette bis zu den Krankenversicherten bezie- hungsweise Leistungserbringern besit- zen. Diese Kette wird durch die jetzt geplante Bestallung hauptamtlicher Mitglieder gesprengt.
„Dies ist kein Bürokratieabbau“ müss- te schließlich die Unterschrift zu dem ihr entsprechenden Motiv heißen. Der Ge- setzentwurf sieht nämlich beispielsweise die Installierung völlig neuer Bürokratien vor. So müssen Institute beim Bewer- tungsausschuss und beim G-BA ge- schaffen werden, welche die Durchsetz- barkeit der Vorstellungen des Bundesmi- nisteriums garantieren sollen. Auch der Gesundheitsfonds wird reiche Betäti- gungsfelder für Bürokraten schaffen: Da die Mittelzuweisungen an die Kranken- kassen unter anderem von der Morbi- dität ihrer Mitglieder abhängig sind, müssen entsprechende Daten erfasst werden. Analoges gilt für die Feststel- lung der Bruttohaushaltseinkommen, an denen sich die Überforderungsklausel für Zusatzprämien orientiert.
Wem verdanken wir nun diesen Einzug des Surrealen in die Welt der GKV? Die zuständige Ministerin hatte sich ja nach Veröffentlichung des ers- ten Arbeitsentwurfs in Teilen von den verantwortlichen Mitarbeitern distan- ziert. Aber „ihr Geist“ weht durch die unendlich vielen Seiten der Gesetzes- vorlage, ihr auf eine zentral gesteuerte Gängelung des gesamten Gesundheits- wesens ausgerichtetes Wollen, wes- halb sie dem unbenannten Spiritus Rector des Gesetzentwurfs eigentlich zu Dank verpflichtet wäre. Das gilt übrigens auch für die Gesetzesadres- saten, denn ihnen wurde die Wahrheit über politische Wahrheiten kunstrei- cher als der ungarischen Bevölkerung beigebracht.
Wie wäre es deshalb mit einem pa- ritätisch zu finanzierenden Denkmal für den „unbekannten BMG-Mitarbeiter“?
In dessen Marmorsockel könnte man beispielsweise folgende Inschrift meißeln: „Ceci n'est pas une pipe.“ n
KOMMENTAR
Dr. med. Till Spiro
WETTBEWERBSFÄHIGKEIT