Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen DER KOMMENTAR
ine ausländische Tageszei- tung berichtete kürzlich von einer Meldung, die sie über eine oder von einer Informationsstelle aus Basel erhalten hatte. Der Zei- tungsbericht ist ebenso bemer- kenswert wie bedenklich.
Ärzte des Royal Free Hospital in London haben mit betablockieren- den Wirkstoffen Versuche an Ge- sunden unternommen. Betablok- ker sedieren bekanntlich das ve- getative Nervensystem. Man wähl- te 24 junge Musiker aus, die an zwei Tagen vor einem geladenen Publikum spielen sollten. Der Ver- such wurde folgendermaßen ge- staltet: Zwölf Musiker erhielten am ersten Tag ein betablockierendes Arzneimittel. Den anderen zwölf Musikern gab man ein gleich aus- sehendes Plazebo.
Am zweiten Konzerttag wurden die Rollen vertauscht. Alle Musiker wurden aufgefordert, ihre Empfin- dungen unmittelbar vor der Veran- staltung auf vorbereiteten Vor- drucken zu beschreiben.
Die Skala der zu beantwortenden Fragen reichte u. a. von „noncha- lant" bis „panische Angst". Außer- dem wurden der Puls und der Blutdruck gemessen. Nach der musikalischen Darbietung wurde nach der Selbsteinschätzung der jungen Musiker gefragt. Hier reichte die Skala von „ausgezeich- net" bis „miserabel". Außerdem sollten die Musikanten ihren Ge- mütszustand während des Spieles charakterisieren. Hier reichten die abgestuften Begriffe von „eupho- risch" bis „verzweifelt".
Das Resultat war eindeutig. Das Arzneimittel hatte die Nervosität signifikant herabgesetzt. Der Puls fiel im Mittel von 99 auf 75 Herz- schläge und der systolische Blut- druck von 125 auf 110 mm Hg. Als besonders interessant wurde die Feststellung betont, daß die Musi- ker in der Selbsteinschätzung un- ter dem Einfluß des Mittels ihre Leistungen höher bewerteten.
(Wer noch Pharmakologie aus dem einst so beliebten „Poulsson"
gepaukt hat, wird sich des lapida- ren Satzes erinnern: „Der alkoho- lisierte Mensch hält sich für ein wohlausgerüstetes Individuum.") Was folgerten nun die Londoner Ärzte laut der gegebenen Informa- tion? Sie halten das Mittel überall da für nützlich und vorteilhaft, wo Debütanten auftreten und das Spiel für ihre Zukunft von Bedeu- tung ist. Allerdings wurde die Ver- mutung geäußert, daß bei einer häufigen Benutzung des Mittels die förderliche Wirkung nachlas-
Doping -
bei Musikern
sen könnte. Diese Vermutung konnte indes keinesfalls aus die- sem Zwei-Tage-Versuch gewon- nen worden sein. Ferner schlos- sen die Ärzte haarscharf aus dem zu erwartenden Nachlassen der stimulierenden bzw. sedierenden Wirkung, daß deswegen die Ge- fahr einer Gewöhnung vermindert werde.
Hier wurde also ein modernes und oft so segensreiches Arzneimittel zu einer (angeblichen) Leistungs- steigerung Gesunder mißbraucht.
Diese Nachricht einer Tageszei- tung muß jeden Arzt erschrecken, der, um ein derzeitiges Reizwort zu gebrauchen, von diesem spe- ziellen „Einstieg" in die Drogen liest.
Betablocker stehen bisher keines- wegs im Geruch, ähnlich verderb- lich wirken zu können wie die Ana-
bolika, die in Sportkreisen eine unrühmliche Rolle bei der „Lei- stungssteigerung" spielten. Im- merhin ist bei einem so hochwirk- samen Mittel, wie es die Betablok- ker sind, mit unabsehbaren Folgen verschiedenster Art zu rechnen, falls dieser Londoner Versuch mit Gesunden Schule machen würde.
In der Zeitungsnotiz erfährt man nichts über die Urteile des „gela- denen" Publikums. Es fragt sich, ob es überhaupt dafür qualifiziert war.
Gewiß, das Lampenfieber ist ein Streß. Wer viele Konzerte besucht hat, wird nicht selten erlebt haben, daß junge Künstler — und nicht nur die jungen — eine anfängliche, be- einträchtigende Befangenheit zeigten. Wenn sie dieses Hemmnis aus eigener Kraft überwunden hat- ten, sich „frei" spielten, zeigte es sich oft, daß diese Anspannung sie zu Höchstleistungen beflügelte.
Die Betablocker können also nicht nur für die Künstler, sondern auch für die Kunst eine Beeinträchti- gung sein.
Man stelle sich vor, daß nach ei- nem musikalischen Wettbewerb die Künstler von einem Arzt in ein Kabinett gebeten werden, damit sie dort unter Kontrolle ihr Wäs- serchen lassen, um nach Drogen fahnden zu lassen .
Die Londoner Ärzte, von denen man annehmen könnte, daß auch sie Debütanten sind, haben einen völlig nutzlosen Versuch unter- nommen. Sie rannten zumindest für Ärzte offene Türen ein. Das Fatale an der Geschichte ist, daß dieses überflüssige Experiment (selbstverständlich) kolportiert wurde. Zum Lobe der hochange- sehenen ausländischen Zeitung muß vermerkt werden, daß auch sie scharf und energisch das Zwei- felhafte dieses Versuches brand- markte. Doch wie werden sich die Leser, besonders diejenigen, die angesprochen wurden, verhalten?
Semper aliquid haeret!
Dr. med. Bernhard Fleiß
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 21 vom 24. Mai 1979 1459