A562 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 12⏐⏐20. März 2009
M E D I E N
PSYCHIATRIE
Als Menschen sichtbar
Obwohl sich keine medizinische Disziplin vom Zeitgeist unberührt wähnen sollte, scheint die Seelen- heilkunde, die sich dem Fühlen, Denken und Handeln des Menschen widmet, besonders eng mit den Zeit- läuften verwoben zu sein. Dieser Verbindung, genauer der von „Psy- chiater und Zeitgeist“, geht ein Aufsatzband nach, der im Untertitel Material „zur Geschichte der Psychiatrie in Berlin“ ankündigt und Beiträge einer Tagung prä- sentiert, die Nervenärzte und Medizinhistoriker im Juni 2008 in der Charité zu- sammenführte.
Kurz nach seiner „Ge- schichte der Psychiatrie an der Freien Universität Ber- lin“ (2007) legt damit der emeritierte Psychiater Hanfried Helmchen als Herausgeber bereits ei- nen zweiten Band zur Historie seines Faches vor. In dem Versuch, Wech- selwirkungen zwischen Individuum und Zeitgeist verständlich zu ma- chen, führt die aktuelle Sammlung je- doch über ihren lokalen Gegenstand
hinaus. Eher als eine erschöpfende Darstellung schwebte Helmchen da- bei ein Lesebuch vor, „das gerade jüngere Kollegen zur Reflexion ihrer oft verborgenen Abhängigkeit vom Zeitgeist anregen soll“.
Und so zeigt etwa Volker Hess, wie im 19. Jahrhundert ausgerechnet der Datenhunger preußischer Ver- waltungen die Entwicklung standar- disierter psychiatrischer Krankenge- schichten befördert hat. Ihm zufolge bildete sich die psychiatrische Anamnese zunächst nicht aus medi- zinischen Erwägungen, sondern im Rahmen der Informationssammlung zur Ermittlung des Kostenträgers.
Cornelius Borck interpretiert in sei- nem reizvollen und gewagten Auf- satz die physiologische Theorie des Nestors der Westberliner Psychia- trie, Helmut Selbach, als den Ver- such, die Konflikte der Nachkriegs- zeit zu verarbeiten. In einem Auf- satz, der zwar nicht historische Durchdringung, dafür aber Zeitkolo- rit bietet, erweckt Dieter Lehmkuhl die Reformstimmung der 70er-Jahre zum Leben und beleuchtet damit den Hintergrund der heutigen Sozial- psychiatrie.
Insgesamt hat der Herausgeber Texte zu 23 Themen versammelt,
wobei es sowohl um Einzelne geht (etwa Karl Bonhoeffer und Maximi- nian de Crinis) als auch um Krank- heitskonzepte (wie die „Kriegsneu- rose“) oder um die Geschichte von Teilfächern (so im Fall der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder der Ge- rontopsychiatrie). Der Wert des sorgfältig lektorierten Bandes als Quelle für historisch Interessierte steigt noch durch die ausführlichen Personen- und Sachregister.
Naturgemäß scheint in einigen Beiträgen der Zeitgeist eher durch als deutlich vor Augen zu treten. In seiner Gesamtheit jedoch macht die Aufsatzsammlung die Psychiater verschiedenster Epochen als Men- schen sichtbar, die ungeachtet nachträglicher Etikettierungen wie etwa „Psychiker“ oder „Somatiker“
– in Helmchens Worten – „in ihrer jeweils kulturell und sozial, wissen- schaftlich und institutionell spezi- fisch geprägten Welt handeln müs- sen“. Christopher Baethge
Hanfried Helmchen (Hrsg.): Psychiater und Zeitgeist.Pabst, Lengerich 2008, 497 Seiten, kartoniert, 40 Euro
Hanfried Helmchen (Hrsg.): Geschichte der Psy- chiatrie an der Freien Universität Berlin.Pabst, Lengerich 2007, 268 Seiten, kartoniert, 25 Euro
KLINISCHE ETHIKBERATUNG
Ein Praxisbuch
Der medizinische Fortschritt führt in vielen Bereichen der Medizin zuneh- mend zu Fragen der Sinnhaftigkeit einer Therapie. Unter diesen Bedin- gungen richten immer mehr Kran- kenhäuser klinische Ethikkomitees und andere Strukturen der Ethikbe- ratung ein. Die Herausgeber wollen dabei mit ihrem Buch Orientierungs- hilfe und Unterstützung geben. Es basiert weitgehend auf ihren Erfah- rungen mit dem Qualifizierungspro- gramm „Ethikberatung in Kranken- haus“, dessen Curriculum von der Akademie für Ethik in der Medizin entwickelt wurde. Es werden philo- sophische und theologische Aspekte dargestellt, Formen der Ethikbera- tung vorgestellt, Fallbesprechungen erläutert und der Prozess der Imple- mentierung veranschaulicht. Kapitel
über Organisationsethik, Evaluation und Recht schließen das Werk.
Der Fokus des Buches liegt auf der Einführung und der bedarfs- orientierten Umsetzung von klini- scher Ethikberatung im Kranken- haus. Mit den enthaltenen Übersichts- tabellen, Mustersatzungen klinischer Ethikkomitees, den konkreten Bei- spielen ethischer Fallbesprechun- gen sowie den Hinweisen auf verschiedene online ver- fügbare Informationsquellen ist es für den in Klinik oder Pflegeheim Tätigen ausge- sprochen hilfreich. Die Ka- pitelfolge ist sinnvoll kon- zipiert, die einzelnen Ab- schnitte sind übersichtlich strukturiert und inhaltlich in sich geschlossen. Des- halb können sie je nach In- teressenschwerpunkt auch unabhängig voneinander
gelesen werden. Dabei werden vom Leser keine speziellen Vorkennt- nisse erwartet, sodass die Lektüre für Ärzte, Pflegekräfte, Seelsorger, Juristen und Angehörige psycho- sozialer Berufe gleichermaßen ge- eignet ist.
Die Autoren kommen aus unter- schiedlichen Disziplinen und sind alle langjährig im Bereich der Ethikberatung in Klink, Fortbildung und Forschung tätig. Auf der Basis ihrer Erfahrungen werden sie ihrem Ziel, ein Praxisbuch zur Verfügung zu stellen, in jeder Hinsicht gerecht.
Die Lektüre ist für jeden, der sich mit praktischer Ethikarbeit in der Medizin und Pflege befasst, ein Ge-
winn. Klaus Kobert
Andrea Dörries, Gerald Neitzke, Alfred Simon, Jochen Vollmann (Hrsg.): Klinische Ethikbera- tung. Ein Praxisbuch. Kohlhammer, Stuttgart 2008, 228 Seiten, kartoniert, 39 Euro