A 1666 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 36|
10. September 2010 Eine gemischte Bilanz habenExperten in Bezug auf das seit einem Jahr geltende Patienten- verfügungsgesetz gezogen.
Wichtig sei nach wie vor, dass dem Verfassen einer Patienten- verfügung eine ärztliche Bera- tung vorausgehe, betonte der Präsident der Bundesärztekam- mer Prof. Dr. med. Jörg-Diet - rich Hoppe. „Das Gesetz in sei- ner derzeitigen Fassung bietet hier jedoch wenig Hilfestellung, weil konkrete Regelungen für eine ärztliche Beratung feh- len“, kritisierte Hoppe. Eine grundlegende Orientierung zu
vorsorglichen Willensbekun- dungen geben hingegen die Bundesärztekammer und die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer in ih- ren Empfehlungen zum Um- gang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung.
Unzufrieden mit dem Gesetz ist auch die Patientenschutzor- ganisation Deutsche Hospiz Stiftung. „Das Grundproblem ist, dass hohe gesetzliche An- forderungen an Vorsorgedoku- mente gestellt werden, ohne den Menschen dabei zu helfen, diese Ansprüche zu erfüllen“,
erklärte Eugen Brysch, ge- schäftsführender Vorstand der Organisation.
Gute Arbeit habe die Politik in Bezug auf die Schriftlichkeit von Patientenverfügungen ge- leistet: Sie müssten konkret und detailliert sein. „Da aber gleich- zeitig keine individuelle Bera- tung beim Verfassen von Pa- tientenverfügungen vorge- schrieben ist, erleben wir in der Praxis regelmäßig schwere Konflikte“, sagte Brysch. „Hier steht man nun in der Verant- wortung, die Menschen nicht länger alleinzulassen.“ ER
EIN JAHR PATIENTENVERFÜGUNGSGESETZ
URTEIL ZUR STERBEHILFE
Keine Tötung auf Verlangen
Der zweite Strafsenat des Bundesgerichthofs hat entschieden, unter welchen Voraussetzungen Sterbehilfe rechtlich zulässig ist.
Die Vorsitzende Richterin erläuterte jetzt das Urteil.
M
it der Schere gegen künstli- che Ernährung“, „Selbstjus- tiz am Krankenbett“ – mit diesen und ähnlichen Schlagzeilen hätten Zeitungen ihre Beiträge über das Urteil des zweiten Strafsenats des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Sterbehilfe betitelt, berichtete Prof.Dr. jur. Ruth Rissing-van Saan. Die Vorsitzende Richterin am BGH kri- tisierte bei einer interdisziplinären Fortbildungsveranstaltung des Aga- plesion-Markus-Krankenhauses in Frankfurt am Main solche Über- schriften. Sie seien kaum geeignet, dem Ernst und der Sensibilität des Themas gerecht zu werden. Die Medien haben sich ihrer Ansicht nach oft überwiegend vordergrün- dig an dem Umstand orientiert, dass die Tochter der Patientin, die zu- gleich auch ihre gerichtlich bestell- te Betreuerin war, auf Rat ihres An- walts die Ernährungssonde durch- trennte, um die gegen den Willen der Patientin vom Heim weiter durchgeführte künstliche Ernäh- rung zu unterbinden (dazu DÄ, Heft 26/2010).
Obwohl der Tod in diesem Fall durch aktives Tun verursacht wor- den sei, blieben aktive Sterbehilfe und Tötung auf Verlangen auch künftig strafbare Handlungen, selbst wenn sie dem Willen des Pa- tienten entsprechen, betonte Ris- sing-van Saan. „Für eine erlaubte Sterbehilfe kommt es allerdings nicht mehr darauf an, ob ein dem Patientenwillen folgender Abbruch der Behandlung durch aktives Tun oder durch Unterlassen ausgeführt wird. Maßgeblich ist, dass die Handlungen erforderlich zur Um- setzung des Patientenwillens sind und im Zusammenhang mit einer ärztlichen Behandlung stehen.“ Der Patientenwille sei in jedem Fall ver- bindlich, gleichgültig, ob er schrift-
lich niedergelegt, mündlich geäu- ßert oder durch nonverbales Verhal- ten zum Ausdruck gebracht werde.
Das neue Patientenverfügungsgesetz habe in dieser Hinsicht Orientie- rungssicherheit für alle Beteiligten geschaffen. Denn die entsprechen- den §§ 1901 a ff. Bürgerliches Ge- setzbuch sollten gewährleisten, dass der „Wille der Patienten über den Zeitpunkt des Eintritts der Einwilli- gungunfähigkeit hinaus gilt und be- achtet wird“.
Behandlungsabbruch: eine Vielzahl von Handlungen Rissing-van Saan erläuterte weiter, dass ein Behandlungsabbruch sich nicht in bloßer Untätigkeit er- schöpfe; „er kann und wird viel- mehr fast regelmäßig eine Vielzahl von aktiven und passiven Hand- lungen erfassen“. Der Begriff der Sterbehilfe durch Behandlungsun- terlassung, -begrenzung oder -ab- bruch setze voraus, dass die betrof-
fene Person lebensbedrohlich er- krankt sei und die betreffende Maßnahme medizinisch zur Erhal- tung oder Verlängerung des Le- bens geeignet sei. „Nur in diesem engen Zusammenhang hat der Be- griff der Sterbehilfe einen syste- matischen und strafrechtlich legiti- mierenden Sinn.“
Wenn die Behandlungsmaßnah- me gegen den ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Patienten fortgeführt werde oder, wie in dem der Entscheidung des zweiten Straf- senats zugrundeliegenden Fall, wie- der aufgenommen werde, machten sich Ärzte und Pflegepersonal ge- gebenenfalls wegen Körperverlet- zung strafbar, falls sie dies in Kenntnis des entgegenstehenden Patientenwillens täten. Sollten sie sich dagegen an das halten, was der betroffene Patient für sich als Gren- ze gewollter oder gewünschter me- dizinischer Behandlung festgelegt habe, dann hätten sie auch die Si- cherheit, das Richtige zu tun oder zu unterlassen. „Sie laufen nicht mehr Gefahr, deshalb strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu wer- den.“ Die BGH-Vorsitzende räumte ein, dass die Feststellung des Pa- tientenwillens häufig ein Problem darstelle: „Hier bietet jetzt das Pa- tientenverfügungsgesetz wesentli- che Hilfestellung.“ ■ Gisela Klinkhammer