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Archiv "Bundesgerichtshof-Urteil zur Sterbehilfe: Erweiterung des Entscheidungsspielraums" (30.09.1994)

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Bundesgerichtshof-Urteil zur Sterbehilfe

Erweiterung des

Entscheidungsspielraums

Ein zum Tod führender Abbruch der Behandlung kann nach einem Urteil des Bundesge- richtshofs (BGH) bei unheilbar im Koma liegenden Patienten erlaubt sein, wenn der Eingriff durch eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten gedeckt ist. Damit hat der Erste Strafse- nat des BGH in der Frage der Strafbarkeit der sogenannten Sterbehilfe als „Behandlungs- abbruch" den Entscheidungsspielraum für Ärzte und Angehörige vorsichtig erweitert.

POLI

Der Bundesgerichtshof hat im Fall einer 72jährigen Frau, deren Sohn und deren Arzt die künstliche Ernährung einstellen wollten, ein Urteil des Landgerichts Kempten

„in vollem Umfang aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen". Das schreibt der BGH in einer Pressemitteilung zu der Entscheidung, deren schriftli- che Urteilsbegründung noch nicht veröffentlicht ist. Die Angeklagten waren in erster Instanz wegen ver- suchten Totschlags zu Geldstrafen in Höhe von 6 400 und 4 800 DM verurteilt worden.

Die Frau war seit September 1990 nach einem Herzstillstand und anschließender Wiederbelebung nicht mehr ansprechbar und ständig auf künstliche Ernährung angewie- sen. Ein ärztlicher Sachverständiger sprach von einem „apallischen Syn- drom". Eine Besserung des Zustan- des war, so der BGH in einer Pres- semitteilung, nicht zu erwarten. Bei nach wie vor bestehenden vitalen Funktionen hätte der Todeseintritt nicht unmittelbar bevorgestanden.

Die Angeklagten rechneten damit, daß die Frau zwei bis drei Wochen nach Einstellen der künstlichen Ernährung schmerzlos gestorben wäre. Zur „Ausführung der Tat"

kam es jedoch nicht, weil das Pfle- gepersonal die von beiden Ange- klagten unterzeichnete schriftliche Anweisung nicht befolgte und das Vormundschaftsgericht anrief, an das sich der Sohn der Kranken, der im juristischen Sinn als Pfleger be- stellt worden war, nicht gewandt hatte. Nach Auffassung des Ersten Strafsenats ist die Beurteilung des

AKTUELL

Landgerichts, es liege ein rechts- widriger versuchter Totschlag vor, im Ergebnis nicht zu beanstanden.

Es habe sich nämlich weder um Sterbehilfe im Sinne der ärztlichen Richtlinien gehandelt, noch sei der Behandlungsabbruch durch eine tatsächliche oder mutmaßliche Ein- willigung der Patientin gedeckt ge- wesen. Daß die Frau acht Jahre vor ihrem Tod nach einer Fernsehsen- dung über künstliche Lebensverlän- gerung erklärt hatte, so wolle sie nicht enden, hielten die Richter in ihrer mündlichen Urteilsbegrün- dung nicht für ausreichend.

Einverständnis der Patientin

Möglicherweise treffen den Sohn und den Arzt dennoch straf- rechtlich keine Schuld. Das Land- gericht ging nämlich davon aus, daß sie ihr Vorgehen für rechtlich zuläs- sig hielten. Zu dem Urteil des Kemptener Gerichts stellt der BGH kritisch fest: „Das Landgericht hat die Frage der mutmaßlichen Einwil- ligung der Kranken fälschlich als unerheblich angesehen und deshalb unter diesem besonderen rechtli- chen Gesichtspunkt nicht geprüft, ob die Angeklagten ihren Irrtum vermeiden konnten." Jetzt muß in einer neuen Verhandlung festge- stellt werden, ob es noch weitere Äußerungen der Patientin für ihr angebliches Einverständnis gab.

Außerdem soll geklärt werden, wel- che Vorstellungen der Sohn von sei- nen Pflichten als Betreuer gehabt habe (AZ 1 StR 357/94).

Auf Kritik stieß das Urteil beim Vizepräsidenten der Bundes- ärztekammer, Dr. med. Jörg-Die- trich Hoppe. So ist es für ihn vor al- lem unverständlich, daß das Gericht den Entzug der Nahrung als Metho- de der sogenannten passiven Ster- behilfe anerkannt habe. Das Ver- hungernlassen eines Säuglings wür- de schließlich auch jeder als aktives Töten bezeichnen, sagte Hoppe ge- genüber dem Deutschen Ärzteblatt.

Der Vizepräsident der Bundes- ärztekammer verwies außerdem darauf, daß nach dem BGH-Urteil der Therapieabbruch bei unheilbar Kranken bereits dann möglich sein könne, wenn der Sterbeprozeß noch nicht eingesetzt habe. Die

„Richtlinien der Bundesärztekam- mer für die ärztliche Sterbebeglei- tung" (DÄ, Heft 37/1993) ließen ei- nen Behandlungsabbruch und -ver- zicht bisher jedoch nur für unheil- bar Kranke im Sterbeprozeß zu.

Die Angeklagten hätten sich zum Abbruch der künstlichen Ernährung entschieden, „weil der Sohn es nicht mehr aushalten konn- te, das Elend mit anzusehen", stell- te Prof. Dr. med. Johann-Christoph Student von der Deutschen Hospiz- hilfe fest. Das dürfe jedoch niemals ein ernsthafter Grund zu wie auch immer gearteter Sterbehilfe sein.

Das Handeln in „tödlichem Mit- leid" sei eine Einstellung, die auch den Morden an Behinderten in der Nazizeit zugrunde gelegen habe.

Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben ist dagegen der Ansicht, daß eine solche Sterbehilfe nichts mit Nazi-Euthanasie zu tun habe. Der Begriff der Euthanasie sei vom Regime der Nationalsozia- listen mißbraucht worden. Die ei- gentliche Bedeutung des Begriffes Euthanasie komme aus dem Alt- griechischen und könne mit „sanf- tes gutes Sterben" übersetzt wer- den. Wesentlich bleibe das Selbst- bestimmungsrecht des Patienten.

Für Hoppe ist diese Stellung- nahme bereits ein Indiz dafür, daß durch das Urteil — dessen schriftli- che Begründung noch abzuwarten sei — eine Stimmung vermittelt wer- de, die eine weitgefaßte Sterbehilfe möglich mache.

Gisela Klinkhammer A-2556 (24) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 39, 30. September 1994

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