T H E M E N D E R Z E I T
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A2616 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 39⏐⏐30. September 2005
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avon, dass der deutsche Gesetzge- ber das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) zum 1. Januar an die europäische Richtlinie 2003/88/EG („EU-Arbeits- zeitrichtlinie“) angepasst hat, und Bereit- schaftsdienste seitdem eigentlich als Arbeitszeit einzustufen sind, haben vie- le Klinikärzte bislang wenig gespürt.Ursächlich ist ein Passus, der im Dezember 2003 in letzter Sekunde vom Vermitt- lungsausschuss in die Gesetzesvorlage der Bundesregierung eingefügt wurde – vor allem, um den Krankenhausträ- gern mehr Zeit für die teure Umstellung zu geben: Nach § 25 ArbZG bleiben tarifver- tragliche Bestimmungen be- stehender oder nachwirkender Tarifverträge, „die den in diesen Vor- schriften festgelegten Höchstrahmen überschreiten“, bis Ende 2005 von der Gesetzesanpassung unberührt.
Nur wenige Krankenhäuser haben die zweijährige Übergangszeit genutzt und neue Arbeitszeitmodelle einge- führt. Die Verantwortlichen haben sich vielmehr darauf verlassen, dass die EU- Arbeitszeitrichtlinie in dieser Zeit in ihrem Sinne novelliert und das deutsche Arbeitszeitgesetz entsprechend ange- passt wird. Ausschlaggebend für diese Erwartungshaltung waren zunächst Äußerungen der damaligen EU-Kom- missarin Anna Diamantopoulou im Ja- nuar 2004, wonach die Entscheidung, Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit zu werten, den Mitgliedstaaten überlassen werden sollte. Die Richtlinie habe zu hohe Kosten verursacht. Daraus wurde zwar nichts, jedoch unterbreitete die
EU-Kommission im September 2004 einen Vorschlag, der die Klinikarbeitge- ber weiter hoffen – und untätig bleiben – ließ: Neben der Arbeits- und der Ruhe- zeit sollte eine dritte Kategorie einge- führt werden, die die inaktiven Zeiten während des Bereitschaftsdienstes um- fasst. Da das Europäische Parlament eine solche Aufweichung des Arbeits- schutzes allerdings ablehnt und eine Änderung der Arbeitszeitrichtlinie nicht ohne seine Zustimmung möglich ist, blieb die Arbeitszeitrichtlinie bisher un- verändert. Daran dürfte sich auch bis Ende des Jahres nichts ändern.
Derweil drängt die Deutsche Kran- kenhausgesellschaft (DKG) auf eine Verlängerung der Übergangsregelung.
Im Mai 2005 gab es dazu ein Gespräch mit dem federführenden Bundesarbeits- ministerium. Staatssekretär Rudolf An- ziger habe jedoch „in aller Klarheit“
mitgeteilt, dass er und Minister Clement eine Verlängerung der Übergangsregelung ablehnten, heißt bei der DKG. Noch offen ist, ob auf anderem Wege ge- setzgeberische Initiati- ven hinsichtlich einer Verlängerung der Über- gangsregelung realisiert werden. Ein unionsgeführ- tes Bundesland erwägt offen- bar, über den Bundesrat eine Ge- setzesänderung zu initiieren.Wegen der unklaren Machtverhältnisse in Berlin ist allerdings unsicher, was daraus wird.
Es ist davon auszugehen, dass ab dem 1. Januar 2006 eine maximale Wochenarbeitszeit von durchschnittlich 48 Stunden gilt. Bereitschaftsdienste müssen zu 100 Prozent angerechnet werden. Die Tarifvertragsparteien kön- nen allerdings längere Arbeitszeiten vereinbaren. Dies ist im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) im besonderen Teil für die Krankenhäuser (§ 45) erfolgt. Der TVöD gilt jedoch nicht für Mitglieder des Marburger Bundes (MB) und auch nicht für die Beschäftigten der Länder, also die Uni- versitätsklinikärzte. Der MB strebt Ta- rifverhandlungen mit allen öffentlichen Arbeitgebern an. Ein Entgegenkom- men bei der Behandlung der ärztlichen Bereitschaftsdienste dürfte dabei zur Strategie gehören. Jens Flintrop
zurückstellen, zumal dann, wenn sich der Schaden unmittelbar abzeichnet.
Die Analyse der konfligierenden Ver- pflichtungen verdeutlicht, dass die weit- hin unstrittigen moralischen Vorgaben ärztlichen Handelns keineswegs eine ein- zige und zudem präzise Regelung der ärztlichen Arbeitszeit abzuleiten erlau- ben. Ein Korridor, in dem die Arbeitszeit bleiben sollte, lässt sich jedoch ausma- chen, und insbesondere eine völlig unge- regelte Arbeitszeit verstößt gegen die moralischen Grundlagen der Medizin.
Kein Verzicht auf eine Regelung
Überdies sollte man akzeptieren, dass jede Regelung pragmatisch ist und von individuellen Unterschieden in den komplexen Arbeitsverhältnissen abse- hen muss. Es ist stets eine pragmati- sche Regelung, die ärztliche Tätigkeit zwangsweise zum Beispiel auf zehn Stunden pro Tag zu begrenzen. Es gibt Ärzte, die danach noch konzentriert ar- beiten können, wiewohl es anderen schon zuvor an Aufmerksamkeit man- gelt. Solche individuellen Bedingungen kann eine Regelung nur begrenzt berücksichtigen. Regelungen scheitern immer an einer angemessenen Behand- lung von komplexen situativen Beson- derheiten. Diese Eigenschaften von Re- gelungen muss man akzeptieren, sofern man überhaupt regeln will. Sie lassen sich allenfalls graduell mindern, indem man geschickt regelt, Ausnahmen zu- lässt und eine situativ angepasste, fle- xible Handhabung ermöglicht. Den- noch erlaubt die Spannung zwischen ei- ner Regel und dem Einzelfall keines- wegs den Schluss, man könne auf eine Regelung verzichten.
❚Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2005; 102: A 2612–2616 [Heft 39]
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing Institut für Ethik und Geschichte der Medizin Universität Tübingen
Schleichstraße 8 72076 Tübingen
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit3905 abrufbar ist.
Foto: Peter Wirtz [M]