Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 26|
29. Juni 2012 A 1361 schnittlichen Therapielänge vonzwölf Stunden „sehr gute Effekt- stärken“ aufwiesen.
Der Psychoanalytiker und Al- ternsforscher Prof. em. Dr. med.
Hartmut Radebold, Kassel, hat in der Therapie mit älteren Menschen erlebt, dass manche 60 bis 80 Stun- den brauchen, ein Großteil aber auch mit Kurzzeittherapie zurechtkommt.
„Ältere Patienten denken oft selbst, dass sie gar nicht so viel in Anspruch nehmen dürfen“, sagte der 77-Jähri- ge. Den Gründen dafür müsse man offen nachgehen. Radebold hat 1998 das Lehrinstitut für Alternspsycho- therapie in Kassel gegründet, wo die Besonderheiten einer Psychothera- pie mit alten Menschen vermittelt werden. Er rät Therapeuten, alte Menschen auf ihr Geburtsjahr anzu- sprechen, um einen Zugang zu ihrer individuellen Geschichte zu bekom- men. „Die Kriegskinder, also die Jahrgänge 1929 bis 1947, erzählen meist nicht von selbst.“
Die Therapieziele sollten nicht zu hoch angesetzt werden: Fördern von Selbstständigkeit, Verbesse- rung der sozialen Fähigkeiten, Um- gang mit Sterben und Tod, der acht- same Umgang mit dem eigenen Körper, riet der Alternsforscher.
Psychologischen Psychotherapeu- ten, die ältere Menschen behandeln, empfahl Radebold, eine gute Vernetzung zu Ärzten aufzubauen.
Die Abklärung von körperlichen Erkrankungen oder Demenz müsse immer erfolgen: „Die Kooperation mit Gerontopsychiatern halte ich für sehr wichtig.“ In eine Psycho- therapie begeben sich im höheren Alter überwiegend Frauen, sagte Radebold. „Unklar ist bisher, wie man auch die Männer besser errei- chen kann.“
„Es bedarf einer gewissen fachli- chen Qualifikation, um Ältere zu behandeln“, erklärte der stellver - tretende DPtV-Bundesvorsitzende, Dipl.-Psych. Hans Jochen Weid- haas, abschließend. In der Ausbil- dung würden die Besonderheiten kaum vermittelt. Dass der Bedarf an spezifischem Wissen groß ist, zeigte allein schon das Symposium, das bis auf den letzten Platz aus -
gebucht war.
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Petra Bühring
PATIENTEN MIT CHRONISCHEN SCHMERZEN
Vier Jahre warten
Der Berufsverband der Ärzte und Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin macht auf die Unterversorgung von Schmerzpatienten aufmerksam.
B
is zum Beginn einer quali fi - zierten schmerztherapeutischen Behandlung vergehen im Bundes- durchschnitt vier Jahre. Am längs ten warten Patienten mit chronischen Schmerzen in Sachsen-Anhalt, und zwar acht Jahre. Das ist ein Ergeb- nis der Online-Umfrage unter Ärz- ten, die der Berufsverband der Ärz- te und Psychologischen Psycho - therapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland e.V.(BVSD) zur Versorgungssituation von Patienten mit chronischen Schmer- zen durchgeführt hat. Die Ergeb- nisse wurden jetzt im „Weißbuch Schmerzmedizin“ veröffentlicht.
„Wir haben eine ganz klare Unter- versorgung von Schmerzpatienten“, erklärte der Vorsitzende des BVSD, Prof. Dr. med. Joachim Nadstawek, Klinik für Anästhesiologie der Uni- versität Bonn, bei einer Pressekonfe- renz. „Dabei gibt es in Deutschland mehr Schmerzpatienten als Diabeti- ker.“ Die Prävalenz von Menschen mit chronischen Schmerzen schätzt der Anästhesist auf drei bis fünf Mil- lionen. Eine Studie von Breivik et al.
(2006) ergab für Deutschland sogar eine Prävalenz von 17 Prozent. In dieser Befragung geben nur zwei Prozent aller Betroffenen an, spezia- lisierte schmerztherapeutische Ver- sorgung erlebt zu haben.
Bundesweit nur 1 027 Schmerztherapeuten
Seit 2006 hat sich die Situation für Schmerzpatienten nicht verbessert.
Den Grund dafür sieht Dr. med. Bern- hard Arnold, BVSD und Abteilung für Schmerztherapie am Klinikum Dachau, in der zu geringen Anzahl an qualifizierten Schmerztherapeuten.
Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung erfüllten 2010 bun - desweit 1 027 niedergelassene Fach- ärzte die Anforderungen der Qualitäts - sicherungsvereinbarung zur schmerz -
therapeutischen Versorgung chro- nisch schmerzkranker Patienten nach
§ 135 Absatz 2 Sozialgesetzbuch V.
Ausschließlich schmerztherapeu- tisch behandeln davon 381 Ärzte.
Die meisten Schmerztherapeuten sind Anästhesisten (62 Prozent), gefolgt von Allgemeinmedizinern (zehn Prozent), Orthopäden, Neu- rologen und anderen Disziplinen.
Regional unterschiedliche Honorierung
„Wir brauchen sehr viel mehr Schmerztherapeuten“, erklärte Nads- tawek, „stellen aber fest, dass Kolle- gen die Teilnahme an der Schmerz- therapie-Vereinbarung eher wieder aufgeben.“ Beispielsweise habe es 2008 in Baden-Württemberg 148 Schmerztherapeuten gegeben; 2010 waren es nur noch 102. Der BVSD- Vorsitzende führt das unter anderem auf die „regional willkürliche“ Hono- rierung schmerztherapeutischer Leis- tungen zurück, die seit 2008 entwe- der gleich geblieben oder gesunken sei. „Warum ein Schmerztherapeut in Rheinland-Pfalz 156 Euro pro Quar- tal und Patient erhält, in Berlin dage- gen nur 93 Euro (Musterpatient im zweiten Quartal 2010 nach BVSD- Berechnung) ist mir unverständlich“, sagte Nadstawek und forderte bun- deseinheitlich angemessene Hono - rare. Ohne gezielte Nachwuchsför - derung werde sich zudem, aufgrund der Altersstruktur der Schmerzthe - rapeuten, die Unterversorgung von Schmerzpatienten weiter verschärfen.
Begrüßt hat der Berufsverband, dass die Schmerzmedizin zum Pflicht- fach im Medizinstudium wird. Der Bundesrat hatte Anfang Mai einer ent- sprechenden Änderung der ärztlichen Approbationsordnung zugestimmt.
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Petra Bühring