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Archiv "Wege und Irrwege der Psychiatrie-Kommission: Übergewicht der politischen Interessen" (01.07.1976)

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Die Information:

Bericht und Meinung

73. Jahrgang / Heft 27 1. Juli 1976

Postverlagsort Köln

Redaktion:

Dieselstraße 2 Postfach 40 04 30 5000 Köln 40 (Lövenich) Ruf: (0 22 34) 70 11 -1 Fernschreiber 8 89 168

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Ärztliche Mitteilungen

Herausgeber: Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung

Wege und Irrwege

der Psychiatrie-Kommission

Übergewicht der politischen Interessen

Wie weit die „Psychiatrie-Enquete", deren Ergebnis nun schon ein halbes Jahr lang vorliegt, in vielen ihrer Aussagen von den Realitä- ten des psychiatrischen Alltags entfernt liegt und wie vieles in diesen ihren Aussagen weniger am Interesse des psychisch kran- ken Patienten ; sondern mehr an politischen Interessen orien- tiert ist, das wurde erschreckend deutlich in einer Diskussion über den „Bericht über die Lage der Psychiatrie in Deutschland", die im berufspolitischen Kolloquium des Pfingst-Seminar-Kongresses der Bundesärztekammer in Montecatini Terme geführt wurde. Prof.

Dr. med. Edmund Christiani, Präsident der Landesärztekammer Schleswig-Holstein und als Vorsitzender der Deutschen Gesell- schaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde für dieses Thema be- sonders prädestiniert, referierte.

Wenn die Enquete oder allein schon die Tatsache, daß sie vom Bundestag in Auftrag gegeben wurde, den Eindruck erweckt habe, daß die Ärzteschaft sich um das Gebiet der Psychiatrie nicht aus- reichend gekümmert habe, so sei dieser Eindruck bedauerlich und falsch. In den letzten zehn Jahren sei einiges geschehen, was durchaus anerkennenswert sei. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde habe bereits 1970 ein Rahmen- programm für die Weiterentwicklung der psychiatrischen Versor- gung der Bevölkerung vorgelegt, und der Ärztetag 1970 in Stuttgart befaßte sich ebenfalls ausführlich auf Grund eines Referates von Prof. Schulten mit dem gleichen Thema und gab umfängliche Emp- fehlungen. Der Antrag für die Einsetzung der Enquete-Kommission wurde im März 1970 gestellt — es dauerte noch eineinhalb Jahre, bis der Bundestag sich schließlich entschloß, den Auftrag an die Regierung zu geben. Währenddessen hat sich aber auch der Deut- sche Ärztetag erneut, nämlich 1973 in Berlin, mit den Fragen der psychiatrischen Versorgung befaßt — die Veranstaltung wurde aller- dings ausgerechnet von denjenigen gestört und schließlich unter- brochen, die von sich behaupten, ein besonderes Engagement für die psychiatrische Versorgung zu haben.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 27 vom 1. Juli 1976 1795

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Die Information:

Bericht und Meinung

Wege und Irrwege der Psychiatrie-Kommission

Prof. Christiani wies im übrigen auch darauf hin, daß die Ärzte- schaft von sich aus an einer engen Zusammenarbeit mit dem Berufs- stand der Psychologen interessiert sei. Das Gesetz über den „Klini- schen Psychologen", das die Vor- aussetzungen dafür schaffen müß- te, sei jedoch im Bundestag stek- kengeblieben. Prof. Christiani wies darauf hin, daß der Psychologe, der die Universitätsausbildung durchlaufen hat, nicht wie der Arzt ein Staatsexamen ablegt. Infolge- dessen könne man den Abschnitt, der sich an das Studium an- schließt, bei den Psychologen durchaus als weitere „Ausbildung"

bezeichnen; für den „Klinischen Psychologen" müßte sie drei Jahre betragen, von denen ein Jahr in der stationären Versorgung abge- leistet werden müsse. Für die Ärzte sei dabei unabdingbar: Vor jeder rein psychiatrischen Behandlung müsse eine Diagnose stehen, die jegliche organische Erkrankung ausschließt. Es gebe kein psychia- trisches Zustandsbild, das nicht auch durch organische Störungen hervorgerufen sein könnte.

Prof. Christiani wies darauf hin, daß die Enquete-Kommission zu- nächst den Auftrag hatte, vor allem den Stand der stationären psychia- trischen Behandlung in der Bun- desrepublik zu erforschen. Dabei stellte sich sehr schnell heraus, daß aus einer solchen Untersu- chung nicht viel politisches Kapital zu schlagen wäre. Man konnte über den in der Tat nicht zufrie- denstellenden Zustand der statio- nären Versorgung weder den Ärz- ten noch dem Personal einen Vor- wurf machen! Immerhin war die Stellung der Psychiatrie schon vor 1933 angeschlagen — das Wort von der „leeren Hülse", die der psychisch kranke Mensch sei, ging schon einige Jahre vor der natio- nalsozialistischen Machtübernah- me um. Dann aber ging, nachdem das Schlagwort sozusagen offiziell geworden war, auch die bis dahin vorhandene nachgehende Fürsorge für psychiatrische Patienten völlig unter. Und so kam es, daß nach dem Krieg neben den Universitäts-

kliniken und den, historisch be- dingt, isoliert in möglichst abgele- genen Gegenden stehenden Ein- richtungen nichts mehr vorhanden war — ein Rückstand, der in einer knappen Generation natürlich nicht aufgeholt werden konnte.

Es mag an diesem ursprünglichen Auftrag an die Kommission gele- gen haben, daß die Darstellung der ambulanten psychiatrischen Tätig-

keit in der Bundesrepublik in der Enquete völlig unzureichend, ja falsch ist. Die Untersuchungen der einschlägigen Berufsverbände ha- ben nämlich, so berichtete Prof.

Christiani, ganz andere Ergebnisse gezeitigt — insbesondere ist be- deutsam, daß offensichtlich 90 Pro- zent aller psychischen oder psy- chisch bedingten Krankheiten von einem Kreis von Ärzten „erfaßt",

-ZITAT

Endziel

„Das Endziel ist die ,verka- belte Stadt' und darüber hin- aus das ‚verkabelte Land'.

Hier wird der Arzt über Vi- deokamera und Bildschirm Untersuchungen vornehmen und ein Computer die Dia- gnose stellen."

Aus einem Beitrag im „aktu- ellen medien-dienst" über neue Informations- und Kom- munikationstechniken.

diagnostiziert und therapiert wer- den, die von einer primär von den Problemen der stationären Psych- iatrie ausgehenden Kommission vielleicht gar nicht recht wahrge- nommen werden können: von den Allgemeinärzten, ferner auch von den niedergelassenen Nervenärz- ten, Internisten und Kinderärzten.

Offenbar hat, so berichtete Prof.

Christiani, die Kommission selbst.

empfunden, daß die Erwartungen und die zu erzielenden Ergebnisse in keinem rechten Verhältnis zuein- ander stehen würden. So kam es,

daß ab 1973 zwei Dinge erfolgten, die mit dem ursprünglichen Auftrag nicht mehr sehr viel zu tun hatten:

Neben der Psychiatrie wurde der gesamte Bereich der Psychothera- pie in die Enquete mit hineinge- nommen, wobei all die Gegensätze zwischen der klassischen Psychia- trie und einigen Richtungen der Psychotherapie sowie die Rich- tungen untereinander aufeinander- prallten — Gegensätze, die zeitwei- lig sogar die Gefahr entstehen lie- ßen, daß zwei Berichte nebenein- ander abgeliefert werden würden.

Dieser Gefahr suchte man dadurch zu entgehen, daß man die Begriffe verwischte, und heute ist es im Kommissionsbericht nicht mehr möglich, zwischen den Vorstellun- gen von einer Ganzheitsmedizin und den verschiedenen Auffassun- gen über die Interaktionen von Leib und Seele zu unterscheiden.

Dieses Dilemma aber führte dazu, daß die Kommission ihren weiteren Ausweg darin fand, über den ur- sprünglichen Auftrag hinaus — der Feststellung des Standes und Zu- standes der psychiatrischen Ver- sorgung nämlich — auch ein Mo- dell für die Weiterentwicklung, Neuentwicklung oder Umgestal- tung des bestehenden Systems der psychiatrischen Versorgung zu ent- werfen. Die Beschränkung im Aus- gangspunkt hatte jedoch fast zwangsläufig die Folge, daß auch der neue Entwurf in sich be- schränkt ist: Die „Enquete" (der Begriff paßt hier eigentlich schon gar nicht mehr) sieht nur Wege der Institutionalisierung oder auch der Verschiebung von bisher persön- lich geleisteten Diensten in die kol- lektive Institution. Nun ist, so sagte Prof. Christiani, die Zahl der vor- handenen Nervenärzte in der freien Praxis zweifellos zu gering. Es bleibt jedoch völlig unerfindlich, wie nicht vorhandene Nervenärzte durch Institutionen ersetzt werden können (und hier eine Anmerkung des Referenten: Es sei denn, man wolle die niedergelassenen Psych- iater prinzipiell aus Gründen, die mit dem Patienten nichts, mit der Politik aber sehr viel zu tun haben, durch Institutionen ersetzen). >

1796 Heft 27 vorn 1. Juli 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Die Information:

Bericht und Meinung

Daß der Übergang von der statio- nären zur ambulanten Behandlung, mit dem sich der Kommissionsbe- richt vielfach befaßt, voller Proble- me ist, bestritt Prof. Christiani kei- neswegs. Unter den Patienten, die aus einer stationären psychiatri- schen Behandlung entlassen wer- den, ist immer ein bestimmter Pro- zentsatz vorhanden, die für eine gewisse Zeit noch weiterhin Schutz und Führung brauchen; allerdings, so betonte er, ist es überaus frag- würdig, diesen Schutz und diese Führung prinzipiell Institutionen zu übertragen. Für diese Patienten nämlich war die klinische Behand- lung in einer Institution der Höhe- punkt ihrer psychischen Störung.

Ein solcher Patient will aber mit der Institution, die für ihn mit die- sem Höhepunkt der Störung ver- bunden ist, im allgemeinen nichts mehr zu tun haben — weitere insti- tutionelle Behandlung und Betreu- ung könnte sogar neue psychische Schäden setzen.

Wer ärztlichen Schutz und ärztli- che Führung im Interesse des Pa- tienten verlangt, könne dies des- halb — ohne die vorhandenen In- stitutionen nun etwa abzuwerten — nicht weiterhin auf institutionellem Wege verlangen.

Prof. Christiani kündigte an, daß der nächste Deutsche Ärztetag sich erneut den Fragen der psych- iatrischen Versorgung der Bevölke- rung widmen werde. Die Enquete- Kommission ist aufgelöst; die Ge- sundheitsministerin hat ein nicht- ärztliches Institut beauftragt, die fi- nanziellen Probleme zu prüfen, die mit der Verwirklichung der von der Enquete-Kommission vorgeschla- genen Maßnahmen verbunden sind [Anmerkung des Referenten: ganz so, als ob das Ergebnis der Enque- te-Arbeit schon der Weisheit letzter Schluß und parlamentarisch be- schlossenes Gesetz wäre]. Wesent- lich ist, so sagte Prof. Christiani abschließend, daß die Psychiatrie

„im Gerede bleibt". Insofern bleibe es ein dauerndes Verdienst der Psychiatrie-Enquete-Kommission, darauf aufmerksam gemacht zu ha- ben, daß niemand unter den Ärzten

mehr ohne Kenntnis der Grundla- gen der Psychiatrie auskomme.

In der anschließenden Diskussion wurde vor allem deutlich, daß es in der Ärzteschaft an einer Stelle ein Informationsdefizit gibt: Vielfach wird die Meinung, ja Überzeugung der auf diesem Gebiet berufspoli- tisch aktiven Mitglieder der Ärzte- schaft, die sich gegen die Präpon- deranz der „Institutionen" richtet, verwechselt mit einer angeblichen Aversion gegen die „Träger" von Aktivitäten karitativer Art in diesem Bereich. Hier muß ein offenbar weit verbreiteter Irrtum richtiggestellt werden. Dies tat Dr. Thomas Zick- graf, in der Bundesärztekammer

ZITAT

Alkohol- und Nikotinschäden

„Die volkswirtschaftlichen Schäden durch Alkohol und Nikotin werden auf jährlich 15 bis 20 Milliarden DM ge- schätzt. Nach Meinung ame- rikanischer Forscher sind die Errungenschaften der Medi- zin der letzten vierzig Jahre allein durch das Fehlverhal- ten der Bevölkerung wieder aufgehoben worden."

Professor Dr. med. Hans- Werner Müller, Hauptge- schäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, in:

Das Krankenhaus, Heft 3/

1976, Seite 77.

für Fragen der Psychiatrie zustän- diger geschäftsführender Arzt: Er wies am Beispiel des Alkoholismus darauf hin, daß auf die Mithilfe von

„Trägern" von halbstationären oder auch ambulanten Einrichtungen gar nicht verzichtet werden kann, die die Lebensführung des aus ei- ner Entzugsbehandlung kommen- den Patienten beeinflussen. Gera- de in diesem Falle sei sogar bis- weilen der „Träger", wie zum Bei- spiel die „Anonymen Alkoholiker", dem Arzt überlegen, der sich nicht

davor schützen könne, von dem Patienten hinsichtlich der Verord- nung von Medikamenten „herein- gelegt" zu werden. Weder die „In- stitution", nämlich das die die Ent- giftung durchführende Kranken- haus, noch der niedergelassene Arzt könne es verhindern, daß ein Patient nach dieser Entgiftungsbe- handlung am zweiten Wochenende wieder „umgeworfen" werde. Ne- benbei: Dr. Zickgraf wies darauf hin, daß das Thema der Alkohol- krankheit im Medizinstudium gar nicht vorkomme.

Schließlich sollte aus der Diskus- sion noch ein Beitrag erwähnt wer- den, der erfrischend deutlich machte, daß Schlagworte allzu- leicht das Denken vernebeln, wenn man nicht auf den Grund ihrer Be- deutung geht. Zwar ist es heute nichts anderes als eine Mode be- stimmter politischer Kreise, das Krankheitsgeschehen auf die Um- welt oder auf die sozialen Bedin- gungen zu reduzieren — mit dem Zweck nämlich, mit gesundheitspo- litischen und gesundheitlichen Ar- gumenten politische Forderungen nach Änderungen der sozialen Be- dingungen zu motivieren. Dr. Ferdi- nand Oeter aber stellte in diesem Zusammenhang den Stellenwert der sozialen Bedingungen einmal klar: Wenn beispielsweise der so- ziale Wohnungsbau, so sagte er, nichts anderes als Hühnerställe für die Eltern und Pferche für die Kin- der produziert habe, wenn der Städtebau nichts anderes als eine unwirtliche Umwelt schaffe, so würden also von dieser Umwelt die Grundlagen für psychische Störun- gen geschaffen. Die Ärzte aber, so folgerte Dr. Oeter, sollten deutlich auf die Verantwortlichkeiten hin- weisen: „Der Arzt kann nicht Flick- schuster für die Fehlentwicklungen der Gesellschaft sein." Hier wie- derum — und diesmal nicht in Klammern — eine Bemerkung des Referenten: Der Arzt darf sich aber ebensowenig in den Elfenbeinturm eines die gesellschaftlichen Bedin- gungen völlig negierenden Behan- delns zurückziehen: Er läßt dann die Kranken mit der fehlentwickel- ten Gesellschaft allein. bt

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 27 vom 1. Juli 1976 1797

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