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Identität in der Fremde und die Rolle der Literatur

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H e r m a n n H . Wetzel

Identität in der Fremde und die Rolle der Literatur

Das Thema des Beitrages lehnt sich an den Titel eines Buches von Gino Chiellino, Literatur und Identität in der Fremde an. Es war eines der Diskussionsthemen auf dem im Herbst 1989 in Passau veranstalteten Kolloquium „Italienische Schriftsteller in Deutschland", über das Italienisch schon berichtete (Nr. 23, S. 152-156).

Im folgenden wird die Diskussion, an der Carmine Abate, Franco Biondi, Gino Chiellino, Giuseppe Giambusso, Fruttuoso Piccolo und Salvatore A . Sanna sowie Ludwig M . Eichinger, Hans-Werner Eroms, Pedro Roselli, Arnulf Stefenelli und Hermann H . Wetzel teilnahmen, zusammengefaßt.

Die Fremde als Zwang

Fremde wird von den meisten ,Gastarbeiter'-Schriftstellern zunächst als erzwungene Trennung von der die Identität formenden und stützenden Umgebung empfunden.

Dieses unmittelbare psychosoziale, identitätsstiftende Umfeld, das ihnen bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter selbstempfundene Kontinuität und Anerkennung der Gleichheit durch andere1 garantierte, ist in erster Linie jedoch familiär und kaum national bestimmt.

Abate: Quand'ero bambino, i miei parenti mi dovevano legare al piedistallo del letto ogni volta che mio padre partiva per l'estero. Io non volevo che partisse, davo calci come un mulo impazzito, piangevo disperato, urlavo che non doveva partire.

Di questi episodi è costellata la mia infanzia e a episodi simili ho subito pensato, quando mi sono chiesto perché ho cominciato a scrivere: ho cominciato a scrivere perché ho sentito l'esigenza di denunciare l'ingiustizia della costrizione ad emigrare:

brevi racconti, poesie, da cui l'emigrato emergeva come l'eroe e la terra lontana che lo inghiottiva per undici mesi come il drago cattivo.

Eine solche Erfahrung der Fremde steht damit unter einem ganz anderen Vorzeichen als etwa die Erfahrungen, die der Reisende oder der Studierende machen kann, wenn er freiwillig und bewußt die Möglichkeit sucht, durch die Kenntnis fremder Identi- tätsmuster den eigenen Horizont zu erweitern oder sich gar von gesellschaftlichen Zwängen seiner Heimat und deren Rollenzuweisungen und Identitätsfesseln zu befreien.

Roselli: Non c'era un processo di perdita del proprio territorio, anzi era un modo per uscire fuori, guardare e capire meglio, ma nell'ordine del migliore inserimento

nel proprio paese. Comunque questo è il punto di riferimento del viaggio classico che è opposto a quello dell 'emigrazione storica. Adesso probabilmente viviamo delle esperienze intermedie o che possono diventare in certi casi intermedie.

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Daß die Fremde, wie in der schriftlichen Vorlage von S . A . Sanna, als Möglichkeit zur Bereicherung empfunden wird, ist daher eher die Ausnahme, wenn sich auch bei allen Autoren im Laufe der Jahre positivere Töne finden lassen.

Sanna: Setzt man einen längeren Aufenthalt und auch eine Bereitschaft, Neues aufzu- nehmen, voraus, dann ist die Annäherung an eine andere, in diesem Falle die deut- sche Kultur möglich, und somit auch eine partielle Identifikation. Ist der Wechsel von einem sozialen Milieu in ein anderes außerhalb des eigenen Landes aufgrund wirt- schaftlicher oder sozialer Zwänge erfolgt, so verringert sich natürlich die Neigung, neue Eindrücke aufzunehmen, zu verarbeiten, und es besteht die Gefahr der Iso- lierung.

Soziales Engagement

Das schriftstellerische Engagement für eine menschenwürdige und gleichberechtigte Behandlung der ausländischen Arbeitnehmer, die in der Hoffnung gründet, mit dieser Literatur etwas bewirken zu können, erhält, unabhängig davon, ob sie nun tatsächlich etwas bewirkt oder nicht, im Hinblick auf die Identitätskonstitution eine mehrfache Funktion: Sie verspricht die zur Festigung der Identität notwendige, von außen, von einer Gruppe kommende Anerkennung, die der Emigrant durch das Verlassen seiner ursprünglichen Bezugsgruppe verloren hat. Das Schreiben-fiir-die-anderen unter- scheidet sich vom (angeblichen) Schreiben-für-sich-selbst (Sanna: ich schreibe in erster Linie für mich selbst) lediglich dadurch, daß die Festigung der Identität über die Anerkennung verschiedener Lesergruppen erreicht werden soll. Auch der für sich selbst Schreibende rechnet mit Lesern, jedoch mit Lesern aus der Gruppe der Mehrheit (Sanna: mein intendierter Leser [ist] ein deutscher Leser), während sich der Sprecher einer Minderheit zum einen mit dieser Minderheit identifiziert und dadurch Anerkennung erntet, zum anderen an Identität durch Identitätszuweisung gewinnt, indem er von der wegen ihres ausländerfeindlichen Verhaltens kritisierten Mehrheit als Sprecher der Minderheit identifiziert wird.

Abate: Poi, dopo la laurea, costretto ad emigrare a mia volta per motivi di lavoro, ho vissuto in prima persona i problemi angosciosi del vivere all'estero, ma ho colto anche gli aspetti positivi che ha in sé quest'esperienza. E dunque, come scrittore, ho dedicato maggiore attenzione agli aspetti psicologici più sottili e più nascosti dell 'essere emigrati. Ho continuato a scrivere su questo tema non tanto per testimo- niare o per raccontare la mia storia di vita, ma perché ho sentito la necessità di interpretare il mondo di cui sono figlio, di dire ciò che gli studi sociologici (e politici che fanno loro eco) tacciono, orientati come sono a dimostrare o a contraddire delle tesi, a privilegiare le statistiche, i numeri. Insomma, lo scrivere come antidoto ai cli- ché che circolano abbondanti attorno a questo tema. All'epoca — l'epoca dei rac- conti di Den Koffer und weg! — avevo la certezza o meglio: la presunzione che la letteratura potesse incidere a livello sociale. Oggi, ovviamente, capisco che si trat- tava di un 'illusione; ma è un 'illusione non del tutto morta, che a volte, dentro di me,

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si ribella. «Guai a soffocarmi del tutto — mi dice - ne verrebbe meno una ragione per scrivere.» [...]

Stefenelli: Darf ich dazu gleich nachfragen, ob wir nur von der Selbstfindung oder der Identitätsfindung des Autors sprechen wollen oder auch von der Gruppe? [...]

Abate: Penso che siano due cose collegate. Io appartengo a questa minoranza, que- sto gruppo. In qualche caso mi sono definito, per esempio, un emigrato a rovescio.

Non solo io. Mio padre era in Germania, io vivevo al paese con mia madre, e tutta questa gente io la definisco «emigrata alla rovescia» perché c'è questa frattura a livello familiare. Quando ho parlato del gruppo ho anche parlato di me.

Der Kampf gegen die Klischees

Das „Schreiben als Gegengift gegen die Klischees", das von allen Diskussionsteil- nehmern als wesentliche Aufgabe erkannt wurde, gehört ebenfalls sehr eng zum Pro- blem der Identität. Es ist der Kampf um die Anerkennung einer Ich-Identität, gegen die automatische Zuschreibung von klischierten und ideologieverdächtigen Gruppen- Identitäten.

Abate: In quanto proprio figlio di questo mondo culturalmente più arretrato, non riuscivo più a sentire tutti i cliché, tutti i luoghi comuni sull'emigrazione, queste immagini che si hanno, soprattutto in Italia dell'emigrato come il nostalgico, V ammalato, il <Sole mio>. A cui molto spesso gli emigrati che vivono all'estero si adeguano, anche molti autori di testi. [...]Non voglio cambiare il mondo con le mie cose. Io ho detto che volevo reagire a tutti i cliché che circolavano intorno a questo tema e anche a questo livello forse non siamo riusciti, non parlo solo di me, ma un po' di tutti, a incidere. Poi, io non scrivo mai, non lo ho mai fatto, per me neanche

quando avevo diciassette anni o sedici anni, ho scritto il primo racconto sull 'emigra- zione, questo non lo so perché, non ho neanche riflettuto, cioè io ho scritto sempre per gli altri. Mai ho pensato di scrivere per me, per il cassetto.

Wetzel: Wenn Sie sagen, Sie wollten Klischees zerstören, dann meinen Sie ja auch Klischees, die Sie selber betrafen. Dadurch, daß Sie diese Klischees zerstören, ver- suchen Sie, eine wirkliche Identität zu bekommen, die nicht geliehen ist von irgend- welchen Identitätsvorgaben, die andere über Sie in Umlauf gesetzt haben, sondern Sie versuchen festzustellen: Was bin ich nun eigentlich? Bin ich so ein , typischer' Ita- liener, wie man sich einen Italiener nördlich der Alpen vorstellt, oder bin ich etwas anderes? Und insofern ist Ihr Schreiben ein Element ihrer eigenen Identitätsfindung und gleichzeitig Hilfe für andere, ihre eigene Identität zu finden.

Chiellino: Die Zerstörung der Klischees ist eine schöpferische Tätigkeit. Das gilt schon im Gespräch und erst recht beim Schreiben. Selbst wenn unsere Gesprächs- partner nicht unsere Sprache sprechen, so ist es doch nicht ausgeschlossen, daß sie

es mal tun werden [...] Wenn ein Italiener zu mir kommt und sagt „Italien ist schöner als Deutschland. ", und ich dann antworte „Ach, ich hätte nicht gedacht, daß Du so

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blöd bist"\ dann handelt es sich schon um einen repressiven Mechanismus, wenn er weiß, daß ich Schriftsteller bin und er so etwas mir gegenüber nicht mehr sagen kann. Da haben wir schon eine Wirkung, wenn man sich auf diese niedrige Basis stel- len will. Wir wissen, daß die Leute, wenn sie unsere Bücher gelesen hätten, nicht so mit uns sprechen könnten. Das heißt, daß sie die Bücher nicht gelesen haben.

Die Suche nach den ,Ursprüngen'

Die zweite wichtige Komponente der Identitätskonstitution, die Selbstversicherung über die eigene Kontinuität in der Biographie, die Frage nach den ,Ursprüngen', scheint erst sekundär gegenüber der Anerkennung der Identität durch Außeninstan- zen, die vermutlich aufgrund der massiven Ablehnung der ,gastgebenden* Gesell- schaft in erster Linie gesucht wird. Sie ist auch weniger ,gastarbeiter-spezifisch\

wenn man davon ausgeht, daß es allgemeiner menschliche4 Probleme der Selbst- findung sind, die jedoch durch den Wechsel aus teilweise fast noch archaischen Agrargesellschaften in die moderne Welt der Industrie dramatisch verschärft werden, bei denen es sich aber um Probleme handelt, die auch bei Migration innerhalb des eigenen Landes auftauchen:

Abate: Recentemente ho finito un romanzo ambientato in un paese italo-albanese della Calabria. Io sono di origine arbèresh e ho sentito questa necessità di scrivere un romanzo proprio sulla mia origine, un argomento che — pensavo — mi avrebbe allontanato dalla tematica dell'emigrazione. Ebbene, scrivendo, i miei personaggi emigrati sono entrati di prepotenza nella storia, occupandone, mio malgrado, un posto centrale. Io insomma li buttavo dalla porta e loro rientravano dalla finestra,

come si dice in italiano.

Conclusione: ogni scrittore ha le sue ombre, da cui per forza di cose [...] è inse- guito e che egli insegue dappertutto. E questo inseguimento faticoso è la ricerca dell'identità (non solo come emigrati ,in der Fremde' ma come uomini) per capire più a fondo il mondo che ci circonda e viceversa. [...]

Sanna: Die Frage der Identität stellt sich auch für jemanden, der sein Dorf oder seine Heimat nicht verläßt. Die Frage „ Wer bin ich überhaupt?", sollte sich jeder stellen, und das hat mit dem Schock des Fremden wenig zu tun. Selbst die Italiener, die aus dem Süden nach Norden, innerhalb des eigenen Landes, ihren Standort gewechselt haben, haben Fragen, Probleme mit ihrer eigenen Identität. Die Sizilianer, die Kala- bresen, die Sarden oder was weiß ich, die in den sechziger Jahren nach Mailand ausgewandert sind, haben mit der Realität Norditaliens Schwierigkeiten gehabt.

(Darüber gab es Filme wie Rocco e suoi fratelli und auch Literatur.) Die Frage der Identität stellt sich auch im eigenen Land. Wir werden hier bald sehen, wie die DDR- Bewohner sich in der Bundesrepublik zurechtfinden. Natürlich, wenn man die Gren- zen des eigenen Landes überschreitet und seine eigenen Vorstellungen und die eigene Kultur mit anderen vergleichen und gewisse Lebensformen annehmen muß, damit man überhaupt akzeptiert wird, dann stellt sich die Frage der Identität schärfer. Und

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es ist möglich, daß in meinem Fall diese Konfrontation mit einer anderen Kultur, die ich schon von meinem Studium her kannte, der Grund zum Schreiben gewesen ist.

Ich wollte nicht in erster Linie wissen, wer ich hin, sondern wie ich mich mit meiner Kultur und mit meinen Kenntnissen, mit meinem Lehensstil hier behaupten kann.

Indirekt ist dies natürlich eine Frage meiner eigenen, nicht einer neuen Identität. Und mit der Zeit entsteht, wenn man sich nicht abkapseln will, fast eine doppelte Identität.

Ich bin nämlich in manchen Dingen mehr Deutscher als Italiener, in anderen umge- kehrt. Also nutze ich die Vorteile, die diese beiden Kulturen mir bieten.

Giambusso: Carmine scrive «Ogni scrittore ha le sue ombre» — per me queste ombre, sono i suoi «io». Ecco, qui è chiara la ricerca dell'identità da parte di Carmine e poi, mi pare, lo sottolinea anche alla fine. E questo che è certamente faticoso, è la

ricerca dell'identità. Almeno nel mio caso, come diceva Sanna, il problema dell'identità non è soltanto il problema dell'emigrante, è il problema dell'uomo. La ricerca dell'io. Solo che per l'emigrante, questa ricerca dell'io acquista una certa drammaticità. Perché la perdita del luogo dell'io, quindi della terra di origine, del passato, ecco, per cui questo «io» si trasforma qui in Germania in uno „Ich". Questo raddoppiamento secondo me, non è una spaccatura. Ecco, qui si cerca di identificare l'io con il posto. Germania, Italia, Sicilia eccetera eccetera. Però forse nel caso di Carmine e anche nel mio caso e di qualche altro ci siamo accorti che in fondo è solo una ricerca dell'io, dell'essere umano e in questa ricerca naturalmente c'è tutta la problematica dell 'emigrante. Per cui, cercando noi stessi, a parte il posto, il luogo,

riusciamo a trovare anche la nostra identità.

Die Sprachenwahl

Es stellte sich heraus, daß selbst die auf Italienisch Schreibenden sich als «transfughi linguistici» fühlen. Das Italienische ist die erste gelernte Fremdsprache (sei sie es nun im wörtlichen, linguistischen Sinne, etwa gegenüber dem Arbèresh, dem in Süd- italien gesprochenen Albanisch, oder nur gegenüber den in der Kindheit gesproche- nen italienischen Dialekten), das erste oktroyierte, ,fremde4 Identifikationsmuster.

Der Wechsel ins Ausland macht diese originäre Mehrsprachigkeit nur noch bewußter:

Abate: Scrivo in italiano perché l'italiano resta la lingua con la quale mi sono o mi hanno scolarizzato, la lingua della mia formazione letteraria, l'unica lingua in cui so scrivere correttamente o quasi.

E qui potrei concludere. Se non che mi sorge il dubbio che la mia lingua, soprattutto nei racconti in prima persona, non sia <puro italiano>, è una lingua presa dal vivo, molto spesso, infarcita di termini dialettali e tedeschi italianizzati o di espresssioni e discorsi diretti in Gastarbeiterdeutsch, una lingua che amo definire - forse impro- priamente — germanese [«anmeldare», «sono stata operata alle mandorle», «sono passato dalla grancassa»].

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Ma allora la mia scelta linguistica è agli antipodi rispetto alla scelta, che so, di Franco Biondi? No, non credo. Riflettendoci bene, anch 'io sono un transfuga lingui- stico come Biondi: cioè uno che scrive in una lingua diversa da quella che ha impa- rato da piccolo. Infatti, la mia madrelingua è l'arbèresh, appartenendo io alla mino- ranza etnico-linguistica italo-albanese. Dunque linguisticamente potrei definirmi così: uno che scrive in italiano, pensa in arbèresh o in italiano o in tedesco o in tutt'e tre le lingue contemporaneamente, a seconda della situazione sognata.

A questo punto, la domanda iniziale potrebbe diventare: Perché non scrivo in arbè- resh? Risposta: Perché è una lingua che so parlare, ma, non essendo insegnata nelle scuole, so scrivere appena. [...]

Ma dato che [l'italiano] non è la mia madrelingua (fino a sei anni parlavo solo in arbèresh), a volte mi capita di tradurre mentalmente dall'arbèresh. Nel mio ultimo lavoro, il romanzo ancora inedito di cui parlavo prima, ho però raggiunto un certo equilibrio linguistico: poiché il romanzo è ambientato in un paese arbèresh, non ho più tradotto mentalmente in italiano, ma spesso e volentieri le parole e le frasi che mi venivano in arbèresh le ho lasciate in arbèresh, con mio grande godimento; e a volte, essendoci episodi che accadono in Germania, in tedesco.

Forse, questa è la strada, tracciata già da altri autori (tra gli italiani, ricordo Chiellino), e questa è anche la tesi, l'ultima delle tesi: scrivere in più lingue contem- poraneamente, poiché in noi nidificano più culture e lingue contemporaneamente.2

,Korrektes* Deutsch und die Wahl der literarischen Gattung

In den Vorlagen zur »Deutschen Sprache der italienischen Schriftsteller4 war in Anlehnung an L . Wittgensteins Diktum „Wer sich nach anderen grammatikalischen Regeln richtet als etwa den üblichen, spricht darum nichts Falsches, sondern von etwas anderem" mehrfach die Rede von der Bereicherung, die Normabweichungen für die deutsche Sprache bedeuten können.

Eichinger: Normabweichungen in literarischen Texten und noch dazu Abweichungen, die (bewußt) irritierende Momente aus einer anderen Kultur und Sprache einbringen, sind im Prinzip als Bereicherung der literarischen Ausdrucksmöglichkeit in dieser Sprache anzusehen. [Eroms plädierte sogar dafür, alle Abweichungen, alle stili- stischen Eigentümlichkeiten, Holprigkeiten, ja Fehler nur positiv zu werten, als Regelverstöße, die als Stolpersteine zu neuen Ausdrucksformen führen.]

Dennoch ist es eine Immunisierungsstrategie, die die Wirkung dieses Mittels eher gefährdet, wenn jedes wie auch immer geartete interimsprachliche Merkmal als Qua- litätsbeweis authentischen Schreibens interpretiert wird.

In bestimmten Formen der Lyrik erscheint es - aufgrund der dort konventionali- sierten Freiheiten' (etwa in der Wortbildung und in der Syntax) — auf den ersten Blick am ,leichtesten', sich den Normierungszwängen eines fremden Identitäts- musters zu entziehen bzw. zu verweigern. (Eroms: Die Sprache erreicht hier schnel-

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ler die „poetische Dimension", d.h. die funktionalstilistisch erwartete Neusetzung des Codes.)

Dieser Aspekt böte neben dem technisch-ökonomischen Grund, daß ein kurzes Gedicht leichter zu publizieren ist als ein umfangreicher Roman, auch eine Erklärung dafür, daß Lyrik in der Bio-Bibliographie der beteiligten Autoren im allgemeinen den Prosatexten vorausgeht.

Eroms: Die Prosa hat demgegenüber etwas unter der oben skizzierten komplexen Ausgangssituation zu leiden: Denn zu der externen Multidimensionalität (verschie- dene staatliche Ausprägungen — Konfrontation der erworbenen Register mit den vor- handenen) kommt noch eine intrinsische: In der modernen Welt sind die sprachlichen Codes funktionalstilistisch geschichtet: Neben der Alltags spräche und der Sprache der Dichtung als den Polen mit der geringsten und der stärksten individuellen Gestal- tungsmöglichkeit stehen Register mit starken Normierungstendenzen: die öffentliche Sprache, die Sprache der Wissenschaft und die Sprache der Presse.

Eine weitere Möglichkeit, die Normierungs- und Anpassungstendenzen der Sprache des Gastlandes zu konterkarieren, ist das Ausweichen in multimediale Formen, wie sie Fruttuoso Piccolo praktiziert:

Piccolo: Ja ich glaube, ich bin eine Ausnahme hier im Kreis, gerade weil ich Auto- didakt bin. [...] Bei der Wahl der Gattung gab es bei mir einen gewissen Zwang: Ich kann nur die Sprache benutzen, die ich zur Verfügung habe. Und meine Kenntnis der Sprache ist sehr gering, deswegen muß ich ausweichen auf neue Formen. [...] Mein Wunsch wäre eben, eine Gattung zu schaffen, die eine neue Sprache ist, nicht auf die italienische oder deutsche Sprache bezogen. Da ist es eigentlich egal, welche Form, Lyrik oder Prosa, wobei ich sehr wohl unterscheide zwischen Schriftsteller und Dichter: Der Schriftsteller ist einer, der alles 'reinbringt, was sein muß, damit der Leser oder Zuhörer mitkommt, im Dichten dagegen sehe ich eine Lebensform.

Schriftsteller ist ein Beruf, Dichter eine Lebensform. [...] Lyrik ist gebunden an die Phonetik: die Wärme in der Stimme, die Ausstrahlung, der Klang wird mitein- bezogen.

Die deutschen Ausländergesetze als Identifizierungssperre

Der vom Emigranten aus dem Mezzogiorno geforderte Wechsel von der Gruppen- Identität in einer agrarisch strukturierten Gesellschaft zu der Ich-Identität einer modernen Industriegesellschaft ist allein schon schwierig genug. Er wird zusätzlich erschwert vom Verhalten der ,gastgebenden' Gesellschaft.

Chiellino: [...] wir verdrängen eine Tatsache. Daß wir nämlich von unserem Gast- land' daran gehindert werden, eine solche Ich-Identität zu erringen. Der Bruch als Auslöser des Verlusts oder der Veränderung der eigenen Identität, das wird ständig \ thematisiert. Aber es wird nicht die Tatsache thematisiert, daß wir aufgrund des Aus- ländergesetzes an dieser vorhandenen Identität nicht teilhaben dürfen. Ja, das ist es,

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was in unserer Diskussion verdrängt wird. Wieso? Daher ist die Frage an Carmine:

Wie kommst Du in unserer Situation auf die Idee, auf die Literatur als Mittel zur Ver- änderung zu verzichten, so als hätten wir hypothetisch die gleiche Möglichkeit, uns zu entwickeln, wie diese Gesellschaft sie ihren Bürgern anbietet? Wir beharren auf dem Verlust der Identität, weil wir wissen, daß uns diese Gleichheit der Chance ver- sagt wird.

Biondi: Wir haben verschiedene Länder, wir haben ein Nord-Süd-Gefälle. Die Bezeichnung „ Agrarland " ist in dem Sinne nicht mehr zutreffend, sondern es handelt sich um einen Anlieferer für die Industrieländer, und zwar von Menschenmaterial, von Rohstoffen, von Fertigung von Ersatzteilen, Kleinteilen. Was zu wenig beachtet wird, ist, daß es um eine Art von Arbeitsteilung geht, die die Identität überhaupt auf eine ganz andere Stufe stellt. Und ich habe immer wieder das Gefühl, daß die Suche nach der Identität, von der wir alle sprechen, zum Scheitern verurteilt ist, wenn nicht eben dieses Prozeßhafte des Lebens und der gesellschaftlichen Kontexte mitein- bezogen wird. Um mit Gino zu sprechen, hier wird immer wieder ausgeblendet, daß wir, die Minderheiten in Deutschland, zwar Angehörige dieser Industriegesellschaft geworden sind, aber mit all den Ausschluß-Mechanismen, daß wir nicht dazu- gehören. Man sieht auch jetzt an der Entwicklung mit den Aussiedlern aus der DDR, daß plötzlich Millionen da sind, weil ein Zugehörigkeitsgefühl gedacht wird, einfach gedacht. Es gibt ein Bild, ein Klischee des Deutschen, und die gehören einfach dazu.

Für alle anderen Minderheiten, die hier leben, und dazu gehören auch die sozial Deklassierten, die sogenannten Randgruppen, für die ist überhaupt nichts mehr vor- gesehen. Und da ist die Frage, was ist das für eine Identität in der BRD? Wird diese Zersplitterung dazu benutzt, Macht zu erhalten und Kontrolle auszuüben?

Die Ablehnung durch das ,Gastland', an der auch die deutschen Schriftsteller-,Kolle- gen' beteiligt sind, wird zudem noch ergänzt durch eine stiefmütterliche Behandlung vom ,Heimatland', das ihren emigrierten Bürgern nicht einmal die Möglichkeit der Briefwahl offeriert, sondern sie zwingt, oft Tausende von Kilometern zu fahren, um ihre Bürgerrechte wahrnehmen zu können.

Die Diskussion zeigte, daß das Problem der Identität sich bei den italienischen Schriftstellern in Deutschland nicht grundsätzlich von den Identitätsproblemen der- jenigen unterscheidet, die von einem bestimmten sozialen Milieu in ein vom Aus- gangsmilieu stark differierendes wechseln, daß das Problem jedoch vor allem durch zwei Momente verschärft wird: Verschärft durch die gleichgültige bis ablehnende Haltung beider Bezugsgruppen, derjenigen des Herkunftslandes und derjenigen des Gastlandes. Verschärft aber auch durch die Tatsache, daß die Mehrzahl der an der Diskussion beteiligten Schriftsteller einer doppelten linguistischen Umorientierung unterworfen waren, vom Dialekt (oder gar einer Minderheitensprache) zur italie- nischen Hochsprache und von dort zum Deutschen. (Das gilt selbst für diejenigen, die auch in Deutschland weiterhin italienisch schreiben.)

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In diesem Spannungsfeld zwischen grundverschiedenen sozialen Milieus und den dazugehörigen, in den jeweiligen Sprachen fixierten Weltbildern liegt jedoch nicht nur der inhaltliche Reiz der betrachteten Literatur, sondern auch die Chance für ihren künstlerisch innovativen Charakter.

Anmerkungen

1 V g l . dazu E r i k H . Erikson, „Das Problem der Ich-Identität", Psyche 10, 1956/7, S. 1 1 4 - 1 7 6 .

2 In diesem Zusammenhang sind auch neueste Gedichte G . Chiellinos zu sehen, die drei sprach- liche Identifikationsebenen, den Dialekt, das Italienische und das Deutsche umfassen.

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