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Der Hirntod Lebenslauf einer Definition

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Der Hirntod – Lebenslauf einer Definition

Vorbemerkung: Die Darstellung der Ereignisse stützt sich auf Studien von Forschern, die auf Original- Unterlagen der Hirntod-Kommission von 1968 Zugriff hatten: David Rothman [1], Peter Singer [2], Mita Giacomini [3] und Martin Pernick [4] zitieren aus Briefen und frühen Entwürfen, Scott Henderson [5] widmet der Geschichte der Hirntoddefinition ein aufschlussreiches Kapitel.

Am 3.12.1967 leitete der südafrikanische Arzt Christiaan Barnard das Team, das zum ersten Mal einem Menschen erfolgreich ein Herz transplantierte – erfolgreich nur insofern, als der Patient die 4 ½-stündige Operation überlebte, wenn auch nur achtzehn Tage. Die Spenderin war eine 25-jährige Frau, die sich bei einem Unfall eine schwere Kopfverletzung zugezogen hatte. Barnard

wartete nach ihrem Kreislaufstillstand etwa 3 Minuten, dann entnahm er ihr Herz. Dass seine Aktion als Heldentat bekannt wurde, lag nur an der liberalen südafrikanischen Gesetzgebung. [5, S. 7]

Ein Kollege Barnards, der japanische Chirurg Juri Wada, machte ganz andere Erfahrungen. Am 8.8.1968 erklärte er einen ertrunkenen Jugendlichen für hirntot, entnahm ihm das Herz und transplantierte es einem anderen Jugendlichen mit einer angeborenen Herzkrankheit. Der Organempfänger überlebte drei Monate, und Dr. Wada wurde des Mordes beschuldigt: Der Spender habe noch gelebt, der Empfänger sei gar nicht so krank gewesen und hätte ohne Transplantation viel länger leben können. Dr. Wadas Ruf war ruiniert, auch wenn es nie zu einer Verurteilung kam. Erst in den neunziger Jahren konnte die Transplantationsmedizin nach westlichem Vorbild in Japan etabliert werden. [6, 7]

Diese Begebenheit spiegelt das Misstrauen wider, dem die

Transplantationsmedizin Ende der sechziger Jahre aufgrund ihres Zugriffs auf lebende Organe in vielen Ländern begegnete. Die Transplantationsmedizin hatte zu der Zeit einige Anfangsschwierigkeiten überwunden. Es gab Patienten, die das Risiko der Transplantation eingehen wollten, und es gab Chirurgen, die

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darauf brannten, ein neues chirurgisches Gebiet mitzugestalten. Es gab eine erste wirksame Immunsuppression. Es gab noch keine sichere Organquelle.

Die meisten Chirurgen entnahmen die Organe wie Barnard bei seiner Ersttat von klinisch Toten. [8, S. 895] Die Wartezeit nach dem Herzstillstand war noch nicht einheitlich geregelt. Kritiker beanstandeten auch, dass auf eine

Reanimation verzichtet wurde. Die Qualität der Organe war um so schlechter, je mehr Zeit zwischen Herzstillstand und Organentnahme eingeräumt wurde.

Oft konnten nur die Nieren verpflanzt werden. Vor allem aber standen die Transplantationschirurgen immer mit einem Bein im Gefängnis.

Teams in Belgien hatten schon Organe von tief Komatösen entnommen, dies war aber auf Einzelfälle begrenzt. Auf dem Ciba-Symposium über

Transplantation in Edinburgh 1966 berichtete der belgische Chirurg Guy Alexandre über acht Nierenentnahmen von komatösen Patienten und erntete allgemeine Entrüstung. [9, 10, 11, 12] Koma-Patienten galten damals noch als selbstverständlich lebendig. Über eine Hirntoddefinition wurde gesprochen, die Mehrheit der Teilnehmer schreckte aber vor einer verbindlichen Regelung zurück und setzte lieber weiterhin auf eine individuelle ärztliche Entscheidung am Krankenbett. [3, S. 1473]

Viele Amerikaner betrachteten damals die Tätigkeit der

Transplantationsmediziner mit großem Argwohn. Einerseits hatten sie Angst davor, im Scheintod getötet zu werden, und andererseits wollten sie nicht, dass ihr Sterben unnötig verlängert wird. [3, 1471; 4, S. 17; 5, S. 14] Um sie zu

beschwichtigen und um den Chirurgen Rechtssicherheit zu schaffen, musste die Organentnahme einheitlich geregelt werden.

Dieser Aufgabe stellte sich der Bostoner Anästhesist Henry K. Beecher, der sich als Kritiker unethischer Forschungspraktiken einen Namen gemacht hatte [13]

und nun das Forschungskontrollkomitee am Massachusetts General Hospital

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der Harvard Medical School (HMS) in Boston leitete. Gemeinsam mit dem renommierten Bostoner Transplantationschirurgen Joseph Murray (erste erfolgreiche Nierentransplantation 1954) beantragte er im Oktober 1967 beim Dekan der Harvard Medical School, Robert Ebert, ein Komitee gründen zu dürfen, um die Definition des Todes auf der Basis neuerer medizinischer Erkenntnisse zu aktualisieren. Zur Begründung führte er an, die Kliniken seien voller Transplantationsanwärter. [Brief vom 30.10.1967, zitiert in 1, S. 24; 2, S.

160 f.; 3, S. 1474] Die Erlaubnis wurde ihm Anfang Januar 1968 erteilt, einen Monat nach der ersten Herztransplantation. Dies war voraussehbar, denn die Harvard Medical School war damals ein führendes Transplantationszentrum und hatte großes Interesse an einer möglichst hohen Rechtssicherheit bei Organentnahmen. [1, 3, 5] In einem Brief an Joseph Murray vom 4.1.1968 spricht Dekan Ebert von „pioneering interest“ [1, S. 161; 3, S. 1474].

Unter den dreizehn Mitgliedern des Komitees, das Beecher für sein Projekt gründete, waren zehn ärztliche Kollegen, darunter Anästhesisten,

Transplantationsmediziner und Neurologen, sowie ein Jurist, ein Theologe und ein Historiker [3, S. 1474]. Bereits nach sechs Monaten veröffentlichte das Komitee in der renommierten Zeitschrift Journal of the American Medical Association sein Ergebnis: „A definition of irreversible coma“. [14]

Die Hirntoddefinition basierte auf Vorarbeiten von Intensivmedizinern. In den fünfziger Jahren hatte der technische Fortschritt es möglich gemacht,

schwerkranke Patienten durch künstliche Beatmung am Leben zu erhalten.

Nicht alle Patienten profitierten davon. Bald gab es viele Patienten, die nach einem Unfall oder nach einer nur teilweise erfolgreichen Reanimation schwere Hirnschäden hatten und weder leben noch sterben konnten. [15] Die

französischen Neurologen Pierre Mollaret und Maurice Goulon prägten für diese Patienten 1959 den Begriff Coma dépassé („jenseits des Komas“). [16] Zu

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dem Syndrom gehörten Bewusstlosigkeit, Reflexlosigkeit, fehlende

Spontanatmung und Nulllinie im EEG. Es wurde nicht als ein Zustand des Todes gedeutet, sondern als ein Zustand, in dem die Patienten keine Aussicht hatten, noch einmal zu genesen, und der so den Abbruch aller intensivmedizinischen Maßnahmen rechtfertigte. Ein Gesetz mit einer Neudefinition des Todes war dazu nicht notwendig, ebenso wenig wie heutige Intensivmediziner eine gesetzliche Grundlage brauchen, um ohne aufwändige Hirntoddiagnostik aussichtslose Behandlungen abbrechen zu können.

Beechers Team bezog sich nicht ausdrücklich auf das Coma dépassé. Statt dessen setzte es irreversibles Koma mit Tod gleich, benannte es in Hirntod um und machte es zum Kriterium für die Zulässigkeit von Organentnahmen. Zum Nachweis des Hirntodes führte es Hirntodkriterien auf, die zu den von Mollaret und Goulon 1959 aufgeführten Diagnosekriterien noch einige hinzufügten:

Tabelle: Hirntodkriterien nach Beecher 1968 [14]

Koma: Bewusstlosigkeit, kein Erwecken durch Schmerzreize Ausfall der Pupillen-, Hornhaut- und Würge- und Husten-Reflexe Ausfall der Schmerzreaktion im Gesichtsbereich (N. trigeminus) Puppenkopfphänomen: keine Augenbewegung bei Gesichtsdrehen Ausfall der Spontanatmung (Apnoe-Test)

Ausschluss von:

Sedativa, Unterkühlung, Intoxikation, Sepsis, metabolische Entgleisung Nachweis der Unumkehrbarkeit:

- Wartezeit: 12, 24 oder 72 h je nach Schädigung und Alter

- apparative Zusatzdiagnostik (nur bei Kindern bis 2 Jahren zwingend vorgeschrieben):

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Nulllinie im EEG

Nachweis eines Durchblutungsstopps in Hirnperfusionsszintigrafie oder Doppler-Sonografie

Ausfall akustisch oder somatosensibel evozierter Potentiale

Als Begründung für die Notwendigkeit der neuen Hirntoddefinition nannte Beechers Team das Interesse der Intensivmediziner, bei unheilbar Kranken die Therapie einstellen zu können. Erst an zweiter Stelle wurden die Erfordernisse der Transplantationsmedizin angeführt.

Die kanadische Sozialwissenschaftlerin Mita Giacomini ging Ende des letzten Jahrtausends der Frage nach, welche Interessen das Ad Hoc Komitee 1968 leiteten. [3] Sie hatte Gelegenheit, die „Henry K. Beecher Manuscripts“ im Archiv der Harvard Medical School einzusehen, die unter anderem Vorentwürfe des Artikels, unveröffentlichte Randbemerkungen und den zugehörigen

Briefwechsel enthalten. Giacomini kommt zu dem definitiven Ergebnis, dass die Interessen der Transplantationsmedizin maßgeblich in die Hirntoddefinition eingeflossen sind und dass die Belange der Intensivmedizin vorgeschoben wurden, um dies nicht zu offenkundig zu machen. Sie nennt mehrere Gründe für ihre Einschätzung:

- In den späten sechziger Jahren waren unheilbar komatöse beatmete Patienten auf amerikanischen Intensivstationen zwar präsent, aber das Problem war nicht neu und wurde in der Regel unter der Hand gelöst. [3, S. 1471; auch: 5, S.12] Die Erfordernisse der Transplantationschirurgie hingegen waren brandaktuell. Die Frage lautete, auf den Punkt gebracht:

Wie kann ich lebende Organe von toten Spendern erhalten? Das Ad Hoc

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Komitee schuf genau das Kunstprodukt, das dazu erforderlich war: den Hirntod.

- Der Entwurf wurde mehrfach überarbeitet und genau auf die

Erfordernisse der Transplantationsmedizin zugeschnitten. So wurde die ursprünglich geplante Beobachtungszeit zum Nachweis der

Irreversibilität von dreimal 24 Stunden (so im Artikel-Entwurf vom

11.4.1968) auf Drängen eines Transplantationschirurgen auf 24 Stunden gesenkt [3, S. 1475]. Der Transplantationschirurg Joseph Murray setzte den Wortbestandteil „Tod“ (statt „Koma“) durch und akzeptierte das vom Neurologen Robert Schwab vorgeschlagene „irreversible Koma“

allenfalls als Synonym [3, S. 1477]. Noch in der vorletzten Fassung vom 3.6.1968 wurden die Interessen der Transplantationsmedizin als

primärer Grund für die neue Definition genannt, in der Endfassung stehen an erster Stelle die Interessen der Intensivmedizin. Dazu passend existiert ein Brief von Dean Ebert, der darauf drängte, die

Transplantationsmedizin nicht zu prominent zu nennen. [zitiert in 1, S.

26; 3, S. 1475]

Bereits im Juni 1968 berichtete Beecher über ethische Probleme bei

hoffnungslos bewusstlosen Patienten und postulierte, dass in solchen Fällen die lebenserhaltenden Maßnahmen beendet und die Organe zur Heilung Anderer verwendet werden sollten. [17] In einem Vortrag führt H. Beecher später

(1971) offen aus, dass die Hirntoddefinition so gewählt wurde, dass die Organe von Hirntoten noch verwertbar sind [18, zitiert in 1, S. 26].

Die offiziellen Verlautbarungen vieler Transplantationsmediziner, der

Hauptgrund für die Hirntoddefinition sei die Notwendigkeit gewesen, bei tief komatösen Patienten mit infauster Prognose die intensivmedizinischen Maßnahmen einzustellen, werden mittlerweile auch von prominenten

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Protagonisten der Transplantationsmedizin angezweifelt. So räumt der amerikanische Neurologe Eelco Wijdicks 2018 ein, dass die Belange der Transplantationsmedizin einen großen Einfluss hatten [19], und der amerikanische Ethiker Robert Truog stellte 2018 klar, dass die

Transplantationschirurgie von der Hirntoddefinition am meisten profitiert hat [20]. Bereits 2003 vertrat der australische Hämatologe I. Kerridge in einer Diskussion die Position, dass der Hirntod dem Bedarf der

Transplantationsmedizin zuzuschreiben sei, die Intensivmedizin komme gut ohne ihn aus [21].

Aber zurück ins Jahr 1968. Die Hirntoddefinition des Ad Hoc Komitees wurde begeistert aufgenommen und brachte die Transplantationsmedizin in

Schwung. Noch 1968 wurden weltweit 100 Herztransplantationen

durchgeführt. Der Aufwand für die erste Herztransplantation in den USA war enorm: Dem Patienten wurden 304 Pints (143,8 Liter) Blut transfundiert, die Kosten betrugen für damalige Maßstäbe unglaubliche 30.000 Dollar. [3, S.

1471; 4, S. 13]

Die Ergebnisse der ersten Herztransplantationen waren jedoch entmutigend.

Mehr als 70% der Patienten starben in den ersten vier Monaten nach der Operation, nur ein Patient überlebte länger als elf Monate. Nach dem Tod von Barnards zweitem Patienten und Rekordüberleber im August 1969

vereinbarten die Transplantationschirurgen ein weltweites Moratorium für Herztransplantationen, das 10 Jahre lang galt [5, S. 896; 22, 23].

Für Nierentransplantationen wurden aber weiterhin hirntote Spender gesucht, und der Bedarf stieg rasant an. Als sich abzeichnete, dass nur sehr wenige Koma-Patienten die strengen Hirntod-Kriterien von 1968 erfüllten, wurden diese weiter gelockert. Reflexe wurden als automatische Reaktionen auf Rückenmarksebene gedeutet und waren nun kein Hindernis mehr für die

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Diagnose Hirntod. [24, 25] Auch eine Nulllinie im EEG wurde relativiert, und die Beobachtungszeit wurde auf bis zu sechs Stunden gesenkt [26].

Die wenigen kritischen Stimmen verhallten ohne Wirkung. Einer der ersten Kritiker war der deutsche Philosoph Hans Jonas, der von 1955 bis 1977 an der New School for Social Research in New York lehrte. Er führte unter anderem an, dass der Hirntod den Todeszeitpunkt willkürlich vorverlegte und

Organentnahme daher Vivisektion sei. Die genaue Grenze zwischen Leben und Tod sei nicht bekannt. [26] In einer späteren Schrift rechtfertigte er sich gegen Anfeindungen von ärztlicher Seite und stellte fest, dass die Interessen der Transplantationsmedizin in die Hirntoddefinition eingeflossen seien und ihre wissenschaftliche Wertfreiheit befleckt hätten. Der alte Leib-Seele-Dualismus sei in einen Körper-Gehirn-Dualismus umgedeutet worden, ohne Rücksicht darauf, dass auch ein hirntoter Körper die Kontinuität der Person weiterführe und keineswegs zu Fremdzwecken genutzt werden dürfe. [27]

Das Ad Hoc-Komitee hatte 1968 darauf verzichtet, die Hirntoddefinition zu begründen. Dies holte 1978-1981 eine staatlich eingesetzte Organisation nach, The President’s Commission for the Study of Ethical Problems in Medicine and Biomedical and Behavioral Research. 1981 präsentierten die Experten in einer 177 Seiten-Publikation ihr Ergebnis: Als Begründung für die Gleichsetzung des Hirntods mit dem Tod des Menschen führten sie an, das Gehirn sei der

Integrator des Organismus und der Organismus würde nach seinem Ausfall zeitnah zusammenbrechen. [28] In einer zeitgleichen Veröffentlichung vertrat der amerikanische Neurologe James Bernat die gleiche Begründung. [29] Noch im Jahr 1981 wurde der Hirntod in den meisten Staaten der USA im Uniform Determination of Death Act (UDDA) gesetzlich als Tod des Menschen

festgeschrieben. Die meisten westlichen Länder folgten nach und nach dem Beispiel, Deutschland erst 1997.

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In Deutschland nahm der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer die Argumentation der President’s Commission 1993 auf. In Anlehnung an eine Ausarbeitung des Essener Geisteswissenschaftlers Dieter Birnbacher [30] führte er aus, dass der irreversible Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen nicht nur den Verlust der Bewusstseinsfähigkeit nach sich ziehe, sondern auch die Steuerung sowie die Integration der Organe beende und damit für den Menschen als leiblich-seelische Einheit in jeglicher Hinsicht den Tod bedeute. [31]

Zweifel am Hirntod

Während deutsche Transplantationschirurgen immer noch eisern am Hirntodkonzept festhalten und kritische Stimmen [32, 33, 34] erfolgreich ignorieren, ist in den USA das Vertrauen in das Hirntodkonzept längst ins Wanken geraten. Grund dafür ist eine Reihe klinischer Studien.

1998 zeigte der amerikanische Neurologe Alan Shewmon, dass der Hirntod nicht automatisch zum Zusammenbruch des Organismus führt, und widerlegte damit die Theorie, dass das Gehirn als Integrator zum Funktionieren des

Organismus unentbehrlich ist. [35] 1999 wies der brasilianische Neurologe Cicero Coimbra darauf hin, dass ein reversibles ischämisches Hirnödem

(Penumbra) einen Hirntod vortäuschen kann. Er warnte vor dem Apnoetest, bei dem im Rahmen der Hirntoddiagnostik eine bis zu 10-minütige Trennung vom Beatmungsgerät abgewartet wird. Die dabei auftretende Hypoxie könne ein ohnehin schlecht durchblutetes Gehirn schädigen und so den Hirntod erst erzeugen. [36] Auf diese Möglichkeit hatten die Berliner Neurologen Gabriel Curio und Peter Marx bereits 1987 in einem Leserbrief hingewiesen. [37] Der amerikanische Neurologe Eelco Wijdicks ließ 2008 41 Gehirne von Hirntoten neuropathologisch untersuchen. Keines der Gehirne wies die erwartete

schwere ischämische Nekrose auf. [38] Ebenfalls 2008 führte der amerikanische Radiologe Lionel Zuckier angiographische Nachuntersuchungen bei 188

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Patienten durch, die als hirntot diagnostiziert worden waren. In 11% konnte er noch eine Hirndurchblutung nachweisen. [39]

Um die Hirntoddefinition zu retten und die Transplantationsmedizin weiter rechtlich abzusichern, sah sich der amerikanische President’s Council of Bioethics, der dem Deutschen Ethikrat entspricht, gezwungen, den Begriff

„Leben“ neu zu definieren: Im Dezember 2008 erklärte er die aktive

Auseinandersetzung mit der Umwelt zum notwendigen Kriterium für Leben.

[40] Diese Definition setzte sich jedoch nicht durch.

Das Hirntodkonzept wurde zudem durch Untersuchungen belastet, die weltweit erhebliche Unterschiede in der Hirntoddiagnostik nachwiesen [41, 42, 43].

Quellen:

1 Rothman, David J.: Strangers at the bedside: a history of how law and bioethics transformed medical decisionmaking. New York, 1991, S.148-167.

2 Singer, Peter: Rethinking life & death – The collapse of our traditional ethics.

New York 1994/2008, S. 20-37.

3 Giacomini, Mita: A change of heart and a change of mind? Technology and the redefinition of death in 1968. Social Science & Medicine 44 (1997, 10, Juni), 1465-1482.

4 Pernick, Martin S.: Brain death in a cultural context: the reconstruction of death, 1967-1981. In: Youngner, Stuart J.; Arnold, Robert M.; Schapiro, Renie:

The definition of death – Contemporary controversies. London, 1999, S. 3-33.

5 Henderson, Scott: Death and donation. Eugene, 2011, S. 1-28.

6 Rihito Kimura: Organ transplantation and brain-death in Japan.

Cultural, legal and bioethical background. Annals of Transplantation 3 (1998, No. 3, März), 55-58.

(11)

7 Lock, Margaret: The problem of brain death: Japanese disputes about bodies and modernity. In: Youngner, Stuart J.; Arnold, Robert M.; Schapiro, Renie: The definition of death – Contemporary controversies. London, 1999, S. 239-256 (241 f.).

8 Wiesemann, C.: Hirntod und Intensivmedizin – Zur Kulturgeschichte eines medizinischen Konzepts. Der Anästhesist 49 (2000, 10, Oktober), 893-900.

9 Wolstenholme, G. E. W.; O’Connor, Maeve: Ciba Foundation Symposium – Ethics in medical progress: with special reference to transplantation. Boston, 1966.

10 Machado, Calixto: The first organ transplant from a brain-dead donor.

Neurology 64 (2005, 11, Juni), 1938-1942.

11 Ross, Lainie Friedman; Thistlethwaite, J. Richard: The 1966 Ciba symposium on transplantation ethics. 50 years later. Transplantation 100 (2016, 6, Juni), 1191-1197.

12 Rodriguez-Arias, David: The dead donor rule as policy indoctrination.

Hastings Center Report 48 (2018, 6, November, S4), S39-42.

13 Beecher, Henry K.: Ethics and clinical research. New England Journal of Medicine 274 (1966, 16.6.), 1354-1360. [Ethik; Abstract]

14 Beecher, Henry K. u.a.: A definition of irreversible coma. Report of the Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death. JAMA 205 (1968, 6, 5.8.), 337-340.

15 Wertheimer, P.; Jouvet, M.; Descotes, J.: A propos du diagnostic de la mort du systeme nerveux dans le comas avec arrêt respiratoire traités par

respitation artificielle. La Presse Médicale 67 (1959, No. 3, 17.1.), 87-88.

16 Mollaret, Pierre; Goulon, M.: Le coma dépassé. Revue neurologique (Paris) 101 (1959, Juli), 3–15.

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17 Beecher, Henry K.: Ethical Problems created by the hopelessly unconscious patient. New England Journal of Medicine 278 (1968, 26, 27.6.), 1425-1430.

18 Beecher, Henry K.; Dorr, H. I.: The new definition of death: Some opposing views. Internationale Zeitschrift für klinische Pharmakologie, Therapie und Toxikologie 5 (1971, 2, November), 120-124.

19 Wijdicks, Eelco F. M.: Deliberating death in the summer of 1968. New England Journal of Medicine online, 2.8.2018.

20 Truog, Robert D.; Pope, Mason Thaddeus; Jones, David S.: The 50-year legacy oft he Harvard Report on Brain Death. JAMA online, 7.6.2018.

21 Kerridge, I.; Saul, P.; Lowe, M.; McPhee, J.; Williams, D.: Commentary.

Journal of Medical Ethics 29 (2003, 3, Juni), 202.

22 Jonsen, Albert R.: The ethics of organ transplantation: A brief history. AMA Journal of Ethics (2012, 3, März),264-268.

23 Veatch, Robert M.: Death, dying, and the biological revolution – our last quest for responsibility. London, 1976, S. 261 ff.

24 Zander, E.; Cornu, O.: Les critères de la mort cérébrale. Revue critique de 90 cas. Schweizerische Medizinische Wochenschrift 100 (1970, Nr. 9), 408-414.

25 Duven, H. E.; Kollrack, H. W.: Areflexie: kein obligates Symptom bei

dissoziiertem Hirntod. Deutsche Medizinische Wochenschrift 95 (1970, Nr. 25, 19.6.), 1346-1348.

26 Jonas, Hans: Philosophical reflections on experimenting with human subjects. Daedalus 98 (1969, Nr. 2, Frühjahr), 219-247.

27 Jonas, Hans: Against the stream: Comments on the definition and

redefinition of death (1970). In: Hans Jonas: Philosophical essays from ancient creed to technological man. New York, 2010, S. 134-142.

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28 The President’s Commission for the Study of Ethical Problems in Medicine and Biomedical and Behavioral Research: Defining death. Medical, legal and ethical issues in the determination of death. Washington, July 1981, verfügbar unter

https://repository.library.georgetown.edu/bitstream/handle/10822/559345/

defining_death.pdf?sequence=1&isAllowed=y

29 Bernat, James L.; Culver, Charles M.; Gert, Bernard: On the definition and criteria of death. Annals of Internal Medicine 94 (1981, No. 3, März), 389-394.

30 Birnbacher, Dieter; Angstwurm, Hans; Eigler, Friedrich Wilhelm;

Wuermeling, Hans-Bernhard: Der vollständige und endgültige Ausfall der

Hirntätigkeit als Todeszeichen des Menschen - Anthropologischer Hintergrund.

Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer.

Deutsches Ärzteblatt 90 (1993, Heft 44, 5.11.), B2170-2173.

31 Wuermeling, H.-B.; u.a.: Der endgültige Ausfall der gesamten Hirnfunktion („Hirntod“) als sicheres Todeszeichen. Deutsches Ärzteblatt 90 (1993, Heft 44, 5.11.), B2177-2179

32 Bergmann, Anna: Der „Leben-machende“ Tod: Die Praxis der

Transplantationsmedizin. In: Bergmann, Anna: Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod. Berlin, 2004, S. 277-314.

33 Müller, Sabine: Wie tot sind Hirntote? Alte Frage – neue Antworten. Aus Politik und Zeitgeschichte 20-21 (2011, 16.5.), 3-9.

34 Bavastro, Paolo: Organ-Transplantation – Zukunftsweisend oder Irrweg des Zeitgeistes? Würzburg, 2018.

35 Shewmon, D. Alan: Chronic “brain death”: Meta-analysis and conceptual consequences. Neurology 51 (1998, No. 6, Dezember), 1538-45.

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36 Coimbra, C. G.: Implications of ischemic penumbra for the diagnosis of brain death. Brazilian Journal of Medical and Biological Research 32 (1999, No. 12, Dezember), 1479-1487.

37 Curio, Gabriel; Marx, Peter: Kriterien des Hirntodes: Stellungnahme I.

Deutsches Ärzteblatt 84 (1987, Heft 16, 16.4.), B767.

38 Wijdicks, Eelco F.M.; Pfeifer, Eric A.: Neuropathology of brain death in the modern transplant era. Neurology 70 (2008, 15, April), 1234-1237.

39 Zuckier

, Lionel S.; Kolano, Johanna: Radionuclide studies in the determination of brain death: criteria, concepts, and controversies. Seminars in Nuclear Medicine 38 (2008, No. 4, Juli), 262-273.

40 Pellegrino, Edmund D.: Controversies in the determination of death. A white paper by The President’s Council on Bioethics. New York, Dezember 2008, 144 S.

41 Wijdicks, Eelco F. M.: Brain death worldwide: Accepted fact but no global consensus in diagnostic criteria. Neurology 58 (2002, Januar), 20-25.

42 Citerio, Giuseppe; Bronco, Alfio; Crippa, Ilaria Alice; Vargiolu, Alessia; Smith, Martin: Variability in brain death determination in Europe: Looking for a

solution. Neurocritical Care 21 (2014, 3, Dezember), 376-382.

43 Wahlster, Sarah; Wijdicks, Eelco F. M.; Patel, Pratik V.; Greer, David M.;

Hemphill, J. Claude; Carone, Marco; Mateen, Farrah J.: Brain death declaration – practices and perceptions worldwide. Neurology 84 (2015, 18, Mai), 1870- 1879.

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