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Archiv "Jugendsexualität - Veränderungen in den letzten Jahrzehnten" (15.05.1998)

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1 In geeigneten Fällen, bei- spielsweise nach unkompliziertem Myokardinfarkt, kann auf die sta- tionäre Phase vollständig verzichtet und sofort mit der ambulanten Be- handlung begonnen werden.

Um die sekundäre Prävention bei koronarer Herzerkrankung effektiver zu gestalten, muß in Zukunft sicher- lich auch über unkonventionelle Maß- nahmen nachgedacht werden. Es wäre denkbar, daß zum Beispiel Patienten, die auch nach einem Myokardinfarkt

weiterhin rauchen, stärker an den Ko- sten für die Prävention beteiligt wer- den. Andererseits könnte die konse- quente und erfolgreiche Teilnahme an einer Präventionsgruppe mit einem Preisnachlaß belohnt werden, ähnlich wie der Schadenfreiheitsrabatt bei der Autohaftpflichtversicherung.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-1233–1240 [Heft 20]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Son- derdruck beim Verfasser und über die Inter- netseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift für dieVerfasser

Prof. Dr. med. Gerhard Schuler Klinik für Innere Medizin / Kardiologie

Herzzentrum Leipzig Russenstraße 19 04289 Leipzig

A-1240

M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG/KURZBERICHT

(44) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 20, 15. Mai 1998 ie meisten Ärztinnen und

Ärzte, die heute praktizieren, gehören Generationen an, über die die sogenannte sexuelle Re- volution in der zweiten Hälfte der 60er Jahre hereingebrochen ist. Als sich die Werte und Normen, das Erle- ben und Verhalten zum Teil drastisch veränderten, befanden sie sich in je- nem Alter, in dem noch nicht alle sexuellen Weichen gestellt sind. Sie wurden also, ob sie wollten oder nicht,

von der sexuellen Revolution erfaßt, selbst die, die sich dagegen stemmten.

Denn auch der, der gegen den Strom schwimmt, schwimmt im Strom.

Zur Zeit der sexuellen Revoluti- on wurde die Sexualität mit einer sol- chen Mächtigkeit ausgestattet, daß ei-

nige davon überzeugt waren, durch ih- re Entfesselung die ganze Gesell- schaft stürzen zu können. Andere ver- klärten die Sexualität zur menschli- chen Glücksmöglichkeit schlechthin.

Generell sollte sie so früh, so oft, so vielfältig und so intensiv wie nur ir- gend möglich praktiziert werden. Ge- nerativität, Monogamie, Treue, Virgi- nität und Askese waren Inbegriff und Ausfluß der zu bekämpfenden Re- pression. Daß mit der „Befreiung“ er-

Jugendsexualität –

Veränderungen in den letzten Jahrzehnten

Volkmar Sigusch

Stichwörter: Empirische Sexualforschung,

Geschlechterverhältnis, Jugendsexualität, Sexualverhalten, Verhütungsverhalten

In Deutschland gibt es seit über 30 Jahren empirische For- schung zur Jugendsexualität. Hiermit besteht eine solide Ba- sis, um Veränderungen auf diesem Gebiet zu erfassen. Heut- zutage haben etwa 60 Prozent der weiblichen und männli- chen Jugendlichen im Alter von 16 bis 17 Jahren Erfahrun- gen mit Genitalpetting. Etwa 40 Prozent hatten Geschlechts- verkehr. Das entspricht Studien von vor 30 Jahren. Außer-

dem kann geschlossen werden, daß es keine grundlegenden Änderungen in

den Liebes- und Treuevorstellungen gab. Jungen erleben heute ihre Sexualität weniger dranghaft, zeigen mehr Emo- tionen und haben wesentlich weniger homosexuelle Kon- takte. Neben Liebe sind Gleichberechtigung und Gewalt- losigkeit wichtige Werte geworden. Zwei Drittel der 16- bis 17jährigen Mädchen wurden schon einmal sexuell attackiert. Sie entscheiden heute häufiger, was in sexuellen Beziehungen erlaubt ist.

ZUSAMMENFASSUNG

Key words: Empirical sex research,

gender relation, teenage sexuality, sexual behaviour, contraceptive behaviour

Teenage sexuality has been researched empirically in Ger- many for more than 30 years, which makes well-founded conclusions about changes and continuities possible. At pres- ent, about three fifths of male and female 16- or 17-year-olds have experienced genital petting and about two fifths inter- course, a finding similar to that three decades ago. So, no

substantial changes in the central values of love and fidelity have occurred. New findings are that

boys experience their sexuality as less pressuring, are able to show more emotion to girls and have far fewer homosexual contacts. The value “love” has been supplemented by “gen- der equality” and “freedom from coercion”. Two thirds of the girls have experienced sexual assaults by the age of 16 or 17. Another motive is that girls decide much more often on what is permissible in a sexual relationship.

SUMMARY

D

Institut für Sexualwissenschaft (Direktor: Prof.

Dr. med. Volkmar Sigusch), Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frank- furt am Main

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hebliche Fremd- und Selbstzwänge, neue Probleme und alte Ängste ein- hergingen, wollten die Propagandi- sten nicht wahrhaben. Sie verlangten Geschlechtsverkehr in der Schule.

Heute ist davon keine Rede mehr.

Das, was die Generationen der sexuel- len Revolution als Lust, Rausch und Ekstase erlebten oder ersehnten, pro- blematisieren unsere jüngeren Patien- ten unter dem Aspekt der Geschlech- terdifferenz, der sexuellen Übergrif- figkeit, der Mißbrauchserfahrung, der Gewaltanwendung und der Infekti- onsgefahr infolge des Einbruchs der Krankheit AIDS. Diese Topoi herr- schen in der wissenschaftlichen Dis- kussion seit den 80er Jahren vor und bezeichnen in empirischen Studien die Themen, die Jugendliche und junge Erwachsene heute beschäftigen.

Empirische Studien

Geht es um Jugendsexualität, ist die deutsche Sexualwissenschaft em- pirisch in einer glücklichen Lage.

Denn seit mehr als drei Jahrzehnten wird vorrangig die Sexualität junger Leute studiert. So wurden beispiels- weise 11- bis 16jährige Schüler, 16- und 17jährige Jugendliche, 20- und 21jährige Arbeiter, 19- bis 30jährige Studenten sowie Homosexuelle und Paare mit sexuellen Problemen aus al- len Altersgruppen interviewt. Da eini- ge Studien in großen Abständen wie- derholt worden sind (1, 2), ist es mög- lich, gesicherte Aussagen zu den Ver- änderungen im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu machen (3).

Ende der 60er Jahre stellten wir fest, daß sich die damals 16- und 17jährigen sexuell so verhielten wie die 19- und 20jährigen zehn Jahre zu- vor. Das, was „sexuelle Revolution“

genannt wurde, bestand also hinsicht- lich des Verhaltens darin, etwa drei Jahre früher mit Verabredungen, Küs- sen, Petting und Geschlechtsverkehr zu beginnen. Die tradierten Wertvor- stellungen wurden jedoch nicht in Fra- ge gestellt. Liebe, Treue, Ehe und Fa- milie bestimmten weiterhin die mora- lischen Vorstellungen der jungen Leu- te. Sie interpretierten sie aber nicht so eng und vor allem nicht so männerzen- triert wie die Generationen davor.

Statt einer festen Beziehung vor der

Ehe plädierten sie für mehrere Liebes- beziehungen mit gegenseitiger Treue, so daß wir damals den Standard „pas- sagere Monogamie vor der Ehe“ dia- gnostizierten. Wichtig ist, daß damals viele Jugendliche Sexualität als lust- voll und beglückend erlebten und nicht mehr so stark wie ihre Eltern un- ter Ängsten und Schuldgefühlen lit- ten. Das war historisch etwas wirklich Neues, vor allem für Mädchen und junge Frauen. Neben der allgemeinen sexuellen Liberalisierung in der Ge- sellschaft hat sicher die Möglichkeit der hormonellen Kontrazeption zu dieser Entspannung beigetragen.

Enthemmt oder enthaltsam?

Wie sieht es nun heute aus? Ei- nerseits sehr ähnlich, andererseits recht different. Ähnlich, weil Jugend- liche heute mit Dating, Küssen, Pet- ting und Geschlechtsverkehr nicht früher beginnen und auch keine um- fangreicheren Erfahrungen machen als am Ende der 60er Jahre. Insofern hat sich die sexuelle „Revolution“

nicht fortgesetzt. Berichte in den Me- dien, nach denen die heutige Jugend entweder sexuell enthemmt sei oder sich von der Sexualität ganz verab- schiedet habe, gehen gleichermaßen an der Wirklichkeit vorbei.

Nach wie vor haben mit 16 oder 17 Jahren etwa drei Fünftel der Jun- gen und Mädchen schon einmal geni- tales Petting und etwa zwei Fünftel schon einmal Geschlechtsverkehr er- lebt. Auch die zentralen Wertvorstel- lungen haben sich nicht wesentlich verändert. Heute binden junge Män- ner die Sexualität sogar noch stärker an eine feste Liebesbeziehung mit Treue als vor einer Generation. Sie sind zwar noch nicht so romantisch wie junge Frauen, legen aber deutlich größeren Wert auf gegenseitiges Ver- stehen und Vertrauen. Häufiger als früher gestehen sie ihrer Freundin Gefühle, vor allem die der Liebe.

Große Angst haben Jugendliche vor dem Verlassenwerden, vielleicht weil sie als Nachkommen der sexuellen

„Revolutionäre“ erfahren mußten, daß Ehen weder heilig sind noch ewig.

Was aber hat sich geändert? Wie in der Gesellschaft insgesamt hat auch für

junge Leute die symbolische Bedeu- tung der Sexualität abgenommen. Sie ist heute selbstverständlicher, ja bana- ler, wird nicht mehr so stark mystisch überhöht. Weil sie nicht mehr die große Überschreitung ist, kann sie auch un- terbleiben. Junge Männer, die sexuell abstinent leben, können sich heute eher dazu bekennen, ohne von ihren Freun- den automatisch verhöhnt zu werden.

Junge Frauen geben heute seltener an, daß ihre sexuellen Erlebnisse lustvoll und befriedigend waren. Jungen erle- ben die Pubertät nicht mehr wie früher als den unbeherrschbaren Einbruch des Sexualtriebes. Auch später erleben sie ihre Sexualität nicht mehr als so dranghaft und unaufschiebbar. Dazu paßt, daß sie heute weniger Sexualpart- nerinnen haben als vor einer Generati- on. Von Promiskuität kann sowieso keine Rede sein. Nur Minderheiten ha- ben im Jugendalter mehr als einen bis maximal drei Sexualpartner. Gleichzei- tig sind Selbstbefriedigung und gleich- geschlechtliche Erlebnisse nicht mehr so bedeutungsvoll. Während der Rück- gang der Onanie nur gering ist, sind ho- mosexuelle Kontakte inzwischen eine Rarität. Früher machte beinahe jeder fünfte Junge derartige Erfahrungen, heute sind es nur noch zwei Prozent.

Verhältnis der Geschlechter

Für diese Veränderungen gibt es viele Gründe. Genannt habe ich be- reits die kulturelle Entmystifizierung der Sexualität. Sie ging in den letzten Jahrzehnten mit dem Abbau von Sexualverboten und der Egalisierung der Geschlechter einher. Heute wach- sen Mädchen und Jungen von der Kindheit an zusammen auf, wie sich an der allgemein durchgesetzten Koedu- kation ablesen läßt. Sexuelle Betäti- gung im Jugendalter, allein oder zu zweit, wird heute von vielen Eltern ak- zeptiert oder sogar befürwortet. Ge- schlechtsverkehr findet ganz überwie- gend nicht mehr heimlich an konspira- tiven Orten statt, sondern zu Hause in- mitten der Familie. Diese „Familiari- sierung“ der Jugendsexualität bringt natürlich neue Probleme im Sinne ei- ner fürsorglichen Belagerung mit sich.

Der Wegfall der Verbote und die Annäherung der Geschlechter haben der homophilen Jugendphase, die einst

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M E D I Z I N KURZBERICHT

Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 20, 15. Mai 1998 (45)

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von den Dichtern besungen worden ist, den Garaus gemacht. Seitdem die Ho- mosexualität als eine eigene Sexual- form öffentlich verhandelt wird, kommt die Befürchtung der Jungen hinzu, womöglich als „Schwuler“ ange- sehen zu werden. Daß die Homosexua- lität auch noch mit der Krankheit AIDS auf besonders enge Weise ver- bunden ist, schreckt gewiß zusätzlich ab. Insgesamt ist die Bedeutung von AIDS für die sexuelle Entwicklung junger Leute nicht ganz leicht einzu- schätzen. Nach dem, was sie bewußt im Kopf haben, scheint der Einfluß relativ gering zu sein. So kennen die meisten Jugendlichen die Übertragungswege des Erregers, und die allermeisten ver- halten sich so, daß es gar nicht zu einer Infektion kommen könnte. Wie es je- doch im Unbewußten aussieht, welche irrationalen Ängste dort vorhanden sind, wissen wir viel zu wenig.

Doch zurück zum Verhältnis der Geschlechter, das heute im Zentrum des Geschehens steht. Ging es früher um den Trieb des Mannes und den Or- gasmus der Frau, geht es heute darum, wie junge Frauen und Männer am be- sten miteinander zurechtkommen.

Wichtiger als der sexuelle Akt ist eine feste Beziehung, in der sich die Partner angenommen und aufgehoben fühlen.

Pointiert gesagt, ist das der historische Weg von der Wollust zur Wohllust. Be- schritten werden konnte er nur, weil Tabus und Geschlechterdifferenzen abgebaut worden sind und sich Jungen allmählich trauen, Gefühle zu zeigen und darüber mit ihrer Freundin zu sprechen, obgleich sie immer noch eher als Mädchen dazu erzogen wer- den, stark und hart zu sein. Das Heft aber haben die jungen Männer heute nicht mehr unwidersprochen in der Hand. Hier schlägt sich sehr konkret der jahrzehntelange Kampf vieler Frauen um Selbstbestimmung nieder.

Dafür ein Beispiel: Sehr viel häufiger als früher bestimmen heute junge Frauen, was in einer Beziehung ge- schieht und wie weit sexuell gegangen wird. Die sexuelle Initiative geht heute deutlich seltener vom Jungen und deutlich häufiger vom Mädchen aus.

Das gilt auch für den ersten Ge- schlechtsverkehr. Ende der 60er Jahre willigten beinahe 90 Prozent der Mädchen „dem Jungen zuliebe“ ein.

Heute sind es nicht einmal 30 Prozent.

Ängste und Sorgen

Recht vernünftig ist auch das Verhütungsverhalten der jungen Leu- te. Beim ersten Geschlechtsverkehr wenden heute rund 80 Prozent ein si- cheres Mittel an, etwa doppelt so viele wie vor einer Generation. Später kümmern sich beinahe alle um die Verhütung. Als Mittel nennen gut 70 Prozent der Mädchen und gut 50 Pro- zent der Jungen die „Pille“, fast 40 Prozent der Mädchen und fast 60 Pro- zent der Jungen das Kondom. Zur Akzeptanz des Kondoms bei Jugend- lichen haben sicher die AIDS-Prä- ventionskampagnen beigetragen, die dessen Anwendung als erwachsen und verantwortungsbewußt darstel- len. Auch die Kontrazeption ist heute eine Angelegenheit beider Ge- schlechter. Neben die Empfängnisver- hütung der Frauen ist die Zeugungs- verhütung der Männer getreten.

Obgleich das Verhütungsverhal- ten heute rational und wirksam ist, gehört die Angst vor einer ungewoll- ten Schwangerschaft nach wie vor zu den großen Belastungen der Jugend- zeit. Über 70 Prozent der jungen Frauen haben schon einmal Angst ge- habt, schwanger zu sein. Demgegen- über hat weniger als ein Zehntel der Jugendlichen schon einmal befürch- tet, sich auf sexuellem Weg mit dem AIDS-Erreger infiziert zu haben.

Neben der Angst vor dem Ende einer Beziehung und vor einer unge- wollten Schwangerschaft belasten se- xuelle Übergriffe das Liebesleben der Heranwachsenden und damit das Ver- hältnis der Geschlechter zueinander.

Zwei Drittel der Mädchen im Alter von 16 oder 17 Jahren geben an, min- destens einmal sexuell attackiert wor- den zu sein. Bei den Jungen ist es jeder vierte. Knapp ein Zehntel der Mädchen wurde Opfer eines schweren Übergriffs wie eines erzwungenen Ge- schlechtsverkehrs. Mädchen werden ausschließlich von Männern attackiert, Jungen ganz überwiegend. Im Ge- gensatz zu früher sind junge Leute heu- te für das Problem des sexuellen Mißbrauchs durch die öffentlichen Diskurse stark sensibilisiert. Jedenfalls ist das im Westen Deutschlands so, auf den ich mich hier konzentriert habe.

Im Osten ist vieles – noch? – anders.

Beispielsweise kommt es deutlich sel-

tener zu sexuellen Übergriffen, sind Mädchen aus dem Osten häufiger koi- tuserfahren als Mädchen aus dem We- sten, leben Jungen aus dem Westen häufiger enthaltsam als Jungen aus dem Osten.

Paraden der Selbstliebe

Doch wie geht es nach der Ju- gendphase weiter? Statistisch gesehen werden die jungen Frauen bei der Heirat 27 oder 28, die Männer fast 30 Jahre alt sein. Beinahe jede dritte Ehe wird geschieden werden. Immer mehr Männer und Frauen werden unver- heiratet zusammenleben oder allein bleiben. Im Durchschnitt wird eine Frau ein bis zwei Kinder bekommen, statistisch: eineinhalb. Jede dritte Frau wird kinderlos bleiben. Nach dem Übergang vom „ganzen Haus“

vergangener Jahrhunderte zur Klein- familie bewegen wir uns der Tendenz nach auf eine Kleinstfamilie zu, die nur noch aus einer oder zwei Perso- nen besteht. In den Großstädten sind die Familien schon drastisch ge- schrumpft, hat die Herkunftsfamilie erheblich an symbolischer und realer Bedeutung verloren. Um so wichtiger ist es für die Heranwachsenden, sich durch einen bestimmten Lifestyle subkulturell zu vernetzen.

Die oft undramatische Bezie- hungsliebe wird immer deutlicher von dramatischen Events der Selbstinsze- nierung und Selbstliebe flankiert. Die Beziehungsdisziplin wird durch allerlei Aufputschungen und Drapierungen erträglich gemacht. All das kann am besten an den love parades und raver parties der heutigen Jugend abgelesen werden, die ebenso sexuell und ero- tisch wie nonsexuell und narzißtisch sind. Alle, die teilnehmen, sind indivi- duell und different, gleichzeitig aber in Gemeinschaft. Alle fallen aus dem Rahmen und sind gerade dadurch ein- gebunden und formiert. Aufgebrezelt wird die Verschmocktheit des Alltags- lebens bis zum Zusammenbruch ge- sampled abgefeiert – um es in der Spra- che der Jugend zu sagen. Das ist eben- so schrill und bunt wie realistisch.

Denn in der Gesellschaft haben die jungen Leute nichts mehr zu la- chen. Dort ist nur noch die Rede von Arbeitslosigkeit, Fremdenfeindlich-

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M E D I Z I N KURZBERICHT

(46) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 20, 15. Mai 1998

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keit, Drogen und Gewalt, wenn es um die Generation geht, die unsere Zu- kunft ist. Im Nachkriegsdeutschland ist noch keiner nachgewachsenen Gene- ration so schonungslos klargemacht worden, daß sie zu großen Teilen we- der kulturell noch gesellschaftlich be- nötigt wird. Das Merkwürdigste aber ist: Unsere Gesellschaft frönt dem Fe- tisch Jugendlichkeit, doch die Jugend selbst wird mißachtet, ist eine beinahe vergessene Generation. Sie steht nicht im Zentrum des gesellschaftlichen Ge- schehens, sondern an dessen Rand.

Der Jugendfetisch verlangt von allen, immer neugierig, frisch, glatt, dyna- misch, gesund und zukunftsorientiert zu sein. Der jungen Generation aber, die die Zukunft eigentlich gestalten sollte, wird von Erwachsenen zu ver- stehen gegeben, sie sei ein Problem, ei- ne Last, bereite mehr Sorgen als Hoff-

nung. Wirklich ernstgenommen und umworben werden Jugendliche nur als Konsumenten.

Ein nennenswerter Teil der El- tern- und Großelterngeneration lebt spätestens seit der sexuellen Revoluti- on der 60er Jahre in dem Wahn, Jugendlichkeit und Durchblick ge- pachtet zu haben. Vor allem Männer dieser Generationen, die es zu etwas gebracht haben, können nicht alt wer- den. Mit 60 Jahren benehmen sich vie- le noch so, als seien sie gerade 30 ge- worden. Es müßte Erwachsenen doch sehr zu denken geben, daß sie trotz des herrschenden Jugendfetischs nicht mit der Jugend tauschen wür- den. Nicht einmal die, die schon mit ihrem verwelkten Leib konfrontiert sind, möchten heute noch einmal von vorne anfangen. Arme Jugend. Ist sie nicht angesichts dieser Lage erstaun-

lich sanft und diszipliniert? Müßte sie in dieser Lage nicht noch sehr viel här- ter und schriller sein?

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-1240–1243 [Heft 20]

Literatur

1. Schmidt G (Hg.): Jugendsexualität. Stutt- gart: Enke 1993.

2. Sigusch V, Schmidt G: Jugendsexualität.

Stuttgart: Enke 1973.

3. Sigusch V (Hg.): Kultureller Wandel der Se- xualität. In: Ders (Hg.): Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 2. Auflage, Stuttgart und New York: Thieme, 1997.

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. med. Volkmar Sigusch Institut für Sexualwissenschaft Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität

60590 Frankfurt am Main

A-1243

M E D I Z I N KURZBERICHT/FÜR SIE REFERIERT

Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 20, 15. Mai 1998 (47) In einer Reihe epidemiologi-

scher Studien war ein positiver Ef- fekt des Fischkonsums auf das Risiko einer koronaren Herzkrankheit dis- kutiert worden. Die Autoren werte- ten die Daten von 1 822 Männern im Alter zwischen 40 und 55 Jahren aus, die primär keine kardiovaskulären Erkrankungen aufwiesen und bei de- nen der Fischkonsum analysiert wur- de.

Dabei wurden vier Gruppen ge- bildet: Personen, die keinen Fisch

aßen, beziehungsweise 1 bis 17 g/Tag, 18 bis 34 g/Tag und über 35 g/Tag zu sich nahmen. Die Beobachtungszeit erstreckte sich über 30 Jahre, so daß die Daten von 47 153 Personen/Jah- ren analysiert werden konnten. Insge- samt traten 430 Todesfälle an korona- rer Herzkrankheit auf. Dabei zeigte sich: Je mehr Fisch konsumiert wurde, desto niedriger lag das Risiko, einen Herzinfarkt zu entwickeln. w Daviglus ML, Stamler J, Orenica AJ et al.: Fish consumption and the 30-year risk of fatal myocardial infarction. N Engl J Med 1997; 336: 1046–1053.

Department of Preventive Medicine, Northwestern University, Medical School, Chicago, IL 60611, USA.

Fischkonsum senkt Herzinfarktrisiko

Zur Remissionserhaltung der Colitis ulcerosa wird seit vielen Jah- ren die Aminosalicylsäure 5-ASA ein- gesetzt.

Die Autoren vom Evangelischen Krankenhaus Köln-Kalk führten eine Vergleichsstudie zwischen dreimal 500 Milligramm Mesalazin und 200 Milligramm E. coli Nissle (Mutaflor) über einen Zeitraum von 12 Wochen durch. An der Studie nahmen 120 Pa- tienten mit inaktiver Colitis ulcerosa

teil, und es wurde die Remissionser- haltung analysiert. Signifikante Un- terschiede ergaben sich zwischen bei- den Präparaten nicht, die Rezidivrate lag unter Mesalazin bei 11,3 Prozent und unter Mutaflor bei 16,0 Prozent.

Ernste Nebenwirkungen wurden un- ter beiden Therapieformen nicht be-

obachtet. w

Kruis W, Schütz E, Fric P, Fixa B, Jud- maier G, Stolte M: Double-blind compa- rison of an oral Escherichia coli prepara- tion and mesalazine in maintaining re- mission of ulcerative colitis. Aliment Pharmacol Ther 1997; 11: 853–858.

Evangelisches Krankenhaus Köln-Kalk, Buchforststraße 2, 51103 Köln.

Mutaflor und 5-ASA gleichwertig

Bei der akuten Ulkusblutung hat sich die endoskopische Untersprit- zung mit Suprarenin als einfaches, preisgünstiges und sicheres Verfah- ren bewährt. Die Autoren aus Patras legen ihre Ergebnisse der endoskopi- schen Unterspritzung bei 1 028 Pati- enten vor, die in den Jahren 1991 bis 1996 wegen einer Ulkusblutung sta- tionär aufgenommen wurden. Diese Daten wurden mit einem historischen Kollektiv von 1 203 Patienten der Jahre 1987 bis 1991 verglichen. Durch die Unterspritzung ließen sich die Zahl der erforderlichen Bluttransfu- sionen, die Hospitalisationsdauer, die Anzahl der operativen Eingriffe und die Letalität bei den Patienten, bei denen während der Notfall-Endosko- pie eine aktive Blutung oder ein sicht- barer Gefäßstumpf vorlagen, signifi- kant senken. Komplikationen der Unterspritzungs-Therapie wurden

nicht beobachtet. w

Thomopoulos KC, Nikolopoulou VN, Katsakoulis EC et al.: The effect of en- doscopic injection therapy on the clinical outcome of patients with benign peptic ulcer bleeding. Scand J Gastroenterol 1997; 32: 212–216.

University of Patras, Medical School, Box 1045, 26110 Patras, Griechenland.

Ulkusblutung:

unterspritzen

Referenzen

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