A3162 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 47⏐⏐24. November 2006
P O L I T I K
D
ie EU-Kommission knüpft an die im Januar beginnende deutsche Ratspräsidentschaft hohe Erwartungen – nicht nur im Hinblick auf Fortschritte in der Verfassungsde- batte. Auch mit der Liberalisierung des europäischen Gesundheitsmark- tes will man unter deutscher Ägide ein großes Stück vorankommen.Zurzeit lotet die Behörde noch aus, wie weit sie mit einer Gesetzge- bung gehen kann, die restriktive Hür- den bei der Erbringung medizini- scher Dienstleistungen abbauen und die Patientenmobilität fördern soll, ohne die nationalen Kompetenzen für die Organisation und Finanzie- rung der Gesundheitssysteme zu be- schneiden. „Die Gesundheitsbranche zu regulieren ist eines der schwierig- sten Vorhaben, die wir uns für das kommende Jahr vorgenommen ha- ben“, sagt Andrzej Rys, Direktor der Abteilung Öffentliche Gesundheit bei der EU-Kommission.
Überfällige Rechtssicherheit
Ein zweites Mal wollen sich die Brüsseler Beamten jedenfalls keine blutige Nase holen. Zu gut sind ih- nen noch die hitzigen Debatten um die Dienstleistungsrichtlinie in Erin- nerung, die unter anderem damit en- deten, dass die sozialen und Ge- sundheitsdienste von den Vorschrif- ten ausgenommen wurden.Diesmal will die Kommission be- hutsamer vorgehen. Nach einem in- tensiven Austausch mit den Regie- rungen will Gesundheitskommissar Markos Kyprianou seine Pläne für eine Richtlinie Mitte April zunächst den europäischen Gesundheitsminis- tern auf ihrem informellen Treffen in Aachen vortragen, um den Ge- setzentwurf dann voraussichtlich im Mai offiziell zu präsentieren.
„Das Gesetz soll sich aber nicht darauf beschränken, die längst über-
fällige Rechtssicherheit für die grenzüberschreitende Kostenerstat- tung herzustellen“, betont Rys. Ger- ne würde die Kommission zum Bei- spiel auch regeln, welche Informa- tionen über Leistungsangebote den Patienten zur Verfügung gestellt wer- den müssen, welche Behörden die Aufsicht über grenzüberschreitende Gesundheitsdienstleistungen haben sollen, wer die Einhaltung von Qualitätsstandards überwachen soll und wer haftet, wenn nach einer Auslandsbehandlung Folgeschäden auftreten.
Gleichwohl ist die Regelung der Kostenerstattung eines der zentralen Anliegen der Brüsseler Behörde.
Denn nach Aussage einer zustän- digen Kommissionsbeamtin schert sich nach wie vor rund die Hälfte der EU-Länder nicht um die in den letz- ten Jahren vom Europäischen Ge- richtshof getroffenen Entscheidun- gen zur Kostenerstattung nach Be- handlungen im EU-Ausland. Gegen zehn Länder läuft deshalb bereits ein Vertragsverletzungsverfahren.
„So kann es nicht weitergehen“, meint auch der liberale Europaabge- ordnete Dr. Jorgo Chatzimarkakis.
Schließlich nehme der Gesundheits- tourismus zu. Zudem entdeckten im- mer mehr Kostenträger die finan- ziellen Vorteile einer Auslandsbe- handlung. So schickt beispielsweise das staatliche britische Gesundheits- system Patienten mit grauem Star in Privatkliniken in die Türkei, weil die Operationen dort erheblich günsti- ger sind als in Großbritannien. Die größte niederländische Krankenkas- se, die VGZ, wiederum nutzt freie Kapazitäten in den Städtischen Kli- niken Bielefeld, um ihren Versicher- ten dort eine neue Hüfte einsetzen zu lassen, inklusive anschließender Re- ha-Maßnahmen in Bad Oeynhausen.
Damit schlägt die VGZ zwei Fliegen
mit einer Klappe: Sie umgeht die üb- lichen Wartezeiten und spart Kosten.
Chatzimarkakis würde aufgrund dieser sich abzeichnenden Trends Gesundheit gerne zu einem „Ver- kaufsschlager“ in Europa machen – auch um Wachstum und Beschäfti- gung sowie den Wettbewerb zwi- schen privat und staatlich finanzier- ten Gesundheitsmärkten anzukur- beln. Gelder zum Ausbau grenz- überschreitender medizinischer In- frastrukturen könnten die Länder seiner Meinung nach aus dem eu- ropäischen Fonds für regionale Ent- wicklung abschöpfen.
Einigkeit bei den Ministern
Bei Gesundheitskommissar Kypria- nou stößt er damit auf offene Ohren.Auch er sieht in einer verstärkten grenzüberschreitenden Zusammen- arbeit zum Beispiel zwischen medi- zinischen oder Forschungseinrich- tungen ein großes Potenzial, um den EU-Gesundheitsmarkt auszu- bauen. Unterstützung von Unter- nehmenskommissar Günter Ver- heugen und dem bei der Kommissi- on für Beschäftigung zuständigen Tschechen Vladimar Spidla dürfte dem liberalen Abgeordneten eben- falls gewiss sein.
Offiziell bekunden bislang sogar die EU-Länder ihre Zustimmung zur Initiative der Kommission. „Die europäischen Gesundheitsminister sind sich darüber einig, dass sie ein Gesetz zur Liberalisierung der Gesundheitsdienstleistungen unter Berücksichtigung der Besonderhei- ten der Branche flott durch den Rat bringen wollen“, bestätigt der Ka- binettschef des österreichischen Ge- sundheitsministeriums. Ob es bei dieser Einigkeit bleibt, wenn es dar- um geht, die Details zu verhandeln,
wird sich zeigen. n
Petra Spielberg