A 2324 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 47|
26. November 2010A
nja B.* arbeitet wieder, zwar„nur“ Teilzeit, auf 400-Euro- Basis. Aber die Arbeit tut ihr gut.
„Die Kolleginnen sind nett. Und das Arbeiten lenkt mich von meinen Problemen ab“, sagt die 39-jährige Verkäuferin. Davon hat Anja B.
reichlich. Sie hat früh zwei Kinder bekommen, war jahrelang nicht be- rufstätig, weil der Ehemann das so wollte. Der trank und hat sie miss- handelt. Sie hat Jahre gebraucht, um sich von ihm zu trennen, und ist darüber psychisch krank geworden.
Lebensläufe wie der von Anja B.
sind für die Fallmanager bei der ARGE Mayen-Koblenz nicht au- ßergewöhnlich. Außergewöhnlich ist höchstens, dass Anja B. wieder ar- beitet. Denn häufig brächten gute und teuere Maßnahmen zur Wieder- eingliederung in den Beruf nicht den gewünschten Erfolg, erklärt Rolf Koch, Geschäftsführer der ARGE Mayen-Koblenz. Zu dieser Arbeitsgemeinschaft haben sich im Zuge der Hartz-IV-Reformen im Jahr 2005 die Agenturen für Arbeit und der Landkreis zusammengeschlossen, um diejenigen Menschen bei der be- ruflichen Integration zu unterstüt- zen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind. Einen Grund für die Vermitt - lungspro bleme sieht Koch darin, dass die ARGE viele Menschen mit psychischen Belastungen betreut.
Dem Geschäftsführer war schnell klar, dass man einen neuen Ansatz brauchte, der Aspekte der Gesund- heitsförderung und der Arbeits- marktintegration kombiniert. Denn, so die Ausgangsthese, psychische Beeinträchtigungen und Arbeitslo- sigkeit beeinflussen sich gegensei- tig. Mit dem Institut für Resilienz und Recovery (IRR) in Koblenz fand man einen Kooperations - partner, der psychologischen und
psychiatrischen Sachverstand in die Arbeit mit Hartz-IV-Beziehern ein- bringen konnte. Eine erste positive Bilanz ihrer inzwischen zweijähri- gen Zusammenarbeit zogen die Projektpartner Anfang November in Vallendar.
Nach dem Motivations-Volitions- Belastungsfähigkeits-Konzept (MVB) versuchen Fallmanager der ARGE,
Klienten zu einem ausführlichen Gespräch mit einem Psychologen („Coach“) des IRR zu motivieren, wenn klassische Qualifizierungs- maßnahmen wie Bewerbungstrai- nings nicht weiterhelfen. Erörtert werden in diesem ersten Gespräch sowohl erwerbsrelevante Themen als auch für die Gesundheitsför - derung wichtige private Aspekte.
Ausgehend von dem MVB-Bericht suchen Coach, Klient und Fallma - nager dann nach pragmatischen Interventionsmöglichkeiten. Außer- dem haben die Klienten die Mög- lichkeit, an Einzel- und Gruppen- coachings teilzunehmen. Neu ist bei dem Konzept aus Sicht des IRR der umfassende Ansatz: Nicht die Förderung erwerbsrelevanter Fä- higkeiten steht im Vordergrund,
sondern Empowerment (Selbster- mächtigung) und Resilienz (psy- chische Widerstandsfähigkeit ange- sichts von Problemen).
Anja B. hat davon profitiert. Sie nimmt am Gruppencoaching von IRR-Mitarbeiterin Erika Sander teil und betreibt inzwischen mit drei weiteren Mitgliedern den Aufbau einer Selbsthilfegruppe, darunter Sabine S.* (41). Sie sagt: „Das Coaching ist eine ganz tolle Sache.
Das kann ich nur jedem empfeh- len.“ Wichtig sind für Sabine S. die therapeutische Unterstützung und
„diese positive Einstellung, dass es weitergeht“, nicht mehr allein zu sein mit den Problemen.
„Was wir hier anbieten, ist eine Art psychischer Selbstverteidigungs- kurs“, erklärt Therapeutin Sander.
Das Coaching ziele in erster Linie dar auf ab, die Resilienzfähigkeit und das Selbstwertgefühl der Teilnehmer zu stärken. „Wenn es den Klienten nicht gelingt, ihre Opferrolle zu ver- lassen, gibt es keine Weiterentwick- lung. Sie werden dann auch keine Verantwortung übernehmen können“, so Sander. Im Idealfall beginne die Gruppe irgendwann, sich selbst zu coachen, eigene Kompetenzen zu er- kennen und weiterzugeben. Die The- rapeutin hat die Gründung der Selbst- hilfegruppe gefördert und unterstützt.
„Eine solche Gruppe kann auch dabei helfen, Wartezeiten auf einen The - rapieplatz zu überbrücken“. Denn die Vermittlung psychisch kranker Klienten in ambulante Einrichtun- gen gestalte sich äußerst schwierig.
Das Konzept hat auch das rhein- land-pfälzische Gesundheitsminis- terium überzeugt, das neben dem Europäischen Sozialfonds und der ARGE Mayen-Koblenz das Projekt finanziert. „Der Gesundheitszu- stand ist einer der wichtigsten In - dikatoren für eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt“, betont Ministe- riumsvertreterin Roswitha Augel in Vallendar. Angesichts der Sparvor- gaben der Bundesregierung gibt es Finanzzusagen zurzeit nur für das nächste Jahr. ARGE-Geschäftsfüh- rer Koch will jetzt mit den Kran- kenkassen über eine Kostenbeteili- gung bei der Behandlung psychisch kranker Klienten verhandeln. ■
Heike Korzilius
LANGZEITARBEITSLOSE
Zurück in die Zukunft
Wieder selbstbestimmt am (Erwerbs-)Leben teilnehmen – für viele Hartz-IV-Bezieher bleibt dieses Ziel unerreichbar. Denn psychische Belastungen und Arbeitslosigkeit beeinflussen sich gegenseitig.
Warten auf eine zweite Chance: In Deutschland leben zurzeit knapp eine Million Langzeitar- beitslose von Ar- beitslosengeld II (Hartz IV).
Foto: Keystone
*Namen von der Redaktion geändert