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Archiv "Die Freigabe der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“" (16.02.1989)

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Obwohl der Begriff Euthana- sie schon in der Antike bekannt war — hier bedeutete er einen gu- ten, ehrenhaften Tod in Erfüllung des Lebens —, fand er in die ärzt- liche Diskussion erst um die Wen- de vom 18. zum 19. Jahrhundert Eingang und wurde für fünfzig Jahre zu einem häufig diskutierten Thema. Den Schriften ist vieles ge- meinsam: Euthanasie bedeutet stets Hilfe beim Sterben, Sterbe- begleitung. Euthanasie wird als ärztliche Aufgabe beschrieben, dem Sterbenden seinen Tod so leicht wie möglich zu machen. Da-

I

m Jahr 1895 erschien in Göttin- gen das Buch von Adolf Jost mit dem Titel „Das Recht auf den Tod", das der Autor im Unter- titel eine „sociale Studie" nannte.

Schon in der Einleitung stellt Jost die entscheidende Frage: „Giebt es ein Recht auf den Tod?, das heißt, giebt es Fälle, in welchen der Tod ei- nes Individuums sowohl für dieses selbst als auch für die menschliche Gesellschaft überhaupt wünschens- werth ist?"(2) Entscheidendes Kri- terium für die Beantwortung dieser Frage ist nach Jost der Wert des Menschenlebens, der sich aus zwei Faktoren zusammensetzt, erstens aus dem Wert des Lebens für den betreffenden Menschen und zwei- tens aus dem Nutzen und Schaden, den das Individuum für seine Mit- menschen und die Gesellschaft dar- stellt. Der so ermittelte Wert kann nicht nur bis auf Null sinken, son-

zu gehören gute Pflege, Zuwen- dung, Ruhe im Umgang mit dem Todkranken, behutsamer Einsatz von Medikamenten. Eine Verkür- zung des Lebens durch ärztliche Maßnahmen wird stets abgelehnt, selbst dann, wenn der Patient um eine solche bittet (1).*)

Erst am Ende des 19. Jahrhun- derts wurde die Verfügbarkeit des menschlichen Lebens unter dem Einfluß darwinistischer Ideen in al- ler Offenheit diskutiert. Diese Dis- kussion fand stets unter der Über- schrift „Fortschritt und echte Hu- manität" statt.

dem er kann sogar negativ werden, zum Unwert werden. In einem sol- chen Fall spricht Jost nicht nur dem Kranken, sondern auch dem Staat das Recht zu, ein solches Leben zu beenden.

„Wir räumen dem Staate . . . in gewissen Fällen das Recht ein, das Leben einzelner Individuen, oft ge- gen deren Willen, zu vernichten, wenn es das allgemeine Interesse verlangt. Wenn nun aber das allge- meine Interesse mit dem Interesse des Individuums zusammenfällt, wie es in unserer Sache der Fall ist, dann haben doch Staat und Individuum zusammen nur um so mehr das Recht, den Tod zu beschließen. Der Staat kann dann doch sagen, „Mein

*) Die in Klammern gesetzten Zahlen bezie- hen sich auf die Anmerkungen beim Sonder- druck, der bei der Redaktion oder beim Ver- fasser angefordert werden kann.

Interesse und das der betreffenden Person fordern gleichmäßig bei un- heilbaren Leiden den raschen und schmerzlosen Tod, und ich überlasse es daher den Patienten, wenn etwa Krebs diagnostiziert ist, sich für Tod oder Leben zu entscheiden! Bei gei- stig Kranken geht dann die Verwal- tung dieses Rechts wieder auf den Staat zurück und es genügt die Dia- gnose auf Unheilbarkeit an und für sich, die Tötung zu vollziehen. "(3)

„Helfen kann hier nur die aus- drückliche Anerkennung des Rech- tes auf den Tod, in unseren Fällen (der psychisch Kranken R. W.) sei- tens der Gesellschaft und des Staa- tes. "(4)

In der praktischen Konsequenz blieb Jost hinter seinen theoreti- schen Forderungen zurück. Er plä- dierte für die Freigabe des Selbst- mordes und die Freigabe der Tötung auf Verlangen.

Obwohl sich in dieser Zeit die Vertreter des Sozialdarwinismus Alexander Tille, Otto Amon, Alfred Ploetz und Wilhelm Schallmeyer ausführlich mit dem Problem der Aufartung auseinandersetzten, griff keiner von ihnen das von Jost ange- sprochene Problem auf. Nur Ernst Haeckel hat sich in den „Lebens- wundern" dezidiert geäußert. Er versucht das neue Verhältnis des Einzelnen und der Gesellschaft zum Sterben zu beschreiben. Jeder Mensch habe das Recht, sein Leben, das nur noch Qual bedeute, mit dem Tod zu versöhnen. Nicht Selbst- mord, sondern Selbsterlösung solle man ein solches Handeln nennen.

Die moderne Zeit habe die „Kultur- leiden" in erschreckendem Maße anschwellen lassen. Aufgabe des Arztes sei es, „den schweren Leiden unserer Mitmenschen ein Ende zu bereiten, wenn schwere Krankheit ohne Hoffnung auf Besserung ihnen die Existenz unerträglich macht, und wenn sie selbst um Erlösung vom Übel bitten. "(5) Die ärztliche Ethik mit ihrer Forderung nach uneinge- schränkter Lebenserhaltung stehe der neuen monistischen Moral mit ihrer Forderung nach biologischer Auslese entgegen. So sei deshalb die Tötung neugeborener, verkrüppel- ter Kinder ebenso wenig unter den Begriff Mord zu fassen, wie die Tö-

Medizin im Nationalsozialismus (VIII)

Die Freigabe der Vernichtung

„lebensunwerten Lebens"

Euthanasie - Wandlung eines Begriffes

Rolf Winau

Dt. Ärztebl. 86, Heft 7, 16. Februar 1989 (23) A-371

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tung von Geisteskranken; ihre Ver- wahrung bedeute Schmerz und Leid für die Kranken, Trauer und Sorge für die Familien, Verlust an Privat- und Staatsvermögen.

In den Jahren 1913/14 ist in der Zeitschrift „Das monistische Jahr- hundert" des Deutschen Monisten- bundes eine lebhafte Diskussion um das Euthanasieproblem entbrannt.

Ausgelöst wurde sie durch einen Beitrag von Roland Gerkan, der, selbst schwerkrank, einen eigenen Gesetzentwurf zur Diskussion stell- te. Engagiert und mit bitterer Ironie stritt er für die Freigabe des Gna- dentodes, der Tötung auf Verlan- gen, ein Recht, das jedem Schwer- kranken zustehen sollte. Durch Ge- richtsbeschluß solle die Euthanasie erlaubt werden, wenn dies der Wille des Kranken sei (6).

War es bei der Diskussion um die Euthanasie vor dem Ersten Weltkrieg vor allem um die Freigabe der Tötung auf Verlangen gegangen, so erreichte sie zu Beginn der 20er Jahre durch die Schrift von Karl Bin- ding und Alfred Hoche „Die Freiga- be der Vernichtung lebensunwerten Lebens" eine neue Dimension (7).

Diese Schrift bildet die Grundlage für alles, was folgte und nur so fol- gen konnte. Eine kurze Analyse ist deshalb notwendig (8). Die Schrift besteht aus zwei getrennten Beiträ- gen. Im ersten Teil, der bereits 1913 geschrieben ist, legt der angesehene Leipziger Jurist Karl Binding seine Überlegungen zur Euthanasie vor, die im zweiten Teil von dem Frei- burger Psychiater Alfred Hoche kommentierend ergänzt werden.

Bindings Gedankengänge stel- len sich kurz zusammengefaßt wie folgt dar: Der Mensch ist der gebo- rene Souverän über sein Leben. Die Tötung von eigener Hand ist weder eine widerrechtliche Handlung, qua- litativ verwandt dem Mord und Tot- schlag, noch ist sie die Ausnutzung eines Tötungsrechts, sondern eine rechtlich unverbotene Tat. Von die- ser breit dargestellten Basis aus ent-

wickelt Binding seine Vorstellungen von der Freigabe der Euthanasie „in richtiger Begrenzung".

Hier diskutiert er die Situatio- nen eines Sterbenskranken, den ein Arzt mit stark wirkenden Medika- menten behandelt und ihn so von seinem „Leiden erlöst", indem er die bis dahin wirkende Todesursa- che durch eine andere ersetzt. Bin- ding ist der Meinung, das Gesetz verbiete ein solches Tun nicht, son- dern versage ihm nur die ausdrück- liche Erlaubnis (9). Eine solche Handlung bedürfe nicht einmal der Zustimmung des Kranken; nur ge- gen seinen ausdrücklichen Willen sei sie zu unterlassen.

Von hier aus schreitet Binding weiter zur Situation des subjektiv unerträglich gewordenen Daseins, zitiert das Schlagwort vom Recht auf den Tod und fragt, ob es Menschen- leben gebe, „die so stark die Eigen- schaft des Rechtsgutes eingebüßt ha- ben, daß ihre Fortdauer für die Le- bensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren ha- ben". (10)

Und diese Frage bejaht er ohne Umschweife. Ein summarischer Überblick läßt ihn die „ganz nutzlos vergeudete Arbeitskraft, Geduld und Vermögensaufwendung in Ir- renanstalten" beklagen, ebenso wie den grellen Mißklang zwischen Op- fern teuerster Vitalität im Kriege und der unfruchtbaren Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern nega- tiv zu wertender Existenzen (11).

Und es ist für ihn keine Frage, daß die Tötung solcher Geschöpfe nicht nur diese selbst, sondern auch Staat und Allgemeinheit entlastet. Die Rechtsprechung habe nicht die Auf- gabe, das Leben folgender Gruppen zu schützen:

• „Die zufolge Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen, die in vollem Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlö- sung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben ha- ben." (12)

• Die unheilbar Blödsinnigen, die keinen eigenen Lebenswillen ha- ben, „die das furchtbare Gegenbild echter Menschen" sind. (13)

• Die „geistig gesunden Per- sönlichkeiten, die durch irgendein

Ereignis bewußtlos geworden sind und die, wenn sie aus ihrer Bewußt- losigkeit noch einmal erwachen soll- ten, zu einem namenlosen Elend er- wachen würden." (14)

In all diesen Fällen sieht Bin- ding kein Hindernis für eine Tötung

— weder aus sozialer, ethischer, reli- giöser noch rechtlicher Perspektive.

Nach diesen hier sehr verkürzt wiedergegebenen theoretischen Er- örterungen geht Binding die Frage der praktischen Durchführung der Euthanasie an. Er will eine Staatsbe- hörde zur Entscheidung schaffen, ein Gutachtergremium, aus einem Allgemeinarzt, einem Psychiater und einem Juristen bestehend. An- tragsberechtigt an diese Behörde soll nur jeweilig der Privatmann sein, ihm steht auch die Durchfüh- rung zu. Über einen eventuellen Tö- tungsvollzug ist ein Protokoll anzu- fertigen.

Wie leichtfertig Binding mit dem Problem einer Fehlentschei- dung umgeht, geht aus den Sätzen hervor: „Das Gute und das Ver- nünftige müssen geschehen, trotz al- len Irrtumsrisikos . . . Nimmt man aber auch den Irrtum einmal als be- wiesen an, so zählt die Menschheit jetzt ein Leben weniger. Aber die Menschheit verliert infolge Irrtums so viele Angehörige, daß einer mehr oder weniger wirklich kaum in die Waagschale fällt." (15)

In seinen kommentierenden Ausführungen setzt sich Alfred Ho- che zunächst mit der Frage einer verbindlichen ärztlichen Ethik aus- einander. Er verneint deren Exi- stenz und weist nach, wie vielschich- tig das Problem ist; im ärztlichen Alltag kollidierten immer wieder verschiedene sittliche Forderungen miteinander. Hoche will damit die Relativität eines ärztlichen Werteka- nons herausstellen, um so die Ak- zeptanz seines Lösungsvorschlages bei seinen Kollegen zu erhöhen.

Die von Binding gestellte Frage nach dem (eventuellen) Unwert menschlichen Lebens beantwortet er ohne Umschweife mit ja; Bindings Definition der für die Euthanasie in Frage kommenden Personenkreise hält er für richtig, doch differenziert er den Begriff des Lebenswertes und darüber hinaus den der „geistig to-

ü Die Diskussion

in der Weimarer Zeit

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ten Kreaturen" nach dem Zeitpunkt des Eintritts der Erkrankung, nach dem Grad geistiger Öde, nach den Beziehungen zur Umwelt und nach der wirtschaftlichen und morali- schen Bürde für die Umgebung (16).

Zu allen Zeiten habe es einen Konflikt zwischen dem subjektiven Recht auf Leben auch solcher Men- schen und der objektiven Zweckmä- ßigkeit gegeben, und die Lösung dieses Konfliktes sei ein Gradmesser für die jeweils erreichte Humanität, erklärt Hoche. Für die Lösung des Konfliktes von Bedeutung sei auch die nationale Lage, die mit darüber entscheide, ob sich ein Mitschleppen von „Defektmenschen" lohne (17).

Hoche führt als einer der ersten die konkret errechnete Belastung durch die Unterbringung der Kran- ken in die Diskussion ein. Eine überschlägige Rechnung läßt ihn das ungeheure Kapital beklagen, das in Form von Lebensmitteln, Kleidung, Heizung dem Staatsvermögen verlo- rengehe, den Einsatz von Einrich- tungen und Pflegern: „Es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen Menschenhülsen dahinal- tern." (18) Wie auf einer gefahrvol- len Expedition müsse man sich von Halb-, Viertel- und Achtelexisten- zen trennen; solle das ganze Unter- nehmen nicht scheitern, müsse man sie abstoßen.

Besitzen solche durch Blödsinn Verödeten überhaupt ein Recht auf Dasein, so fragt er und antwortet ohne Zögern: Nein, sie vermögen keinen subjektiven Anspruch auf Existenz zu erheben, weil ihnen alle Qualitäten eines Subjekts abgehen.

Die Tilgung solcher Geschöpfe habe mit Tötung im strafrechtlichen Sinne nichts zu tun, da ein Lebenswille ja nicht überwunden werden müsse. Er hofft darauf, daß die Menschen ei- nes Tages zu der Auffassung heran- reifen, daß „die Beseitigung der gei- stig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, kei- ne gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt dar- stellt." (19)

Obwohl in der Schrift von Bin- ding und Hoche der Begriff „Eutha- nasie" kein einziges Mal gebraucht wird, wird das beschriebene Vorge-

hen von den Zeitgenossen mit die- sem Begriff belegt. An der ausführ- lichen Diskussion, die in der Weima- rer Zeit geführt wurde, beteiligten sich Ärzte und Juristen, Theologen und Publizisten (20). Der Begriff

„Euthanasie" hat in dieser Diskus- sion eine neue Qualität erreicht. Mit

Die Ermordung

psychisch Kranker im Nationalsozialismus

Zu Beginn der nationalsoziali- stischen Herrschaft konzentrierten sich die eugenischen Maßnahmen zunächst auf rassenhygienische Schulung und auf die Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erb- kranken Nachwuchses, gegen das Widerstand zunächst nicht sichtbar wurde in der Flut der Propaganda in Versammlungen, Zeitungen, Zeit- schriften und im Film. Es ist auffäl- lig, daß in dieser geballten Propa- gandaflut nie ein Hinweis auf die Tötung lebensunwerten Lebens zu finden ist. Dies ist nicht verwunder- lich. Denn durch Ministerialerlaß war es der Presse verboten, dieses Thema zur Sprache zu bringen; und immer wieder wurde in Pressekonfe- renzen des Propagandaministeriums auf dieses Verbot hingewiesen (22).

Dabei wurde gezielte Stimmungsma- che für eine spätere Aktion getrie- ben, ohne diese beim Namen zu nennen Immer wieder wurde, meist mit Bildern, über besonders schwere Fälle von Geisteskrankheit berich- tet. Der Reichsärzteführer Gerhard Wagner rechnete in aller Öffentlich- keit und Offenheit aus, welche unge- heure Belastung die Erbkranken und Minderwertigen für den Staat seien. Die Kostenfrage fand auch Eingang in die Veröffentlichungen von Wissenschaftlern und selbst in die Mathematikaufgaben der Schü- ler.

Hatte es noch 1935 offiziell ge- heißen, daß eine Freigabe der Ver- nichtung lebensunwerten Lebens nicht in Frage komme, so hatte Hit- ler im privaten Gespräch dem Reichsärzteführer gegenüber geäu- ßert, daß er im Falle eines Krieges die Euthanasiefrage aufgreifen und

der Binding/Hocheschen Schrift wurde die intellektuelle Basis gelegt für die sogenannten Euthanasieak- tionen des Dritten Reiches. „Nicht die Nationalsozialisten haben den Sinn des Werkes pervertiert, sie brauchten sich nur der Begriffsver- wirrung zu bedienen." (21)

zur Lösung bringen werde. Es hat somit seine fürchterliche Konse- quenz, daß der auf privatem Brief- papier Hitlers im Oktober 1939 ge- schriebene Euthanasiebefehl auf den 1. September 1939 zurückdatiert ist: „Reichsleiter Bouhler und Dr.

med. Brandt sind unter Verantwor- tung beauftragt, die Befugnisse na- mentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschli- chem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann "

III

Schon im Frühjahr 1939 war der

Die Kindereuthanasie

Reichsausschuß zur wissenschaft- lichen Erfassung erb- und anlagebe- dingter schwerer Leiden geschaffen worden. Seine Aufgabe war es, im gesamten Reichsgebiet die Kinder ausfindig zu machen, die an Idiotie, Mongolismus, Hydrozephalus und anderen Mißbildungen litten und nicht in Anstaltspflege waren.

Äußerer Ausgangspunkt der Aktion war die Bitte eines Leipziger Elternpaares an Hitler, ihr mehrfach mißgebildetes Kind töten zu lassen.

Der Direktor der Leipziger Kinder- klinik, Werner Catel, hatte es zu diesem Schritt bestimmt. Catel war auch an führender Stelle an der nun anlaufenden Tötungsaktion betei- ligt. Er war einer der drei Gutach- ter, die durch einfaches Plus oder Minus auf dem häufig nicht durch ei- nen Arzt ausgefüllten Fragebogen über Leben und Tod des Kindes ent- schieden. Die Tötungen wurden in sogenannten Kinderfachabteilungen durchgeführt, in denen die Kinder zum Teil auch über längere Zeit zu diagnostischen Zwecken beobachtet wurden. Die Verlegungen der Kin- der geschahen zum Teil ohne Wissen Dt. Ärztebl. 86, Heft 7, 16. Februar 1989 (27) A-373

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der Eltern, zum Teil wurde ihnen vorgegaukelt, in einer solcher Abtei- lung seien bessere Therapiemöglich- keiten vorhanden. Rund 30 solcher Abteilungen wurden bis zum Kriegs- ende geschaffen, das Alter der Kin- der wurde zunächst auf höchstens drei Jahre festgelegt und schließlich auf 16 Jahre hochgesetzt. Letztlich reichte in der Spalte "Diagnose"

des Meldebogens die Angabe Jude oder Zigeuner. Bis zum Kriegsende wurden so mindestens 5000 Kinder ermordet.

D Die Aktion T4

Ende 1939 wurde mit der Eutha- nasie der Erwachsenen begonnen.

Eine gesetzliche Grundlage war auch hierfür nicht gegeben. J?.en- noch haben sich mindestens 50 Arz- te freiwillig aktiv an diesem Pro- gramm beteiligt. Zur Organisation wurde ein umfangreicher bürokrati- scher Apparat aufgebaut, der unter der Tarnbezeichnung T4- nach der Dienstadresse, der Berliner Tiergar- tenstraße 4- firmierte. In ihr waren unter der Aufsicht der Kanzlei des Führers im wesentlichen vier Dienst- stellen zusammengefaßt:

..,.. Die Reichsarbeitsgemein- schaft Heil- und Pflegeanstalten war vor allem für die Erfassung der An- staltsinsassen, die Sammlung der verschickten Fragebögen, die Begut- achtung und die Verwaltungsaufga- ben nach der Ermordung der Kran- ken zuständig .

..,.. Die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege firmierte als juri- stische Person, um so als Arbeitge- ber für die 300 bis 400 Angestellten nach innen und als Partner für Ver- träge über Pacht und Kauf in Er- scheinung zu treten.

..,.. Die Gemeinnützige Kran- kentransportgesellschaft (GE- KRAT) war für die Verlegung der Kranken in die Tötungsanstalten zu- ständig.

..,.. Schließlich wurde zur Ab- wicklung aller finanziellen Angele- genheiten die Zentralverrechnungs- stelle Heil- und Pflegeanstalten ge- gründet.

Bereits im September und Ok- tober 1939 wurden in Polen über

tausend Kranke ermordet. Im Reich wurden am 9. Oktober 1939 die Mel- debögen zur Erfassung der Patien- ten verschickt. Sie sollten nicht nur Auskunft über die persönlichen Da- ten der Kranken, über ihre Diagno- se, sondern auch über ihre Arbeits- fähigkeit, über ihre Rasse und über die Häufigkeit von Angehörigenbe- suchen geben. Aufgrund dieser An- gaben entschieden Sachverständige über Leben und Tod. Die Gutachter wurden je nach Zahl der bearbeite- ten Fragebögen bezahlt. Die Aus- wertung von bis zu 500 Bögen pro Monat brachte 100 Mark zusätzlich ein, dieser Betrag konnte sich bis zu 400 Mark steigern bei der Bearbei- tung von mehr als 3500 Fragebögen pro Monat (23).

Die Entscheidungen der Gut- achter erfolgten unabhängig vonein- ander und wurden dann einem Obergutachter vorgelegt. Entschied dieser auf Tötung, so wurde die GEKRAT mit dem weiteren Vorge- hen betraut.

Mit grauen Omnibussen wurden die Kranken aus den Anstalten ab- geholt und in Tötungsanstalten ge- bracht. Dort wurden sie in eigens in- stallierten , ,Duschräumen'' mit Giftgas ermordet. Das Ausmaß der ersten Phase der Aktion T4 zeigt die folgende Tabelle. (24)

Erste Phase der Aktion T4

verbrannt und die Asche in Urnen zum Versand an die Angehörigen bereitgestellt. In eigens eingerichte- ten Standesämtern wurde der Tod beurkundet, den Angehörigen eine fingierte Todesursache mitgeteilt.

Trotz dieser Maßnahmen wurden die Anstaltsmorde im Sommer 1940 in der Bevölkerung bekannt.

D Widerstand

Nun begann sich auch in den Anstalten Widerstand zu formieren.

Das erste Ausfüllen der Fragebögen war meist ahnungslos erfolgt, da nie- mand die Folgen absehen konnte.

Nun wurde in vielen Anstalten die Aktion systematisch sabotiert, Un- terlagen wurden gefälscht, Patienten nach Hause entlassen, falsche Dia- gnosen eingetragen. Ein Euthana- siearzt berichtet in einem Brief:

, ,Ich frage übe~all in den Anstalten die leitenden Arzte nach Therapie und auch was das Problem der Eu- thanasie anbetrifft, und habe bisher außer in den Anstalten, mit denen wir zusammenarbeiten, für eine ak- tive Tätigkeit in dieser Richtung kei- ne Liebe gefunden . . . Die bloße Erwähnung macht die Leute deut- lich verschnupft.'' (25) Deutlicher als dieser eher passive Widerstand

Anstalt Zeitraum Zahl der Toten

Grafeneck!Württemberg Januar-Dezember 1940 9 839 Brandenburg Februar-September 1940 8 772

Bernburg September 1940 -

August 1941 8 601

Hadamar Januar-August 1941 10 072

Hartheim!Linz Mai-August 1941 18 269

Sonnenstein Juni-August 1941 13 720

Im Frühjahr 1941 wurden soge- nannte Zwischenanstalten geschaf- fen, in die die zur Tötung Bestimm- ten vorübergehend untergebracht wurden. Dies diente zur besseren Tarnung und dazu, den fabrikmäßi- gen Mord in den Tötungsanstalten reibungslos zu gestalten. -Nach der Ermordung wurden die Opfer sofort

wurde von seiten der Kirchen gegen die Euthanasieaktion protestiert .

Am 9. Juli 1940 wandte sich der evangelische Pastor Paul Gerhard Braune in einer Denkschrift gegen die Euthanasie; sie trug ihm eine mehrwöchige Gestapo-Schutzhaft ein. Am 19. Juli 1940 wandte sich der Landesbischof Theophil Wurm

(5)

mit einem Protestbrief an Innenmi- nister Wilhelm Frick. Im Juli 1940 versuchten Braune, Friedrich Bodel- schwingh und Ferdinand Sauerbruch bei einem persönlichen Besuch bei Justizminister Franz Gürtner die Einstellung der Aktionen zu errei- chen. Die Katholische Kirche hat nach einer kurzen Zeit des Zögerns Stellung bezogen: Im November 1940 protestierte der Münchener Kardinal Michael von Faulhaber im Justizministerium. Der Hirtenbrief der Fuldaer Bischofskonferenz und die Predigt des Bischofs von Mün- ster Clemens August Graf von Ga- len am 3. August 1941 führten schließlich zur offiziellen Einstellung der Aktion durch Hitler am 24. Au- gust 1941.

Zu dieser Zeit waren minde- stens 70 000 Menschen ermordet worden, weitere 30 000 begutachte- te Bögen lagen bereit. Im Protokoll einer Begutachtung der Prüfärzte am 6. Oktober 1942 in Berlin heißt es: „+ bedeutet einwandfreier Plus- fall, der bei evtl. plötzlicher Wieder- aufnahme unserer Arbeit ohne nochmalige Untersuchung zur Aus- scheidung in unseren Anstalten vor- gesehen werden kann " (26)

Das offizielle Ende der Aktion T4 bedeutete jedoch nicht das Ende der Euthanasie. Zu diesen Sonder- aktionen gehörten die Tötung jüdi- scher Kranker, die Aktion 14f 13, in der aus den Konzentrationslagern die psychisch Kranken ausgesondert und von den Mitarbeitern von T4 er- mordet wurden. 20 000 Menschen wurden auf diese Weise ermordet.

In der sogenannten wilden Euthana- sie wurden dezentral, aber auch in Tötungsanstalten wie Meseritz- Obrawalde , weitere Patienten durch Medikamente oder durch Verhun- gernlassen getötet. Eine genaue Zahl der so Ermordeten läßt sich noch nicht angeben.

Alle diese Aktionen von der Kindereuthanasie bis zur wilden Euthanasie sind als Teil einer auf dem Boden sozialdarwinistisch-ras- senhygienischer Vorstellungen ent- standenen Idee von der Ausmerze

lebensunwerten und artfremden Le- bens zu sehen. Nicht von ungefähr griff man bei der „Endlösung der Judenfrage" auf die bewährten Kräfte von T4 zurück. Erster Kom- mandant des KZ Treblinka war Irm- fried Eberl, der zuvor Direktor der Anstalten in Brandenburg und Bernburg gewesen war. Auch die späteren Kommandanten von Treb- linka, Kurt Franz und Franz Stangl, kamen von T4. Christian Wirth, der erste Lagerleiter von Belzec, war zu- vor Büroleiter in Grafeneck, Bran- denburg und Hartheim gewesen und hatte die erste Vergasung im Januar 1940 in Brandenburg geleitet. Seine Methode wurde nicht nur in Belzec, sondern auch in Auschwitz ange- wendet. Die Aktion T4 steht so nicht isoliert, sie diente auch zur Er- probung der Massenvernichtungs- mechanismen des NS-Regimes.

Gesetze

Alle Tötungen im Rahmen des Euthanasieprogrammes geschahen ohne jede gesetzliche Grundlage.

Aber schon vor Beginn des Krieges hat es Initiativen zu einer gesetzli- chen Regelung gegeben. Schon im August 1939 beschäftigte sich die Strafrechtskommission mit einem vorliegenden Gesetzentwurf, an dem offensichtlich auch noch zu Be- ginn des Krieges gearbeitet wurde.

Zumindest im Januar 1941 hat man sich noch damit befaßt. Eine Ab- schrift des Protokolls der Kommis- sion vom 24. Januar 1941 trägt die Aufschrift: „Niederschrift darf Un- befugten nicht in die Hände fallen."

Der Gesetzestext ist aus dem Protokoll der Bemerkungen der Dis- kussionsteilnehmer — unter ihnen die Mediziner Maximilian de Crinis , Hans Heinze, Carl Schneider, Ber- told Kihn und Fritz Lenz — zu rekon- struieren und lautete wahrschein- lich:

„§ 1: Wer an einer unheilbaren, sich oder andere stark belästigenden oder sicher zum Tode führenden Krankheit leidet, kann auf sein aus- drückliches Verlangen mit Geneh- migung eines besonders bemächtig- ten Arztes Sterbehilfe durch einen Arzt erhalten.

§ 2: Das Leben eines Menschen, welcher infolge unheilbarer Geistes- krankheit dauernder Versorgung be- darf und der im Leben nicht zu be- stehen vermag, kann durch ärztliche Maßnahmen unmerklich schmerzlos für ihn vorzeitig beendet werden."

(27)

Dieser Entwurf ist nie Gesetz geworden, aber die in ihm zum Aus- druck kommende Vermengung des Problems der Tötung auf Verlangen mit dem der Tötung „lebensunwer- ten Lebens" ist typisch auch für die Propagandatätigkeit in der NS-Zeit, zum Beispiel in dem Film „Ich klage an" (28), sie ist aber auch in der heutigen Diskussion um Sterbehilfe noch in weiten Teilen anzutreffen.

(Literatur und Anmerkungen beim Sonderdruck)

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. phil.

Rolf Winau

Freie Universität Berlin Institut für Geschichte der Medizin

Klingsorstraße 119 1000 Berlin 45

Die bisher erschienenen Beiträge:

Prof. Dr. med. Gunter Mann: Bio- logismus — Vorstufen und Elemente einer Medizin im Nationalsozialis- mus (Heft 17/1988); Prof. Dr. phil.

Gerhard Baader: Rassenhygiene und Eugenik — Vorbedingungen für die Vernichtungsstrategien gegen sogenannte „Minderwertige" im Nationalsozialismus (Heft 27/1988);

Prof. Dr. Werner-Friedrich Küm- mel: Die „Ausschaltung" — Wie die Nationalsozialisten die jüdischen und die politisch mißliebigen Ärzte aus dem Beruf verdrängten (Heft 33/1988); Dr. Hans-Peter Kröner:

Die Emigration von Medizinern un- ter dem Nationalsozialismus (Heft 38/1988); Dr. Georg Lilienthal: Me- dizin und Rassenpolitik — Der „Le- bensborn e. V." der SS (Heft 44/1988); Dr. med. Peter Reeg:

Deine Ehre ist die Leistung — Ausle- se und Ausmerze durch Arbeits- und Leistungs-Medizin im National- sozialismus (Heft 51-52/1988);

Christiane Rothmaler: Zwangssteri- lisationen nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuch- ses" (Heft 4/1989).

11 Massenvernichtungen

Dt. Ärztebl. 86, Heft 7, 16. Februar 1989 (31) A-375

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