• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Größenwahn? Die psychosozialen Konsequenzen von Kleinwuchs" (04.04.2003)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Größenwahn? Die psychosozialen Konsequenzen von Kleinwuchs" (04.04.2003)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

D

ie Annahme sozialer Benachteili- gung kleiner Menschen ist so alt wie die zahlreichen Stereotypen zu kompensatorischen Verhaltensmu- stern (Napoleon-Komplex, short man syndrome). Während mit Größe ur- sprünglich körperliche Imposanz be- schrieben wurde, die nicht selten mit hohem persönlichen Ansehen und Einfluss verknüpft war (Cornelius Nepos, De viris illustribus), löste sich der Begriff zunehmend von der Physis und wurde zu einem Attribut herausra- gender Leistungen auf unterschiedli- chen Gebieten. So weiß man von vier noch existierenden Röcken Friedrichs II, dass der bereits zu Lebzeiten (nach den Schlachten bei Rossbach und Leuthen im Jahr 1757) von zeitgenössi- schen Historikern als „Der Große“

apostrophierte Preußen-König (Abbil- dung) mit 165 cm Körperlänge eher dem damaligen Durchschnitt ent- sprach.

Insbesondere die kontrovers disku- tierte Frage, ob es gerechtfertigt ist, kleine aber ansonsten völlig gesunde (idiopathischer Kleinwuchs, short nor- mal) Kinder mit Wachstumshormon

(Growth Hormone, GH) zu behan- deln, hat dem Interesse an den psycho- sozialen Folgen von Kleinwuchs neu- en Auftrieb verliehen (26, 34). Die Hy- pothese zahlreicher älterer Studien, Kleinwuchs impliziere eine psychoso- ziale Benachteiligung, wird durch neuere Erkenntnisse auf der Grundla- ge methodologisch solider Untersu- chungen zunehmend relativiert (35).

Eine alleinige Beurteilung der Norma- lität eines Heranwachsenden anhand auxologischer Parameter wird abge- lehnt; vielmehr wird die Fassung von Normalität in qualitativen und funk- tionellen Begriffen gefordert (35). Ei- ne psychologische Begutachtung gilt bei der Einschätzung, ob ein Kind von einer GH-Therapie profitieren wird, als unerlässlich (15, 21). In der wissen- schaftlichen Aufarbeitung der Proble-

matik droht, dass Übersichtsarbeiten die spärliche Originalliteratur über- wiegen. Die meisten Studien weisen darüber hinaus schwerwiegende me- thodologische Mängel auf (21, 33).

Kleine Stichproben, extrem heteroge- ne Zusammensetzung der Gruppen hinsichtlich sozialer Schichten und Al- ter, unsystematische Diagnosenviel- falt, unzulängliche oder fehlende Kon- trollen und unkalkulierbare subjekti- ve Momente schwächen die Beweis- kraft vieler Untersuchungen erheblich ab. Viele Studien stammen zudem aus den USA und lassen sich damit nur bedingt auf andere kulturelle und ge- sellschaftliche Rahmenbedingungen übertragen. Die wichtigste systemati- sche Verzerrung der Meinungsbildung resultiert allerdings daraus, dass die meisten Studien an klinischen Kollek- tiven vorgenommen wurden, denen per definitionem ein selektives Zuwei- sungsverhalten zugrunde liegt (Refer- ral Bias) (3).

Die vorliegende Literaturübersicht analysiert die psychosozialen Folgen von Kleinwuchs bei Erwachsenen und Kindern.

M E D I Z I N

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 144. April 2003 AA925

Größenwahn? Die psychosozialen Konsequenzen von Kleinwuchs

Elmar W. Gerharz

1

, Peter Rubenwolf

1

, Nader Gordjani

2

, Linda D. Voss

3

Zusammenfassung

Ärzte und Eltern sehen sich zunehmend dem Druck ausgesetzt, Kleinwuchs nicht nur zu pro- blematisieren, sondern auch zu behandeln.

Während im Falle eines nachgewiesenen Wachstumshormonmangels die Notwendig- keit einer Substitution unumstritten ist, stellt sich die Indikationslage bei kleinwüchsigen, aber ansonsten völlig normalen Kindern erheb- lich komplizierter dar. Obwohl Kleinwuchs an sich keinen Krankheitswert besitzt, wird oft ei- ne soziale und psychische Benachteiligung der Betroffenen unterstellt. Viele der in diesem Zu- sammenhang wiederholten Annahmen halten einer kritischen Überprüfung allerdings nur schwerlich stand; sie stützen sich fast aus- schließlich auf die Untersuchung klinischer Kol- lektive, in denen erwartungsgemäß Kinder mit Verhaltenstörungen oder schulischen Proble-

men überrepräsentiert sind (Referral Bias). Im Gegensatz hierzu belegen jüngere, kontrollier- te, prospektive und populationsbasierte Un- tersuchungen die Normalität von Kleinwüchsi- gen ohne fassbare somatische Ursachen.

Schlüsselwörter: Wachstumshormonmangel, Kleinwuchs, Lebensqualität, psychosoziale Be- nachteiligung, klinische Forschung

Summary

Short Normal Stature and Psychosocial Disadvantage

Physicians and parents alike are under increasing pressure to identify and to treat short stature.

Where there is true growth hormone deficiency, the argument for replacement is uncontroversial.

In the case of the short, but otherwise normal

child the indications for therapy are less clear.

Although short stature per se is clearly not a dis- ease, it is commonly perceived to be associated with social and psychological disadvantage.

Many of these assumptions, however, can be challenged. A critical review of the literature per- taining to the psychosocial correlates of short stature uncovers much flawed evidence, found- ed largely on data from clinic-referred samples.

In such studies, children with real (or perceived) behavioural or academic problems are likely to be overly represented. In contrast, data from well controlled prospective population-based investigations suggest the essential normality of the short normal child. Parents and children alike should be reassured by these findings.

Key words: growth hormone deficiency, short stature, quality of life, psychosocial disadvan- tage, clinical research

1Urologische Klinik und Poliklinik (Direktor: Prof. Dr. med.

Hubertus Riedmiller) der Bayerischen Julius Maximilians- Universität, Würzburg

2Klinik für Kinder- und Jugendmedizin (Direktor: Prof. Dr.

med. Christian P. Speer) der Bayerischen Julius Maximili- ans-Universität, Würzburg

3Peninsula Medical School, Plymouth, England

(2)

Bild und Selbstbild des Erwachsenen

Die Körpergröße eines Menschen be- einflusst zum einen seine Wahrneh- mung durch die Mitmenschen, zum an- deren aber auch sein Selbstbild; beide Faktoren prägen in vielschichtiger Wei- se die Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt.

Darüber hinaus wird die Wahrneh- mung von Größe von sozialen Aspek- ten und beruflichem Erfolg beeinflusst (38). So wurde eine Person unter An- gabe unterschiedlicher akademischer Grade verschiedenen Studentengrup- pen vorgestellt; die geschätzte Größe der Person nahm mit dem Status inner- halb der akademischen Hierarchie zu, wohingegen einem Referenzprobanden immer ähnliche Größen zugeschrieben wurden.

Eine wirtschaftliche Diskriminie- rung kleiner Männer wird vor allem aus den USA berichtet. Haben nordameri- kanische Arbeitgeber die hypothetische Wahl zwischen einem 165 cm und einem 185 cm großen Bewerber, entscheiden 72 Prozent zu Gunsten des größeren (17). Mehrere Autoren beschreiben ei- nen Zusammenhang zwischen Körper- größe und Einkommensverhältnissen („buying brains by the inch“) (2, 6, 27).

Schumacher bestätigte in einer Unter- suchung 1982 Beobachtungen, nach de- nen Männer in höheren Positionen in- nerhalb der gleichen Berufsfelder größer sind, als solche auf unteren Hier- archiestufen (29).

Gowin konnte schon 1927 zeigen, dass Schuldirektoren kleiner sind als Universitätspräsidenten und Landpfar- rer kleiner als Bischöfe (8). Zwischen 1900 und 1980 wurden 80 Prozent der US-amerikanischen Präsidentschafts- wahlkämpfe vom größeren Kandidaten gewonnen (33).

In einer Studie von Martel und Biller wurden US-amerikanische College- Studenten befragt (20). Während sich durchschnittlich und überdurchschnitt- lich große männliche Studenten in allen fiktiven sozialen Szenarios wohlfühl- ten, zeigten kleinere Altersgenossen insbesondere beim ersten Rendezvous, bei Kontaktsportarten, an der Bar und auf einer gut besuchten Party deutliche Unsicherheiten. Nach ihrer Wunsch-

größe befragt, waren kleine Männer sig- nifikant unzufriedener. In der gleichen Studie wurden Frauen gebeten, Män- nern unterschiedlicher Größe ein Profil von Eigenschaften zuzuordnen; die Probandinnen schrieben großen Män- nern eher positive, kleinen Männern eher negative Eigenschaften zu. Letzte- re wurden als unsicher, schüchtern, un- terwürfig und ohne Selbstvertrauen charakterisiert. Die Einschätzungen wurden von männlichen Gleichaltrigen geteilt.

Im Gegensatz dazu konnte Hensley (11) in seiner Arbeit keine eindeutige Korrelation zwischen der Körpergröße und dem Grad an Selbstvertrauen sei- ner Probanden nachweisen; die von ihm herangezogene Referenzgröße zur Un- terscheidung von groß versus klein (größer beziehungsweise kleiner als 178 cm) erscheint allerdings willkürlich und damit zumindest fragwürdig. Lerner et al. untersuchten den Stellenwert der Körpergröße eines Mannes in der Be- wertung seiner Attraktivität durch das andere Geschlecht. Dabei zeigte sich, dass dieser Parameter für Frauen in der Hierarchie der für sie wichtigen Eigen- schaften nur eine nachgeordnete Rolle spielt (19).

Ausgehend von dem weit verbreite- ten Klischee, dass kleine Männer ge- genüber ihrer Umwelt ein insgesamt eher aggressiveres Verhalten an den Tag legen, konnten Hartnett et al. (10) an einem Kollektiv amerikanischer Studenten zeigen, dass kleine Proban- den in Konfliktsituationen eher kon- frontativ agierten und weniger Bereit- schaft zu einvernehmlichen Lösungen zeigten als ihre größeren Kollegen.

Detaillierte Angaben zur Art der Ob- jektivierung dieser Umstände blieben die Autoren weitestgehend schuldig.

Als Erklärung wird auf die natürliche, quasi staturimmanente Autorität der hochgewachsenen Studenten verwie- sen.

Hood (13) untersuchte den poten- ziellen Zusammenhang zwischen Kör- pergröße und depressiven Störun- gen bei mehr als 10 000 männlichen Studenten und dokumentierten eine höhere Rate an Schwermütigkeit bei kleineren Individuen. Dieser Umstand hatte allerdings keine klinische Rele- vanz.

Kontroverse

Studienergebnisse bei Kindern

Die Datenlage zur Benachteiligung minderwüchsiger Kinder ist bei genau- er Betrachtung inkonsistent und wider- sprüchlich, was nicht zuletzt durch die unterschiedliche Ätiologie der unter- suchten Kleinwuchsformen (objekti- vierter Wachstumshormonmangel ver- sus konstitutionelle Wachstumsverzö- gerung versus familiärer Kleinwuchs) (18, 28), teilweise aber auch durch er- hebliche methodologische Mängel der Studien bedingt ist. Im Hinblick auf Verhalten und Persönlichkeit wurden kleinwüchsige Kinder als gut angepasst, aber auch als introvertiert, zurückgezo- gen, ängstlich, abhängig, isoliert, aggres- siv, depressiv, unreif und wenig selbstbe- wusst beschrieben (21). Bezüglich der schulischen Leistungen wurde ihnen in einigen Studien normale, in anderen un- terdurchschnittliche Intelligenz mit spezifischen kognitiven Defiziten und ein Verfehlen der Lernziele bescheinigt (36).

Gordon et al. finden beim Vergleich von 24 sechs- bis zwölfjährigen Kindern mit konstitutioneller Wachstumsverzö- gerung und einem 23 Kinder umfassen- den Kontrollkollektiv gleicher Intelli- genz und sozialer Herkunft signifikant mehr Verhaltensstörungen, somatische Beschwerden, Rückzugstendenzen und schizoide Züge bei den erstgenannten.

Die Kinder hielten sich für unbeliebt und waren insgesamt unzufrieden; die Autoren schlossen auf eine Beeinträch- tigung des Selbstverständnisses (7).

In ihrer longitudinalen, dreijährigen Beobachtung von 47 Kindern, bei de- nen entweder ein GH-Mangel, eine konstitutionelle Wachstumsverzöge- rung oder ein Turner-Syndrom diagno- stiziert wurde, fanden Holmes et al.

zwar Anpassungsstörungen in der frühen Adoleszenz (bei 12- bis 14-Jähri- gen), aber altersentsprechendes Funk- tionieren davor (bei 9-Jährigen) und danach (bei 17-Jährigen). Bei der Beur- teilung sozialer Kompetenz fiel auf, dass Gruppenaktivitäten durch Kleinwüch- sige gemieden werden (12).

Crowne et al. beschreiben die Ent- wicklung von 43 Knaben mit konstitu- tioneller Wachstumsverzögerung bis zu ihrer Endgröße. Die im Mittel 21,2 Jah- M E D I Z I N

A

A926 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 144. April 2003

(3)

re alten Männer unterschieden sich nicht von einer Kontrollgruppe im Hin- blick auf Selbstbewusstsein, Arbeitslo- sigkeit oder Familienstand. Allerdings glaubten 58 Prozent, dass die Wachs- tumsverzögerung ihren Erfolg in der Schule, am Arbeitsplatz und in ihrem sozialen Umfeld negativ beeinträchtigt habe; 20 Probanden (46,5 Prozent) hät- ten sich retrospektiv eine Behandlung zur Beschleunigung ihres Wachstums- spurts gewünscht (1).

Die US-amerikanische National Co- operative Growth Study (31) umfasste 86 Kinder mit GH-Mangel und 80 Kin- der mit idiopathischem Kleinwuchs aus 27 Kliniken. Die Gruppen zeigten signi- fikante Diskrepanzen zwischen (durch- schnittlichem) IQ und einzelnen schuli- schen Leistungen (Lesen, Buchstabie- ren, Rechnen) und ein höheres Maß an sowohl internalisierenden als auch ex- ternalisierenden Verhaltensstörungen.

Die Kinder mit GH-Mangel waren zu- dem weniger kompetent im Umgang mit Gleichaltrigen. Die Autoren weisen auf den Referral Bias ihrer Untersuchung mit der Bemerkung hin, dass Eltern von verhaltensauffälligen oder leistungs- schwachen Minderwüchsigen eher ge- neigt seien, ärztliche Hilfe zu suchen.

Erling et al. (4) konnten mithilfe der Silhouette Apperception Technique (Test zur Wahrnehmung der aktuellen Größe und der Erwartungen an die Endgröße) und einer visuellen Ana- logskala nachweisen, dass die Eltern von 80 kleinwüchsigen schwedischen Kindern das Wohlbefinden ihres Nach- wuchses als schlechter einschätzen als die Betroffenen selbst. Dies stellt den Wert der lange Zeit üblichen Fremdbe- urteilung (Proxy Rating) grundsätzlich infrage. Die Kinder hatten hohe und völlig unrealistische Erwartungen an ih- re Endgröße.

Skuse et al. (30) verglichen nach dem Zufallsprinzip ausgewählte präpubertä- re Kinder einer Spezialsprechstunde für Wachstumsstörungen mit normalwüch- sigen Klassenkameraden im Hinblick auf kognitive Fähigkeiten, Sozialver- halten, emotionale Anpassung und Selbstbild. Die kleinwüchsigen Kinder unterschieden sich von ihren Altersge- nossen durch eine geringere Aufmerk- samkeit und mehr gedankliche Proble- me. Die Autoren halten bei der Er-

klärung dieser Differenzen die leicht niedrigeren IQ der Minderwüchsigen für einflussreicher als die Körpergröße und bestreiten relevante psychosoziale Anpassungsstörungen durch Klein- wuchs.

Sandberg et al. (26) untersuchten 180 Jungen und 78 Mädchen zwischen 4 und 18 Jahren, die wegen Wachstumsstörun- gen in einer pädiatrisch-endokrinologi- schen Sprechstunde vorgestellt worden waren. In der Einschätzung durch ihre

Eltern hatten die Knaben mehr Verhal- tens- und emotionale Probleme und we- niger Durchsetzungsvermögen. In der Selbstbeurteilung wichen die Betroffe- nen allerdings von einer normativen Kontrollgruppe kaum ab. Kleinwüchsi- ge Mädchen waren von der Kontroll- gruppe nicht zu unterscheiden. Die Au- toren stellen eine klinisch signifikante psychosoziale Morbidität bei klein- wüchsigen Knaben und Mädchen in Abrede.

Pilpel et al. (23) verglichen 1995 erst- mals GH-substituierte mit unbehandel- ten Kleinwüchsigen im Hinblick auf ihre Lebensqualität und entdeckten in kei- ner der sechs untersuchten Domänen (schulische Leistungen, Freizeitaktivi- täten, emotionales und körperliches

Selbstbewusstsein,Verhältnis zu Gleich- altrigen und Familie) signifikante Un- terschiede.

Fernald und Grantham-McGregor (5) überprüften bei 30 jamaikanischen Kindern die Hypothese, dass Klein- wüchsige eine pathologische Stressre- aktion zeigen. Werden die Kinder psy- chischen und körperlichen Stressoren ausgesetzt, können in ihrem Speichel höhere Kortisolwerte gemessen werden als bei normalwüchsigen Altersgenos- sen. Die Autoren halten diesen Um- stand für eine mögliche Erklärung der eingeschränkten kognitiven Fähigkei- ten dieser Kinder sowie des Zusam- menhangs zwischen geringer Erwachse- nengröße und einem erhöhten Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen.

Im Januar 1997 publizierten Downie et al. die jüngsten Ergebnisse einer der methodologisch solidesten Untersu- chungen (3). Im Rahmen einer longitu- dinalen Beobachtungsstudie (Wessex Growth Study) wurde die körperliche und psychologische Entwicklung von 225 Kindern (106 unterhalb der dritten Perzentile; 119 zwischen der 10. und 90.

Perzentile) dokumentiert, die zwischen 1986 und 1987 in den Bezirken South- ampton und Winchester eingeschult wurden. Insgesamt sollten drei aufwen- dige psychometrische Beurteilungen vorgenommen werden. Die erste Mes- sung (1989 bis 1991 bei Kindern im Alter von 7 bis 9 Jahren) (37) ergab nach Eli- minierung sozioökonomischer Einflüs- se keine Unterschiede im Hinblick auf Intelligenzquotienten, schulische Lei- stungen, Selbstbewusstsein und Verhal- ten. Die zweite Analyse (1994 bis 1995 bei Kindern im Alter von 11 bis 13 Jah- ren) ergab erneut keine Unterschiede bei Selbstbewusstsein, Selbstwahrneh- mung, Wahrnehmung durch die Eltern und Verhalten. Die kleineren Kinder er- zielten allerdings niedrigere Intelligenz- quotienten und zeigten Schwächen beim Lesen und bei den Grundrechen- arten. Sie waren unzufriedener mit ihrer Körpergröße. Die soziale Herkunft war ein deutlich besserer Prädiktor für alle gemessenen Parameter als die Größe.

Die Autoren schlussfolgern, dass ihre Studie der Annahme widerspreche, Kleinwuchs führe in der Regel zur Be- nachteiligung der betroffenen Kinder;

die gesellschaftliche Klasse habe einen M E D I Z I N

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 144. April 2003 AA927

Friedrich der Große, Ölgemälde von Anton Graff (Reproduktion mit freundlicher Geneh- migung der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, Schloss Charlotten- burg, Berlin)

(4)

weitaus bedeutenderen Einfluss auf die psychologische Entwicklung.

Stathis et al. untersuchten 1999 in ei- ner 3 986 Kinder umfassenden Studie die Zusammenhänge zwischen Körper- größe auf der einen und Gesundheits- zustand, Verhalten und sprachlicher Kompetenz auf der anderen Seite (32).

Es konnte keine Korrelation zwischen Größe, chronischen Erkrankungen so- wie Verhaltensauffälligkeiten dokumen- tiert werden, jedoch fanden sich leicht verminderte sprachliche Fertigkeiten in dem Peabody Picture Test (PPVT-R) bei Kindern mit einer Größe unterhalb der 10. Perzentile. Es konnte zudem ein- drucksvoll belegt werden, dass Status und Bildungsniveau der Eltern einen bedeutend größeren Einfluss auf die Sprachkompetenz hatte als die Körper- größe der Kinder.

Kranzler et al. (10) gingen erneut der Frage nach, ob sich Kinder mit idiopa- thischem Kleinwuchs im Hinblick auf schulische Leistungen sowie sozialen Kompetenzen von durchschnittlich großen Altersgenossen unterscheiden.

Der Vergleich selektiv einer pädia- trisch-endokrinologischen Sprechstun- de zugewiesener, nicht in ärztlicher Be- handlung befindlicher kleinwüchsiger und normal großer Kinder ergab ähnli- che Werte für Intelligenz und schulische Leistungen in allen drei Gruppen. In der Gruppe der zugewiesenen Patien- ten konnten allerdings signifikant mehr Verhaltensauffälligkeiten sowie eine geringere soziale Kompetenz doku- mentiert werden als bei den Kontrollen.

Diese Studie veranschaulicht ein- drucksvoll, wie durch ein selektives Zu- weisungsverhalten der Eindruck eines Zusammenhangs zwischen Kleinwuchs und psychosozialer Benachteiligung entstehen kann. Kranzler zieht aus sei- nen Ergebnissen den Schluss, dass idio- pathischer Kleinwuchs weder die psy- chosoziale Entwicklung noch die kogni- tiven Fähigkeiten beeinträchtigt.

Hunt et al. untersuchten 1999 (14) bei 620 Patienten im Alter von 4 bis 18 Jahren die Zusammenhänge zwischen psychosozialer Adaptation, tatsächli- cher und im Silhouette Apperception Test durch die Kinder und deren Eltern geschätzter Körpergröße. Interessan- terweise wurde die Größe von den mei- sten Kindern (77 Prozent) und Eltern

(65 Prozent) zu hoch beziffert. Um- stand und Ausmaß der Überschätzung korrelierten positiv mit der Zufrieden- heit hinsichtlich der Größe, dem Grad an psychosozialer Anpassung und dem Selbstbewusstsein der Probanden. Die Autoren schlussfolgern, dass Selbstein- schätzung und Zufriedenheit mit der ei- genen Größe bei der Entscheidungsfin- dung im Hinblick auf eine GH-Substi- tution berücksichtigt werden sollten.

Abgesehen von der Fragwürdigkeit einer psychosozialen Indikation müs- sen im Vorfeld einer Wachstumshor- montherapie bei Kindern mit idiopathi- schem Kleinwuchs die teilweise enttäu- schenden Ergebnisse dieser Maßnahme erörtert werden. So konnten mehrere Autoren übereinstimmend zeigen, dass die Endgröße von Kindern mit idiopa- thischem Kleinwuchs trotz adäquater Hormonsubstitution weit unter der durchschnittlichen Größe von Erwach- senen zurückbleibt; in zahlreichen Fäl- len unterschied sich die Größe nach Abschluss der Therapie nicht signifi- kant von der vor Behandlungsbeginn errechneten Prädiktivgröße (9, 22, 24).

Darüber hinaus scheint die Lebensqua- lität von Erwachsenen mit idiopathi- schem Kleinwuchs normal und durch eine Wachstumshormonsubstitution nicht signifikant beeinflussbar zu sein (25).

Schlussfolgerung

Die Annahme, Kleinwuchs gehe gehäuft mit psychischen Problemen, kognitiven Defiziten und sozialer Be- nachteiligung einher, basiert überwie- gend auf älteren, methodologisch an- fechtbaren Studien; selektives Zuwei- sungsverhalten, nicht repräsentative Studienpopulationen, und zumeist klei- ne, statistisch wenig ergiebige Fallzah- len kompromittieren die Beweiskraft zahlreicher Studien, in denen eine ver- meintliche psychosoziale Benachteili- gung kleinwüchsiger Kinder nachge- wiesen wurde. Die Ergebnisse aktu- eller, kontrollierter Untersuchungen stellen die publizistisch und in der Pra- xis hartnäckig gepflegte psychosoziale Folgemorbidität von Kleinwuchs zu- nehmend und überzeugend infrage.

Schwerwiegende Beeinträchtigungen

im Einzelfall sind damit allerdings kei- nesfalls ausgeschlossen.

Bei der Bewertung der klinischen Relevanz dieser Erkenntnisse müssen vor allem die unterschiedlichen patho- physiologischen Grundlagen der Klein- wuchsformen und das Spektrum positi- ver Behandlungsansätze berücksichtigt werden. So besteht unter Pädiatern der- zeit ein breiter Konsens dahingehend, dass eine medikamentöse Behandlung von Patienten mit einer Verzögerung von Wachstum und Entwicklung nicht erforderlich ist. Diese Patienten sollten in entsprechend spezialisierten auxolo- gischen und sozialpädiatrischen Zen- tren betreut werden. Davon strikt zu trennen sind Indikationsstellungen bei Patienten mit einem primordialen oder intrauterinen Kleinwuchs; hier werden zurzeit klinische Studien durchgeführt, die aufgrund ihrer Konzeption valide Ergebnisse erwarten lassen.

Während die Wachstumshormon- substitution im Fall einer nachgewiese- nen Defizienz als völlig unumstritten gilt, ist für Kinder mit idiopathischem Kleinwuchs mit einer Zulassung dieser Therapieform auch in den nächsten Jah- ren nicht zu rechnen. Damit gilt die Be- handlung dieser Kinder mit Wachs- tumshormon in Deutschland als indivi- dueller Heilversuch, der idealer Weise im Rahmen von kontrollierten und pro- spektiven Studien unter Berücksichti- gung psychosozialer Kriterien unter- nommen werden sollte.

Manuskript eingereicht: 17. 5. 2002, revidierte Fassung angenommen: 13. 1. 2003

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2003; 100: A 925–928 [Heft 14]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit1403 abrufbar ist.

Anschrift für die Verfasser:

Priv.-Doz. Dr. med. Elmar W. Gerharz Urologische Klinik und Poliklinik Bayerische Julius Maximilians-Universität Josef Schneider Straße 2

97080 Würzburg

E-Mail: elmar.gerharz@mail.uni-wuerzburg.de M E D I Z I N

A

A928 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 144. April 2003

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Durch das Informationsblatt für Ärzte soll erreicht wer- den, dass noch unentdeckte HIV-Infizierte rechtzeitig eine ärztliche Behandlung erhalten.. Darüber hinaus kann die

http://www2.h-net.msu.edu/announce/show.cgi?ID=133351 Title: A Fragile Alliance: Porcelain as Sculpture 1700 to 1900 Deadline: 2003-05-12.. Description: Although porcelain has played

Description: The OUHS Journal was established by the postgraduate community at Oxford as a medium for the publication and. dissemination of original and inter-disciplinary

Users may print, post, or forward all or part of the index, or click on individual items to view and use the entire entry from the events site.. H-Net assumes no liability for

Description: CALL FOR PAPERS: Centering Gender History (Womens and Gender Historians of the Midwest Conference) The Womens and Gender Historians of the Midwest announces a Call

Description: Visual Rhetoric Parlor Press Marguerite Helmers, Series Editor Visual culture studies and visual rhetoric have been increasing areas of emphasis in scholarly

Da prospektive Therapiestu- dien und risikoorientierte Behandlungsplanung eine einheitliche Klassifizie- rung und Subtypisierung von Tumoren erfordern und wegen der

Spekulationen über eine Ak- kumulation von exogenem WH in der Urämie, eine Ver- schlechterung der oralen Glu- kosetoleranz (wegen des deutlichen Anstiegs der Se-