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PJ112_S292-310_Kolman_Freges Pragmatismus im Streit um den Begriff der Wahrheit

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Freges Pragmatismus im Streit um den Begriff der Wahrheit*

Vojteˇch KOLMAN (Prag)

Seit dem Erscheinen der monumentalen Monographie Dummetts zu Beginn der siebziger Jahre1stehen sich zwei Traditionen in der Deutung der Philosophie Freges gegenber, die ‚platonistische‘ (oder auch ‚realistische‘) Interpretation einerseits und die ‚holistische‘ (oder auch ‚rationalistische‘) andererseits. Im Folgenden wer- den, gewissermaßen als ‚Vermittlung‘, pragmatische Momente im Werk Freges be- tont. Dies geschieht in der durchaus ambitiseren Absicht, die philosophische Kon- troverse um die einflussreichsten Wahrheitstheorien (Korrespondenz-, Kohrenz- und Redundanztheorie der Wahrheit sowie pragmatische Wahrheitstheorie) im Lichte von Freges Analysen aufzuhellen. Denn es ist ja der Wahrheitsbegriff, den Frege selbst als den zentralen Gegenstand der Logik bezeichnet.

I.

Was die oben genannten epistemischen Sichtweisen betrifft, pflegt man traditio- nell den Platonismus mit der Korrespondenztheorie und den Holismus mit der Ko- hrenztheorie in einen direkten Zusammenhang zu setzen. Es wird außerdem all- gemein angenommen, der semantische Holismus mit seinem methodischen Vorrang des Satzes und seiner Anwendung vor dem, wovon dieser Satz handelt, d. h. der Welt (sei es die der empirischen oder die der abstrakten Gegenstnde), stehe in krassem Widerspruch zu der vulgren Variante des Platonismus, der an die Exis- tenz der Dinge und Unterscheidungen glaubt, die von der menschlichen Erkennt- nisfhigkeit und intersubjektiven Kontrolle ganz unabhngig sind, besser gesagt:

die im Prinzip nicht mit dem menschlichen Verstande erkennbar sein mssen.

Es ist zunchst leicht einzusehen, dass Frege kein vulgrer Platonist ist. Denn mit der Objektivitt bzw. Unabhngigkeit irgendwelcher Gegenstnde vom Denken oder Bewusstsein meint Frege explizit nur

* Dieser Artikel entstand im Rahmen des Forschungsprojekts MSM 0021620839 des Ministeriums fr Bildung der Tschechischen Republik und mit Untersttzung eines Forschungsstipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung. Der Autor mchte Prof. Stekeler-Weithofer fr wertvolle Vorschlge und Korrek- turen danken.

1 Dummett (1973).

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das Gesetzmssige, Begriffliche, Beurtheilbare, was sich in Worten ausdrcken lsst.

[… Also] eine Unabhngigkeit von unserm Empfinden, Anschauen und Vorstellen, von dem Entwerfen innerer Bilder aus den Erringungen frherer Empfindungen, aber nicht eine Unab- hngigkeit von der Vernunft, denn die Frage beantworten, was die Dinge unabhngig von der Vernunft sind, hiesse urtheilen, ohne zu urtheilen, den Pelz waschen, ohne ihn nass zu ma- chen.2

Eine ausfhrlichere Begrndung dafr, dass Frege kein Platonist ist und eine Erluterung, in welchem Sinn er das nicht ist, ist hier nicht mein Ziel. Das ist an- derswo, etwa in den Artikeln Stekelers, zu finden.3Hier nur soviel: Stekeler zufolge knnen wir Frege hchstens „bedingt“ als einen Platonisten ansehen. Frege hat demnach nur auf den zentralen Unterschied zwischen dem allgemeinen Entwurf von Wahrheitsbedingungen fr ein ganzes System von Stzen und der je besonde- ren, begrenzten, oft vom Knnen des Subjekts abhngigen Kontrolle ihrer Erfllung fr einzelne Stze oder Aussagen hingewiesen. Die Verfassung der Wahrheitswert- evaluation eines Satzsystems (z. B. der elementaren Arithmetik) muss dabei noch nicht schon die Entscheidbarkeit garantieren: Daher gehen (mehr oder minder ra- dikale) Intutionisten (von L. E. J. Brouwer bis P. Lorenzen und M. Dummett) in ihrer Kritik am klassischen Wahrheitsbegriff der Arithmetik zu weit, indem sie die Bedeu- tungsbestimmung der Stze mit festen Verfahren der Begrndung bzw. Widerle- gung verknpfen – und dann feststellen, dass das Prinzip ‚Tertium non datur‘ nicht gilt. Die Festlegung eines von zwei Wahrheitswerten fr jeden wohlgebildeten arithmetischen Satz ist eben etwas anderes als die Behauptung, man knne fr jeden derartigen Satz, wie etwa auch die Goldbachsche Vermutung, entweder einen Beweis oder eine Widerlegung angeben. Daher ist zwischen der klassischen Exis- tenzaussage und ihrer effektiv konstruktiven Variante zu unterscheiden. Im zweiten Fall muss man einen ersetzbaren Term immer effektiv angeben knnen.

Leider ist nicht so leicht zu erklren, in welchem Sinne Frege als ein Proponent des Holismus bezeichnet werden kann. Wenn eine entsprechende Darlegung ge- lingt, wre sie aber angesichts der oben erwhnten „Prmisse“ ein weiterer Beitrag zur Argumentation gegen Freges angeblichen Platonismus.

Anhand der Schriften Freges knnte man die Untersuchung in drei Themenberei- che unterteilen:

(1) Der erste Bereich umfasst die Fragestellung der Begriffsschrift und der Texte, die zu ihrer Verteidigung in den Jahren 1880–1883 geschrieben wurden. Frege er- lutert in ihnen die innere Form seiner neuen Konzeption einer logischen Begriffs- schrift, indem er in ihr „im Gegensatz zu Boole [und Aristoteles] […] von den Urteilen und deren Inhalten statt von Begriffen“ ausgeht.4Das fhrt zu einer grund- stzlich satzholistischen, synkategorematischen Bestimmung des Inhalts (spter:

von Sinn und Bedeutung) der Namen und Prdikate im Ausgang vom Inhalt der Stze (spter: vom Wahrheitswert und von der Wahrheits(wert)bestimmung der Stze).

2 Frege (1884), § 26 (i. f. kurz:Grundlagen).

3 Vgl. Stekeler-Weithofer (1997), 24–39.

4 Frege (21983), 17.

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Die basalen Wrter und Begriffe werden also nicht einfach vorausgesetzt und aus ihnen der Satz komponiert. Auch die komplexen Begriffe werden nicht einfach durch Zusammensetzung aus einfachen Begriffen gewonnen. Sondern aus funktio- nalen Bestandteilen elementarer Stze werden zusammengesetzte Stze gebildet, so wie in der strukturalistischen Linguistik die Phoneme, Morpheme und Wrter durch funktionale Analyse aus dem Satzzusammenhang allererst gewonnen werden ms- sen:

Statt […] das Urteil aus einem Einzeldinge als Subjecte mit einem schon vorher gebildeten Begriffe als Praedicate zusammen zu fgen, lassen wir umgekehrt den beurteilbaren Inhalt zerfallen und gewinnen so den Begriff.5

Diesen ersten Bereich knnen wir unter Verwendung der Metaphern derfunk- tionsanalytischen Zerlegung elementarer Stze in Satzbestandteile, derKomposi- tion zusammengesetzter Ausdrcke und Stze und schließlich der funktionalen Bestimmungdessemantischen Wertesder Komposition (am Ende immer: des kom- plexen Satzes) als‚Funktionslogik‘kennzeichnen.

(2) Der zweite Bereich behandelt die Konstitution der abstrakten Gegenstnde, zunchst in der Arithmetik(Grundlagen der Arithmetik, Grundgesetze der Arithme- tik). Das Problem ist eng mit der These von der Abhngigkeit der Bedeutung eines Ausdrucks vom Satzkontext verbunden:

Wie soll uns denn eine Zahl gegeben sein, wenn wir keine Vorstellung oder Anschauung von ihr haben knnen? Nur im Zusammenhange eines Satzes bedeuten die Wrter etwas. Es wird also darauf ankommen, den Sinn eines Satzes zu erklren, in dem ein Zahlwort vor- kommt.6

Der Bereich dieser Fragen hngt mit dem Problem der kontextuellen Definition zusammen, namentlich mit der so genannten Definition durch Abstraktion. Insge- samt kann man ihn alslogische Abstraktionstheoriekennzeichnen.

(3) Die Bereiche (1) und (2) bilden den thematischen Kern nicht nur jeder Deutung des Fregeschen Werkes, sondern der modernen Logik berhaupt. Der folgende Be- reich (3) scheint zunchst ein wenig lose mit Freges Untersuchungen verbunden. Es handelt sich um Quines Frage nach der Abhngigkeit des Ausdrucksinhaltes von einer ganzen Theorie – und ihrer Anwendung. Zunchst erscheint fraglich, ob es sich berhaupt um ein Fregesches Thema handelt. Das Problem betrifft nun aber gerade dasVerhltniszwischen einem Holismus vom Quineschen Typus zu Freges Satzholismus, der ja selbst auch immer auf ein ganzes System von Stzen verweist.

Dieses Problem desHolismusund die mit ihm zusammenhngende Frage nach der Beziehung zwischen formalerSemantikundPragmatikist das eigentliche The- ma der folgenden berlegung. In seinem Zusammenhang steht nach meinem Urteil auch Freges Konzept der Behauptungskraft (illocutionary force)im performativen Akt,wie er in Freges Begriffsschrift ausgedrckt wird durch den Urteilsstrich.7

5 Ebd., 18.

6 Grundlagen, § 62.

7 Zur Rechtfertigung, dass Holismus und Pragmatik bei Frege selbst Thema sind, kann man auf Freges Artikelber das Trgheitsgesetzverweisen, auf den ich am Schluss noch kurz eingehen werde.

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Die Bereiche (1) und (2) habe ich in meinen auf Tschechisch erschienenen Texten, besonders in meinem Frege-Buch8eingehend diskutiert. Ich zeige dort, dass eine grndliche Untersuchung des Holismus immer noch aussteht. Ohne sie bleibt am Ende auch die „Wende zur Sprache“, der „Linguistic Turn“ bei und nach Frege unbegriffen. Holismus undLinguistic Turnsind schon in FregesGrundlagenzwei Seiten derselben Medaille.

Die einfache Unterstellung, Frege sei ein Platonist, verhindert ein adquates Ver- stndnis seiner wesentlichen Einsichten, wie Stekeler gezeigt hat. Die Einsicht in die Bedeutung des semantischen Holismus aber ist zentral, um Freges Werk als ein kompaktes Ganzes, als przedenzlose Antwort auf die Frage „Wovon handelt die Arithmetik?“ zu begreifen.

II.

Die allgemeinste Version einer Korrespondenztheorie ist ganz unproblematisch, aber auch vollkommen nutzlos, denn wir sind – wie schon Kant bemerkt hat – eher an einem „praktischen“ Kriterium der Wahrheit als an einer abstrakten definitori- schen Formel interessiert.9Andererseits bemerkt Kant, wie dann auch Frege, dass die Anwendung eines vermeintlich allgemeinen Wahrheitskriteriums schon vo- raussetzt, dass wir in gewissem Sinn das Wahre von dem Falschen unterscheiden knnen. Frege schreibt:

Es wre nun vergeblich, durch eine Definition deutlicher zu machen, was unter „wahr“ zu verstehen sei. Wollte man etwa sagen: „wahr ist eine Vorstellung, wenn sie mit der Wirklich- keit bereinstimmt“, so wre damit nichts gewonnen, denn, um dies einzuwenden, msste man in einem gegebenem Falle entscheiden, ob eine Vorstellung mit der Wirklichkeit ber- einstimme, mit anderen Worten: ob es wahr sei, dass die Vorstellung mit der Wirklichkeit bereinstimme. Es msste also das Definierte selbst vorausgesetzt werden. Dasselbe glte von jeder Erklrung von dieser Form: „A ist wahr, wenn es die und die Eigenschaften hat, oder zu dem und dem in der und der Beziehung steht“. Immer kme es wieder im gegebenen Falle darauf an, ob es wahr sei, dass A die und die Eigenschaften habe, zu dem und dem in der und der Beziehung stehe.10

Whrend Frege so auf die Undefinierbarkeit des Wahrheitsbegriffes schließt, de- mentiert Kant die Mglichkeit eines allgemeinen, globalen Wahrheitskriteriums.11 Lokal ist die Erluterung der Wahrheitsbedingungen von Stzen (als informelle oder gar halbformale Definition der Wahrheit) in einem gegebenen Bereich natr- lich mglich. Das eben zeigt Freges Idee einer Rekonstruktion der elementaren

8 Kolman (2002).

9 Kant (1992a), A58/B82.

10 Frege (21983), 140.

11 Kant (1992b), A 70 f. Kant spricht eigentlich von der Unmglichkeit eines allgemeinenmaterialenKri- teriums der Wahrheit. Auf die Parallele zwischen der formalen (logischen) Wahrheit und der Kohrenz bzw. der materialen Wahrheit und der Korrespondenz gerade im Blick auf ihre Herkunft bei Kant machte schon Moritz Schlick aufmerksam. Vgl. Schlick (1986), 66 f., 194 f.

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Arithmetik.12Dass wir uns dabei auf eine schon funktionierende Erluterungsspra- che sttzen, tut der Rekonstruktion kein Abbruch, da bzw. wenn in ihr oft nicht einfach die Frage nach Wahrheit schon als unproblematisch unterstellt wird, son- dern nur die Frage, wie eine Technik richtig handzuhaben ist. Neuraths Gleichnis von der Sprache als einem Schiff, das wir – ohne Mglichkeit im Dock zu landen – direkt auf offener See reparieren mssen, ist in solchen Fllen vollkommen am Platz.13

Was die allgemeinen Formeln der Korrespondenztheorie angeht, zeigen die Ar- gumente Kants und Freges nichtsdestoweniger, dass Wendungen wie

der Satz „Schnee ist weiß“ ist wahr genau dann, wenn der Schnee weiß ist und das eine Tatsache ist,

oder

der Satz „Sokrates ist weise“ ist wahr genau dann, wenn dem Gegenstand So- krates die Eigenschaft der Weisheit zukommt,

und dergleichen als Erklrungen der Wrter „wahr“ und „Wahrheit“ unzulng- lich sind. Solche Stze sind nmlich nur scheinbare Definitionen. Es handelt sich eher um begriffliche Aussagen, die zeigen, wie die Phrasen, in denen das Wort

„wahr“ vorkommt, in Phrasen umzuformen sind, in denen Worte wie „Tatsache“,

„Gegenstand“ oder „Eigenschaft“ vorkommen. Solche bersetzungen sind nicht wertlos. Ihre Rolle ist jedoch nicht erklrend, sondern expressiv. Gerade auch das Wort „wahr“ selbst kann so, expressiv, zur Betonung oder Anzeige der Performation eines illokutionren Aktes in der 1. oder 3. Person verwendet werden. Oft wird auch nur der ‚Inhalt‘ des quotierten Satzes in einer Nominalphrase benennbar gemacht.14

In der Fregeschen Logik gibt es dazu folgende Umformungsregeln:

der Satz „Sokrates ist weise“ ist wahr genau dann, wenn die Funktion ‚x ist weise‘, angewendet auf den Gegenstand Sokrates, dem Wert das Wahre gibt.

Oder

der Satz „Der Mensch ist sterblich“ ist wahr genau dann, wenn jeder Gegen- stand, der unter den Begriff Mensch fllt, auch unter den Begriff ‚x ist sterb- lich‘ (kurz: ‚der Sterblichkeit‘) fllt.

Die zugehrige formale, funktionale Semantik setzt in ihrer Anwendung offen- bar eine formale, funktionale Syntax voraus. In ihr wird z. B. das Wort „Sokrates“

als Eigenname und „Mensch“ bzw. der Ausdrucksteil „x ist Mensch“ als Begriffs- und damit Funktionsausdruck qualifiziert. Diese Satzanalyse der Fregeschen Logik begrndet dann eine neuartige Analyse der logischen Gltigkeit im Vergleich zur Logik des Aristoteles, die mit Wendungen operiert wie:

der Satz „Sokrates ist weise“ ist wahr genau dann, wenn der Begriff der Weis- heit den Begriff des Sokrates enthlt.

WittgensteinsTractatusliefert insofern eine erste ausgearbeitete Version der Kor- respondenztheorie, zugleich ihren Prototyp, als dort die Wahrheit der (konkreten)

12 In Frege (1893), § 32 ist z. B. fr die einzelnen Stze des Systems konventionell („durch Festsetzungen“) bestimmt, unter welchen Bedingungen sie das Wahre bedeuten.

13 Neurath (1944).

14 Brandom (1994), 327. Dazu auch Stekeler-Weithofer (1986) und (1996).

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Stze oder sinnvollen Aussagen anders als in der Mathematik von dem abhngig gemacht wird, was in der Welt erfahren und zugleich in der Sprache artikuliert werden kann. Das Modell ersetzt die klassische und unscharfe Rede von einer

„bereinstimmung einer Erkenntnis mit einem Gegenstand“ bzw. „adequatio intel- lectus et rei“ endgltig.

Der zentrale Begriff desTractatus ist der Begriff der „Abbildung“. Die zugleich erfahrbare und beredbare Welt ‚besteht‘, metaphorisch gesprochen, aus Tatsachen.

Die Stze der Sprache sind, ebenfalls im Bilde gesagt, ihreBilder. Ein elementarer Satz stellt eine bestimmte Konfiguration der (einfachen) Gegenstnde dar. Aus ihnen lassen sich komplexe mgliche Sachverhalte(state of affairs)zusammenset- zen, wobei im Satz den ‚mglichen Gegenstnden‘ die sie vertretenden Namen ent- sprechen. Eine solche mgliche Sachlage kann bestehen oder nicht.

Damit ist eine gewisse Isomorphie zwischen der sprachlichen Ebene und der ‚on- tischen‘ Ebene der Sachlagen und Tatsachen als wesentlich erkannt. Ohne sie knn- te man gar nicht ber mgliche Sachlagen und ihr Bestehen reden. Ein Satz kann ja hier nicht nur dann Bedeutung haben, wenn er wahr ist.

Komplexe Stze reprsentieren also (komplexe, mgliche) Situationen (Sachla- gen). Die (beredbare, mgliche) Welt ist dadurch bestimmt, welche mglichenSach- verhaltees gibt, die wirkliche dadurch, welche bestehen, alsoTatsachensind, und das heißt: welche konkreten Aussagen wahr sind.

Ein elementarer Satz heißt, anderseits, ‚wahr‘, wenn er als Bild oder Symbol fr einen bestehenden elementaren Sachverhalt gebraucht wird, und zwar so, dass wir die Richtigkeit dieses Gebrauchs im direkten Blick auf das Erfahrbare gemeinsam beurteilen. Formal erhalten wir die erwnschte Korrespondenzformel.

Die Frage, worin jene „bereinstimmung“, jene „Abbildung“ eines elementaren Sachverhaltes durch einen elementaren Satz besteht, wird von Wittgenstein schon hier durch den Hinweis auf den Gebrauch, die Beurteilung des ‚Zutreffens‘ beant- wortet. Diese Urteile (wie: „das da ist ein Stuhl“) muss man lernen, so wie man die elementaren Aussagen der Arithmetik (wie z. B. „3 < 4“) lernen muss. Wirklich in- formative Aussagen sind daher nach dem Modell des Tractatus logisch immer schon komplex. Sie enthalten sogar schon auf die eine oder andere Weise Quanto- ren, etwa ber andere situationelle Bedingungen. Es ist also nichts Mystisches, was den konkreten elementaren Satz im Fall des Vorliegens der elementaren Tatsache zu einem wahren Satze macht, sondern einfach so etwas wie eine definitorische Kon- vention oder Projektionsregel.

Elementare Stze bilden dann auch nicht die Welt unserer Erfahrung ab. Viel- mehr sind sie es, wodurch Welt artikuliert, und das heißt: gleichzeitig sprachlich und praktisch gegliedert wird. Wittgensteins Modell des Tractatus kann also mit vollem Recht als ein transzendentaler logischer Empirismus bezeichnet werden.15

Bertrand Russell dagegen wollte den Begriff der Tatsachen ganz unabhngig von der Sprache und vom Menschen berhaupt verstehen. Manche Tatsachen sind bis- her unbekannt und manche vielleicht sogar unerkennbar. Russell argumentiert z. B.

damit, dass die Steine zu Boden fielen, lange bevor sich der erste Mensch auf der

15 Siehe Stekeler-Weithofer (1995).

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Erde zeigte, oder dass im rechtwinkligen Dreieck die Flche des Quadrats ber der Hypothenuse der Summe der Flchen der Quadrate ber den beiden Katheten auch vor Pythagoras gleich war oder dass die menschliche Erkenntnis angesichts des Umfangs und der Komplexitt der Welt (der Natur oder auch Gottes) sowieso un- vollkommen und lckenhaft sei. Nach Wittgenstein bedeutet das aber, dass es reiner Zufall wre, eine Art merkwrdiges Glck, dass sich Stze und Aussagen durch Tatsachen, die vllig unabhngig von jedem Bezug auf Sprache und den Begriff der mglichen Erfahrungskontrolle sind, in wahre und falsche einteilen lassen bzw.

auf diese gnzlich von uns losgelste, in diesem Sinn transzendente Wirklichkeit berhaupt passen. Wittgensteins Modell will dagegen zeigen, wann es berhaupt erst einen Sinn hat, die Antwort auf die Frage nach einer bereinstimmung oder Korrespondenz zwischen empirischem Satz und Tatsache zu suchen.

Am Ende war es die Sackgasse Russells und ein gewisses Unverstndnis des Aus- wegs, den Wittgenstein zeigt, wodurch Mitglieder des Wiener Kreises wie Neurath veranlasst wurden, die ganze Korrespondenztheorie der Wahrheit als verabscheu- ungswrdige Metaphysik abzulehnen. Neurath war dabei der erste, der meinte, St- ze knne man nur mit Stzen, nicht mit Erfahrungen oder mit der Welt ‚verglei- chen‘.16Allerdings hatte Wittgenstein nicht von einem Vergleich, sondern von einer (einzubenden) Projektionsregel gesprochen. Und er hat den Abbildbegriff nicht vorausgesetzt, sondern modellartig erlutert. Daher trifft ihn auch nicht die Kritik Freges an einem unbedachten Umgang mit einem Wort wie „bereinstimmung“:

Eine bereinstimmung ist eine Beziehung. Dem widerspricht aber die Gebrauchsweise des Wortes „wahr“, das kein Beziehungswort ist, keinen Hinweis auf etwas anderes enthlt, mit dem etwas bereinstimmen solle. […] Auch kann eine bereinstimmung ja nur dann voll- kommen sein, wenn die bereinstimmenden Dinge zusammenfallen, also gar nicht verschie- dene Dinge sind. Man soll die Echtheit einer Banknote prfen knnen, indem man sie mit einer echten stereoskopisch zur Deckung zu bringen sucht. Aber der Versuch, ein Goldstck mit einem Zwanzigmarkschein stereoskopisch zur Deckung zu bringen, wre lcherlich. Eine Vorstellung mit einem Dinge zur Deckung zu bringen, wre nur mglich, wenn auch das Ding eine Vorstellung wre. Und wenn dann die erste mit der zweiten vollkommen bereinstimmt, fallen sie zusammen. Aber das will man gerade nicht, wenn man die Wahrheit als berein- stimmung einer Vorstellung mit etwas Wirklichem bestimmt. Dabei ist es gerade wesentlich, dass das Wirkliche von der Vorstellung verschieden sei. Dann aber gibt es keine vollkommene bereinstimmung, keine vollkommene Wahrheit. Dann wre berhaupt nichts wahr; denn was nur halb wahr ist, ist unwahr. Die Wahrheit vertrgt kein Mehr oder Minder.17

Die These, dass man nicht Stze mit einer erfahrbaren Wirklichkeit, sondern nur mit anderen Stzen ‚vergleichen‘ knne, fhrte Neurath und seine Nachfolger wie Quine und Davidson zu einer Kohrenztheorie der Wahrheit und damit, ob sie dies wollten und merkten oder auch nicht, in eine gefhrliche Nhe zu einem linguisti- schen Idealismus oder ‚radikalen Rationalismus‘:

Wird uns nun ein neuer Satz vorgewiesen, so vergleichen wir ihn mit dem System, ber das wir verfgen, und kontrollieren nun, ob der neue Satz im Widerspruch mit dem System steht

16 Neurath (1931), 403.

17 Frege (1918/19), 59 f.

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oder nicht. Wir knnen, falls der neue Satz im Widerspruch mit dem System steht, diesen Satz als unverwendbar („falsch“) streichen, […] oder aber man kann den Satz „annehmen“ und dafr das System so abndern, dass es, um diesen Satz vermehrt, widerspruchslos bleibt. Er hieße dann wahr.18

Dieser sogenannte syntaktische Aufstieg (syntactic ascent)19 hat leidenschaft- liche Debatten hervorgerufen. Er bedeutete nicht nur eine Absage an den frher gefeierten Tractatus und seine Idee eines basalen Systems von Elementarstzen, welche ber projektive Konventionen durch mgliche Erfahrung auf Ja/Nein fest- gelegt werden. Neurath attackierte darber hinaus ein Grundprinzip des logischen Empirismus, nmlich die privilegierte Rolle empirischer Erfahrung fr die Erkennt- nis der Welt. An seine Stelle tritt ein allgemeiner Glauben an die Physik, eine Art holistischer Physikalismus.

Wie die meisten Mitglieder des Wiener und Berliner Kreises (Carnap, Popper, Hempel) war auch Schlick zunchst von Neuraths Kritik an der Unkorrigierbarkeit der Basisstze, der elementaren Stze des Tractatus, beeindruckt. Aber er erkennt dann nur in eigenen Worten die Idee desTractatus, wenn er sagt:

Es scheint mir eine große Verbesserung der Methode zu bedeuten, dass man nicht nach den primrenTatsachen, sondern nach den primrenStzensuchte, um zum Fundament der Er- kenntnis zu gelangen.20

Dabei hatte Wittgenstein nie nach primren Tatsachen gesucht, diese auch kei- neswegs mit infalliblen Protokollstzen in Verbindung gebracht, sondern nur eine

„transzendentale“ Logik21 im Sinne eines Modells entwickelt. Es soll nur modell- artig gezeigt werden, wie man sich den Aufbau von Wahrheitsbedingungen fr Stze, welche tiefengrammatisch schon eine logisch komplexe Struktur haben, auf der Basis irgendwelcher basalerer Stze vorstellen kann und sollte. Was je konkret als basal zhlt oder zhlen darf, hat er aus gutem Grund nie gesagt. Neurath zeigt daher nur, dassseineVorstellung von absolut basalen Protokollstzen in gewisse Schwierigkeiten gert, was sie in der Tat auch tut.

Obwohl die Deutung Neuraths durchaus Probleme und Ambivalenzen in der Konzeption desTractatusaufweist, knnen wir jetzt in Kontrast zu ihr seine tran- szendentale und pragmatische Wende als Weiterentwicklung und Verallgemeine- rung von Freges holistisch-semantischer berlegungen begreifen.

Frege unterscheidet bekanntlich zwei syntaktische und dann auch semantische Kategorien, die ungesttigten Funktionsausdrcke und Funktionen einerseits, die Namen und ‚Gegenstnde‘ andererseits. Die Unterscheidung ist keine ‚ontologische‘

zwischen ‚Dingen‘, sondern ein logische. Sie sttzt sich auf eine durch Substituti- onsprinzipien erhaltene Satzzerlegung. Wittgenstein hat diese Methode im wesent- lichen bernommen, wobei er leider nicht deutlich genug zu machen scheint, dass ernichtvon einer schon gegebenen Welt (der Tatsachen und Dinge) zum Satz (und

18 Neurath (1932/33).

19 Coffa (1991), 363 ff.

20 Schlick (1934), 79–99.

21 Wittgenstein (1984d), 6.13.

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Namen) fortschreitet, sondern umgekehrt die naheliegenden Stze zur Welt als Ge- samt aller Tatsachen sprachanalytisch erlutert. Wittgensteins Darstellung lsst es aber so erscheinen, als ob er einfach voraussetze, dass die Welt in ihrer Substanz aus einfachen Gegenstnden zusammensetzt sei. Es scheint dann so, als ob die Analyse des Satzes zuflligerweise zu einer isomorphen Struktur fhrt, zu den ‚Namen‘, die den ‚Gegenstnden‘ entsprechen. Das liegt aber nur an der Darstellung, die mit scheinbar schon klaren Thesen beginnt, diese aber gerade als erluterungsbedrftig behandelt, wie seine eigene Leseanleitung ja explizit sagt.22

Dass ein Wort nur im Satzkontext eine Bedeutung hat23, wurde spter auch von Quine berzeugend in seine berlegungen zur Aneignung der Sprache einbezogen.

Die Wrter, und was sie bedeuten, lernen wir kontextuell, in einer Konfrontation ganzer Stze mit (typischen) Situationen.24 Das ist bei Relationswrtern wie „links von“, „unter“ usw. ohnehin klar. In gewissem Sinne ist aber jedes Wort in seinem Inhalt und Gebrauch immer synkategorematisch bestimmt. Und schon Prdikato- renregeln wie: „Lwen bellen nicht, sie brllen“ sind dabei holistische Einschrn- kungen fr die Anwendung der Wrter „bellen“ und „brllen“.25

III.

Oft wird nicht gesehen, dass der Tractatus auf ein schwerwiegendes, internes Problem antwortet: Wenn es die entsprechende Tatsache ist, welche einen Satz wahr macht, was macht ihn dann falsch? Als erste Mglichkeit knnten wir denken, neben den Tatsachen gbe es so etwas wie negative Tatsachen. Diesen Gedanken hatte aber schon Russell selbst verworfen, als er sich mit Meinongs Hyperrealismus auseinander setzte, dem zufolge auch das, was es nicht gibt, in gewissem Sinne existieren muss, sonst knnte man davon gar nicht sagen, dass es nicht existiert.

Fr einige Zeit neigte Russell dazu zu sagen, dass den falschen StzenkeineTatsa- che entspreche.26 Bestnde aber die Falschheit des Satzes in derAbwesenheit der entsprechenden Tatsache, dann wren wir nicht imstande, falsche Stze von sinn- losen, tautologischen oder kontradiktorischen zu unterscheiden, denen ja auch kei- ne Tatsachen entsprechen, selbst wenn alle enthaltenen Namen irgendwelche ‚Ge- genstnde‘ bezeichnen sollten.

Der Unterschied zwischen einem wahren Satz, welchen wir verstehen, und zwar

22 Es ist daher auch kein Wunder, dass schon die Stze 2.0121 oder 2.0122 imTractatus(Wittgenstein (1984d)) in einer ‚realistischen‘ Lesart nicht zu verdauen sind, sondern eine holistisch-analytische Lesart verlangen. Der SatzNicht: „Das komplexe Zeichen ‚aRb‘ sagt, dass a in der Beziehung R zu b steht“, sondern:Dass„a“ in einer gewissen Beziehung zu „b“ steht, sagt,dassaRb(3.1432) ist dann aber nicht nur eine explizite Aufforderung zur Verwandlung der realistischen in die holistische Perspektive, sondern auch ein Hinweis darauf, dass nicht das abstrakteSymbol aRb qua komplexer Ausdruck, sondern die Tatsache, dass in einer ußerung der Ausdruck „a“ in die entsprechende Relation zu „b“ gebracht wird, sagt, dass aRb.

23 Vgl. dazu FregesGrundlagenmit Wittgenstein (1984d), 3.3.

24 Siehe Quine (1960); ferner auch ders. (1990).

25 Siehe Lorenzen (1974), 70.

26 Das ist eingehender erklrt in: Coffa (1991), 142 ff.

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ganz unabhngig von seiner Wahrheit oder Falschheit, und einem sinnlosen Satz kann uns in einer abstrakten Erluterungssprache dazu veranlassen, nicht nur da- rber zu reden, was den Satz wahr macht, d. h. die Tatsachen, sondern auch darber, was ihn sinnvoll macht, d. h. seinen Inhalt oder Sinn bzw. den im Satz ausgedrck- ten Gedanken. Die Korrespondenzformel lautet dann so: Die Wahrheit des Satzes besteht in der bereinstimmung des Gedankens, den der Satz ausdrckt, mit einer Tatsache. Aber haben wir etwas mit diesem sprachlichen Kunstgriff gewonnen?

Wenn wir unter einem Gedanken so etwas wie eine potentielle mentale Reprsen- tation des Erfahrenen verstehen, dann scheint es so, als wrde ein Satzinhalt mit Tatsachen nur durch Vermittlung ber eine mentale Reprsentation verglichen.27 Das Ergebnis wird traditionell in einem semantischen Dreieck dargestellt, das die Rahmenidee einer mentalistischen Semantik skizziert, wie sie von Frege, Russell und Wittgenstein gerade abgelehnt wird, und zwar wegen der Unklarheit der Rede von einer mentalen Reprsentation oder Vorstellung. Ein mentalistisch aufgefasster Satzinhalt kann auch nicht als Mittel der Verstndigung dienen, weil er, als rein subjektiv, gerade nicht unbertragbar,nichtintersubjektiv, geschweige denn objek- tiv bestimmt wre. Freges Rede ber „das dritte Reich“ objektiver Gedanken ist vor allem einenegativeAbgrenzung gegen diese mentalistische Theorie. Analoges gilt fr Wittgensteins Kritik an der Vorstellung einer rein subjektiven Privatsprache.

In Russells ‚realistischem‘ Standpunkt finden wir dagegen zwei (abstrakte) Dinge:

einen Gedanken und eine Tatsache. Auf keine von ihnen kann man aber zeigen und sagen: diese Tatsache entspricht diesem Gedanken. Man kann nur sagen, der Inhalt des Satzes A entspricht der Tatsache, dass A bzw.dem, dass A wahr ist. Diese Kor- respondenzformel aber ist eben die Tautologie, die uns gerade nicht weiterhilft, wie Kant schon gemerkt hatte.

Russells Epistemologie findet daher ihren Abschluss, indem sie – von Moore be- einflusst – die Wahrheit (die wahre Proposition)direkt mit der Realitt gleichgesetzt (was immer das heißen soll). Immerhin sieht Russell damit, dass der reine Satzaus- druck ein noch unvollstndiges Symbol, genauer, ein bloßer Trger eines mgli- chen Symbols ist. Erst der Gebrauch des Satzes im Aussage-Akt ist das vollstndige Symbol. Indem dieser Gebrauch richtig oder unrichtig sein kann, wird die Aussage wahr oder falsch. Der Satz hat also eine Bedeutung nur im Zusammenhang des Aussagens oder Urteilens. Dieses aber ist kein reinmentalerAkt.28

Es gibt daher nicht einfach ‚die Wirklichkeit‘, welche direkt ber die Wahrheit unserer Stze entscheiden knnte. Vielmehr, und das ist der transzendentallogische Gedanke desTractatus, wenn die Wirklichkeit die Wahrheit der Aussagen entschei- den soll, muss sie selbst schon begrifflich gegliedert sein, und zwar gerade so wie der Satz, mit dem wir die Aussage machen, tiefengrammatisch oder eben seman- tisch gegliedert ist.

Es liegt daher auch folgende, hier absichtlich leicht bertriebene Wende in der Betrachtung nahe: Wenn es nicht die Wirklichkeit ist, die ber die Wahrheit der Stze entscheidet, knnte es doch umgekehrt die Wahrheit von Stzen sein, welche

27 Siehe z. B. Schopenhauer (1986), II. Teil, 138.

28 Vgl. dazu aber auch Russell / Whitehead (1910), 44.

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darber entscheidet, was wirklich ist. Eine Tatsache ist damit einfach das, was ein wahrer Satz sagt. „Eine Tatsache ist ein Gedanke, der wahr ist“29 behauptet denn auch Frege wrtlich. Macht ihn das zu einem transzendentalen Idealisten? Aber er kann doch offensichtlich nicht gleichzeitig beides sein, begriffsrealistischer Plato- nist und Idealist.

Freges Gedanke ist nur das, was wir am Satz verstehen. Die Mglichkeit der ge- genseitigen Verstndigung (nicht etwa irgendein subjektives „cogito“) ist dabei ein schlichtes Faktum. Der Gedanke als intersubjektives Korrelat des Satzes „steht allen, die ihn auffassen, in derselben Weise und als derselbe gegenber.“30 Der Einzelne kann daher einen Gedanken nicht etwa mit einem Satz ganz willkrlich verbinden.

Denn nur wenn wir verschiedene Artikulationen (konkrete Stze, Aussagen) etwa auch verschiedener Personen als inhalts- und damit als gedankengleich bewerten, drcken diese ‚den gleichen‘ Gedanken aus. Ein Gedanke ist daher ein Abstraktum, kein konkretes mentales Ereignis, und erst recht keine platonistische Entitt. Ge- danken gibt es also nur in einer gemeinsamen Praxis des Sprachgebrauchs:

Wenn man einen Gedanken fasst oder denkt, so schafft man ihn nicht, sondern tritt nur zu ihm, der schon vorher bestand, in eine gewisse Beziehung, die verschieden ist von der des Sehens eines Dinges und von der des Habens einer Vorstellung.31

Diese bei oberflchlicher Lesart platonistisch anmutende ußerung Freges ist

„bloß“ eine analytische Artikulation des wichtigen begrifflichen Unterschiedes zwi- schen individuellen Vorstellungen, Ideen und Konstruktionen und einem gemein- sam verstehbaren Inhalt. Die Mglichkeit der Verstndigung wird also nicht durch das Postulat eines Reiches ewiger Gedanken erklrt, sondern umgekehrt: in unseren Kommentaren zur Verstndigungspraxis reden wir ber Gedanken.

Hier finden wir einen wirklichen Wechsel der semantischen Perspektive in der Deutung der Korrespondenzformel: Wir erklren den Begriff der Tatsache auf der Basis dessen, dass wir mit sinnvollen Stzen richtig umgehen, konkrete Stze als wahr, falsch oder noch nicht entschieden beurteilen knnen – und nicht umgekehrt.

Als bekannt unterstellt wird hier also die Mannigfaltigkeit der Satzverwendung. Sie geht nicht dem voraus, was es gibt, wohl aber dem, was man jeweils sinnvollerweise als existent behaupten kann.

In dieser Hinsicht beginnt schon bei Frege, nicht erst bei Wittgenstein, die lin- guistische und pragmatische Wende der Betrachtungsart.

IV.

In seiner Untersuchung desGebrauchsdes Wortes „wahr“ gelangt Frege zur Ein- sicht seiner Undefinierbarkeit:

Wahrheit ist offenbar etwas so Ursprngliches und Einfaches, dass eine Zurckfhrung auf noch Einfacheres nicht mglich ist. […] Wir sind daher darauf angewiesen, das Eigentmliche

29 Frege (1918/19), 74.

30 Frege (21983), 145.

31 Frege (1918/19), 69, Anm.

(12)

unseres Prdikates durch Vergleichung mit anderen ins Licht zu setzen. Zunchst unterschei- det es sich von allen anderen Prdikaten dadurch, dass es immer mit ausgesagt wird, wenn irgend etwas ausgesagt wird. Wenn ich behaupte, dass die Summe von 2 und 2 5 ist, so be- haupte ich, dass es wahr ist, dass 2 und 3 5 ist. Und so behaupte ich, es sei wahr, dass meine Vorstellung des Klner Domes mit der Wirklichkeit bereinstimme, wenn ich behaupte, dass sie mit der Wirklichkeit bereinstimme. Die Form des Behauptungssatzes ist also eigentlich das, womit wir die Wahrheit aussagen, und wir bedrfen dazu des Wortes „wahr“ nicht. Ja, wir knnen sagen: selbst da, wo wir die Ausdrucksweise „es ist wahr, dass …“ anwenden, ist eigentlich die Form des Behauptungssatzes das Wesentliche.32

Allem Anschein nach bekennt sich hier Frege zu einer Art Redundanztheorie der Wahrheit, welche – traditionell mit Ramsey33 verbunden – von Wittgenstein in folgendem Motto zusammengefasst wurde:

Was heißt denn, ein Satz‚ist wahr‘? ‚p‘ ist wahr = p.(Dies ist die Antwort.).34

Damit istnichtgesagt, dass diese quivalenzdas Einzigewre, was wir ber ‚den Begriff der Wahrheit‘ und ber den Gebrauch des Wortes „wahr“ sagen knnen. Erst recht falsch wre anzunehmen, dass der Begriff der Wahheit in der Theorie der Bedeutung keine wesentliche Rolle spielte.35 Denn Wahrheit ist zentrales Thema der Logik, obwohl die performative oder betonende Verwendung des Wortes „wahr“

dies nicht ist, sondern als ‚redundant‘ erklrt wird. In der Formulierung unterschei- den sich dabei Frege und Wittgenstein. Bei Frege hat das Redundanzprinzip die Form:

Die Behauptung, dass „p“ wahr ist = Behauptung p.

Allerdings meint Wittgenstein dasselbe. Denn bei ihm ist, wie besonders F. Kam- bartel deutlich gemacht hat, ein(konkreter) Satzselbst immer schon eine Behaup- tung, und nicht bloß eine zusammengesetzte Figur, schließt also den Akt der Be- hauptung mit ein.36 Der konkrete Satz ist schon ein Sprechakt, in welchem der gegebene abstrakte Satz qua Figur oder Ausdruck als ‚wahr‘ bewertet oder ‚gesetzt‘

wird.

Das pragmatische Moment, durch welches sich die Behauptung eines Satzes (bzw.

des entsprechenden Gedankens) von anderen Sprechakten wie z. B. der Frage oder dem Befehl unterscheidet, nennt Frege „behauptende Kraft“ und reserviert zu ihrem Ausdruck das begriffsschriftliche Symbol „|—–p“. Im performativen Gebrauch dieses Symbols oder dann auch des Ausdrucks „es ist wahr, dass p“ wird ein Wahrheits- anspruch explizit gemacht:

Wenn jemand mit behauptender Kraft etwas sagt, wovon er weiß, dass es falsch ist, so lgt er. Nicht so ein Schauspieler auf der Bhne, der etwas sagt, was falsch ist. Er lgt nicht, weil die behauptende Kraft fehlt.37

32 Frege (21983), 140.

33 Ramsey (1931), 142 ff.

34 Wittgenstein (1984a), Teil I, Anhang III, § 6.

35 Vgl. Dummett (1973), 458 ff., bzw. das ganze Kapitel 13; ferner Tugendhat (1976).

36 Kambartel (1991), 12–137.

37 Frege (21983), 252.

(13)

Es ist nun klar, dass

(|—– („p“ ist wahr)) = |—– p

nur die Konstatierung der Trivialitt ist, dass die Behauptung des Satzes quiva- lent ist damit, dass man den Akt der Behauptung explizit macht. Ansonsten wird einfach festgesetzt, dass die ‚stotternde‘ Form |—–|—–pentweder als sinnlos gilt oder

|—– pgleichgesetzt wird, dass man also mit „es ist wahr, dass es wahr ist, dass p“

einfach dasselbe sagt wie mit „es ist wahr, dass p“.

Der Ausdruck „es ist wahr, dass“ wird in den betrachteten Kontexten also gerade nicht als ‚Prdikat‘, sondern als performativer Operator begriffen, fr den gilt O(Op) = O(p), wobei O(p) bzw. „es ist wahr, das p“ gerade dasselbe sagt wie der Behauptungsstrich |—–. Damit steht Freges ‚Redundanztheorie der Wahrheit‘nicht im Widerspruch zu Freges Vorgehen in den Grundgesetzen, wo fr die einzelnen Stze des Systems festsetzt wird, unter welchen Bedingungen sie das Wahre bedeu- ten sollen.38

Wenn Frege die Prioritt des Satzes betont, so hngt das damit zusammen, dass der Satz die kleinste sprachliche Einheit (qua Figur oder Ausdruck) ist, mit deren ußerung man eine Aussage (einen vollstndigen Sprechakt) machen kann und

„bei [der] Wahrheit berhaupt in Frage kommen kann.“39 Frege stimmt hierin mit der sich parallel entwickelnden strukturalen Linguistik vllig berein (zumal er sich fr die Grammatik immer schon interessiert hatte). DasWort„wahr“ spielt dabei gar keine so große Rolle:

[Das Wort] „wahr“ [macht] eigentlich nur einen missglckten Versuch, auf [das Wesen der]

Logik hinzuweisen, indem das, worauf es eigentlich dabei ankommt, gar nicht in dem Worte

„wahr“ liegt, sondern in der behauptenden Kraft, mit der der Satz ausgesprochen wird. […]

Dasjenige nun, was den Hinweis auf das Wesen der Logik am deutlichsten enthlt, ist die behauptende Kraft, mit der ein Gedanke ausgesprochen wird.40

Ein (Aussage-)Satz (qua Ausdruck) ist etwas, womit wir eine Aussage machen knnen, dieerst ein Zug im Sprachspiel ist41. Die Wrter „Wahrheit“ und „Gedanke“

helfen uns dann nur, die pragmatischen Rollen eines Satzes explizit zu thematisie- ren. Frege und Wittgenstein (der letztere freilich nur in der hier geschilderten Les- art) sind also Proponenten einer ‚pragmatischen‘ Wahrheitsauffassung, einer Per- formanz- und Redundanztheorie, welche den Gebrauch des Wortes „wahr“ im Kontext performativer Akte der Behauptung und Zustimmung sehen, vor dem Hin- tergrund von (unterstellten, impliziten) Kriterien oder Normen des Richtigen. Im Sprechaktverpflichtetman sich, grob gesagt, auf das Richtige.

Diese Verpflichtung hat R. Brandom in Nachfolge von W. Sellars als eine diskur- sive Inferenzverpflichtung(inferential commitment)in seinem BuchMaking It Ex- plizit bestimmt. Eine duchaus hnliche Idee findet sich aber schon in der Dialogi- schen Logik bei Paul Lorenzen und Kuno Lorenz: Wer eine Aussage macht (der Proponent), verpflichtet sich damit, sie auf Nachfrage eines Gesprchpartners (Op-

38 Frege (1893), § 32.

39 Frege (21983), 273.

40 Ebd., 272.

41 Wittgenstein (1984b), § 49.

(14)

ponenten) zu verteidigen (begrnden), und zwar entweder dadurch, dass man ge- wisse andere Aussagen behauptet und begrndet, oder dadurch, dass man Aus- sagen, zu denen sich der Opponent bekannt hat, benutzt.

Wie steht es nun mit der folgenden Kritik Wittgensteins imTractatus?

Freges „Urteilsstrich“ „|—–“ ist logisch ganz bedeutungslos; er zeigt bei Frege (und Russell) nur an, dass diese Autoren die so bezeichneten Stze fr wahr halten.42

Jourdain hat entsprechend die bloß ‚psychologische‘ Natur der Behauptungskraft behauptet.43Im Grund haben wir gesehen, dass Wittgenstein (und Jourdain) das nur sagen knnen, weil sie es nicht fr ntig halten, den performativen Akt der Behaup- tung in der Schrift zu notieren – obwohl wir das mit Satzschlußpunkt durchaus tun.

Daher trifft Wittgenstein erst in einem zweiten Versuch ins Schwarze. In denPhi- losophischen Untersuchungenschreibt er:

Das Fregesche Behauptungszeichen betont den Satzanfang. Es hat also eine hnliche Funktion wie der Schlusspunkt. Es unterscheidet die ganze Periode vom Satz in der Periode.

Wenn ich Einen sagen hre „es regnet“, aber nicht weiß, ob ich den Anfang und den Schluss der Periode gehrt habe, so ist dieser Satz fr mich noch kein Mittel der Verstndigung.44

Wir betrachten dazu auch den Unterschied zwischen:

(1) |—– (wennA, soB) (2) |—– (wennA, soB), |—–B.

In beiden Fllen spricht der Proponent sowohl den Satz A als auch den Satz B aus. Im ersten Falle verpflichtet er sich nicht zu seiner Verteidigung, im zweiten nur von B.

Auch Dummett sieht in der Unterscheidung zwischen dem Sinn des Satzes (dem Gedanken, den Wahrheitsbedingungen) und der Behauptungskraft (die mit dem Aussprechen des Satzes verbunden ist) ein Argument dafr, „dass eine Unter- suchung des Gebrauchs der Sprache im Kommunikationsprozess eine legitime Wei- terbildung der Fregeschen Theorie, ja eine notwendige Ergnzung dieser Theorie darstellt.“ Schon die erwhnte Unterscheidung impliziert nmlich nach Dummett, dass „die Stze einer Sprache ihre jeweiligen Gedanken nicht ausdrcken [knnten], wenn sie nicht mit assertorischer Kraft geußert werden knnten; denn nur weil sie so verwendet werden, darf man von ihnen sagen, dass sie Wahrheitsbedingungen haben.“45

V.

Misstrauen und Ablehnung der pragmatischen Wahrheitstheorie wurzeln in ers- ter Linie in der Gleichsetzung des „Pragmatischen“ mit dem „Ntzlichen“. Bertrand Russell stellt die Populrversion der pragmatischen Devise in ironischer Reaktion

42 Wittgenstein (1984d), 4.442.

43 Frege (1976), 126.

44 Wittgenstein (1984b), § 22.

45 Dummett (1988), Kap. 2.

(15)

auf William James46so dar: „Etwas ist wahr, wenn es sich auszahlt, dass man es fr wahr hlt.“47

Andererseits unterstellt Russell selbst, dass der gesunde Verstand(common sense) das, was wahr ist, klar trennen knne von dem, was ntzlich ist oder sich auszahlt.

Das ist im Einzelnen sicher oft der Fall. Der pragmatische Standpunkt beruht aber gerade darauf, dass die allgemeine Unterscheidung, d. h. die Kriterien der Einzel- unterscheidung zwischen dem Wahren und dem Falschen schon abhngig ist da- von, was wir mit ihr machen, wie sich die Unterscheidung insgesamt in unserer Erfahrung mit der Umwelt und in unserem Handeln bewhrt. Das heißt, die Unter- scheidungspraxis als Ganze ist von Beginn an zweckgebunden, auf unsere (oft ge- meinsamen) Ziele bezogen.

Das gilt sogar fr die Festsetzung der Wahrheitswerte fr arithmetische Stze, wie Wittgenstein hervorhebt. Diese darf dann freilich nicht verwechselt werden mit der Bestimmung der Wahrheit eines Satzes gemß dieser Festsetzung. Im zweiten Fall haben Erwgungen zum Nutzen einer berzeugung keinen Sinn und Ort, sondern sind ganz irrelevant.

Die Berechtigung und Notwendigkeit der pragmatischen Sichtweise sieht man besonders deutlich in der Konfrontation zu den Thesen ihrer Gegner, wie z. B.: „Was die Astronomie oder die Physik sagen, ist, falls es wahr ist, ganz neutral, in dem Sinn, dass es keine spezielle Beziehung zu uns oder zu unserer Umgebung hat.“48 Oder: „Es gibt Tatsachen, die man sich nicht vorstellen kann.“49usw. Diese Behaup- tungen stehen nicht nur im klaren Widerspruch zu einer pragmatischen Wissen- schaftsauffassung (die Natur antwortet nicht, wenn sie nicht befragt wird), sondern bersehen oder unterschlagen auch die Erfahrungs- und Sprachabhngigkeit all dessen, wovon die Astronomie oder Physik spricht.

Besonders instruktiv ist in diesem Zusammenhang Freges Diskussion dessen, wo- von etwas durch eine Zahlangabe ausgesagt wird:

Wenn ich [jemandem] einen Pack Spielkarten in die Hand gebe mit den Worten: bestimme die Anzahl hiervon, so weiss er nicht, ob ich die Zahl der Karten oder der vollstndigen Spiele oder etwa der Wertheinheiten beim Skatspiele erfahren will. Damit, dass ich ihm den Pack in die Hand gebe, habe ich ihm den Gegenstand seiner Untersuchung noch nicht vollstndig gegeben; ich muss ein Wort: Karte, Spiel, Wertheinheit hinzufgen.50

In dieser berlegung wird nicht nur die Abhngigkeit jeder quantitativen Angabe vom zugehrigen Maß und der zugehrigen Bestimmung von Einheiten bzw. Ge- genstandsmengen thematisiert, sondern es wird auch schon Quines These von der Unbestimmtheit der Referenz antizipiert. Eine bloß deiktische Gebrde in die Rich- tung von etwas reicht nicht. Die Frage „wie viel?“ muss immer durch die Angabe eines Maßes (zum Beipiel eines Sortalprdikats) ergnzt werden.

In dem Artikelber das Trgheitsgesetzweist Frege dann auch noch darauf hin,

46 James (1996).

47 Russell (1959), Kap. 15.

48 Russell (1992), 46 (bersetzung: V. K.).

49 Ebd., 169 (bersetzung: V. K.).

50 Frege (1884), § 22.

(16)

dass eine unvorsichtige Anwendung von Begriffen wie „Bewegung“, „Materie“,

„Kraft“, „absoluter Raum“ usw. oft genug zu unntigen metaphysischen Spekula- tionen und zu Missverstndnissen des Erluterungswertes physikalischer Gesetze fhrt:

Wenn wir die [Newtons] Hypothese des absoluten Raumes fr sich betrachten, so haben wir darin offenbar etwas, was jede Erfahrung berschreitet; die Bewegung in bezug auf diesen ist unverkennbar, und es lassen sich ber sie demnach auch keine Gesetze aus der Erfahrung ableiten. Anders wird die Sache, wenn wir die Hypothesen des absoluten Raumes und der absoluten Zeit mit der des Trgheitsgesetzes zu einer einzigen verbinden. Dadurch wird der absolute Raum mit den wahrnehmbaren Erscheinungen in Zusammenhang gebracht, und unter dieser Voraussetzung lassen sich dann, wie Newton tut, Aussagen ber die Bewegung im absoluten Raume machen, welche mit der Erfahrung verglichen werden knnen.51

Diese und weitere Stellen fhren schon in die Richtung eines Holismus vom Qui- neschen Typus, d. h. zur Doktrin der Abhngigkeit des Ausdrucksinhaltes von einer ganzen Theorie: „Nur das Ganze der dynamischen Grundgesetze kann als Hypothe- se mit der Erfahrung verglichen und durch sie besttigt werden.“52Sie zeigen auch, dass Frege das Problematische des Verhltnisses zwischen einer Theorie (Hypothe- se) und der Erfahrung, also das Problematische der Korrespondenztheorie der Wahrheit erkennt, ohne – wie manche Proponenten der Kohrenztheorie – die Rolle der sinnlichen Erfahrung, also den Vergleich der Sprache mit der Welt zu unter- schtzen oder sie sogar ganz auszuschließen.

Die physikalischen Gesetze, wie gerade das Trgheitsgesetz, nach welchem die Krper im Zustand der Ruhe oder geradlinig-gleichfrmiger Bewegung verharren, solange keine Krfte auf sie wirken, sind wahr oder falsch nicht einfach auf der Basis dessen, wie die Welt ist. Ein schlichter Vergleich mit der Erfahrung ist hier nicht mglich – sie wrden durch diesen ja auch eher widerlegt als besttigt. (Lan- ge, dessen Text Frege im Artikel rezensiert, schreibt: „Newton knnte uns nicht im mindesten widerlegen, wenn wir seiner Behauptung die entgegenstellten, die abso- luten Bahnen sich selbst berlassener Krper seien spiralig gekrmmt.“53) Das

‚Apriorische‘ in physikalischen Gesetzen zeigt sich wie im Falle des Trgheitsgeset- zes in jenem immunisierenden Nachsatz: „es ist so und so, solange keine Krfte wirken“. Damit sehen wir die zentrale Beziehung eines bestimmten Gesetzes zu einem Ganzen dynamischer Gesetze, durch welche die im Nachsatz erwhnten Krfte weiter bestimmt werden, und zwar nicht zu einem ganz beliebigen Ganzen, sondern zu einem solchen, das sich im Prozess der ‚theoretischen Beherrschung der Wirklichkeit‘ bewhrt, und zwar gerade indem ihre Artikulationsform mensch- lichen Zielen gengt.

In gewissem Sinn lassen sich Kohrenztheorie, pragmatische Theorie und Korres- pondenztheorie der Wahrheit vershnen. Einzeln fhrt jede zu absurden Kon- sequenzen: das Wahre ist, was eine der zahlreichen kohrenten Satzklassen be-

51 Frege (1891), 145–161.

52 Ebd., 150.

53 Ebd., 147.

(17)

hauptet (1), das Wahre ist, was mir passt (2), oder zur leeren Formel „A“ ist wahr, wenn A (3). Im wechselseitigen Bezug ergnzen sich die Aspekte. Quine sagt dazu:

Recht verstanden sind Kohrenz und Korrespondenz keine konkurrierenden Theorien der Wahrheit, sondern komplementr. Der Aspekt der Kohrenz bezieht sich darauf, wie wir zur Wahrheit nach besten Krften gelangen. Der Aspekt der Korrespondenz bezieht sich auf das Verhltnis der Wahrheiten zu dem, wovon sie Wahrheiten sind.54

Offen ist, ob uns das ausreicht.

Es bleibt nun nur noch zu klren, wie sich eine Objektivitt der sprachlichen Artikulierbarkeit und Mitteilbarkeit mit ihrer Abhngigkeit von Sprache und der Vernunft zu einem Begriff der Objektivitt, wie er mit so genannten ewigen Wahr- heiten wie den physikalischen oder auch den mathematischen Gesetzen verbunden wird, verhlt. Pavel Tichy´ schreibt:

Kann etwa jemand behaupten, dass die Zeit des freien Falls eines Kiesels, bevor Euler und Bernoulli ber Funktionen zu sprechen begonnen haben,nichtder Fallhhe im Einklang mit der Galileischen Tabelle entsprach? Die Funktion ist ja nichts anderes als diese Korrespon- denz. Die Kiesel sind immer im Einklang mit der Funktion des freien Falls gefallen und wer- den auch immer so fallen.55

Radikale Realisten wie Tichy´ meinen, es werde die (falsche) Behauptung der Ab- hngigkeit der Welt von der Sprache verwechselt mit der trivialen (und daher wah- ren) These von der Abhngigkeit des Formulierten bzw. Formulierbaren von der sprachlichen Formulierung. Dabei wird dann aber, erstens, die konventionelle und zweckgebundene Natur der physikalischen „Grundwahrheiten“ unterschtzt. Unser Beitrag, welcher im Entwurf eines geeigneten Rahmensystems der Darstellung und Erklrung von Welt liegt, ist dabei von entscheidender Bedeutung. Zweitens ist die Behauptung der „Ewigkeit“ einer Wahrheit verfhrerisch. Sie ist in einem Sinn tri- vial wahr, in einem anderen falsch. Frege sagt zum Beispiel, dass ein Gedanke, wie der, welcher im pythagoreischen Lehrsatz ausgedrckt wird,ewigoder zeitlos wahr ist.56Damit gibt er aber – nach der oben vorgeschlagenen Leseart – nur etwas ber den Gebrauch („die Grammatik“) des Wortes „Gedanken“ kund, konkreter: ber die Entbehrlichkeit der Zeitbestimmung seiner Wahrheit oder Gltigkeit, also ber die Invarianz empirischer Prdikate (Aussageformen) bezglich des Abstraktors „der Gedanke x“. Die falsche, platonistische Deutung dieser Form der Rede sttzt sich auf die unkritische (oder besser: vorkritische) Verwendung von Redewendungen wie „der Gedanke war schon wahr, bevor ihn jemand entdeckte“.

54 Quine (1987), 214 (bersetzung: V. K.).

55 Tichy´ (1998) (bersetzung: V. K.).

56 Frege (1918/19), 69.

(18)

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ABSTRACT

Seit dem Erscheinen der monumentalen Monographie Dummetts zu Beginn der siebziger Jahre stehen sich zwei Traditionen in der Deutung der Philosophie Freges gegenber, die „platonistische“ (oder auch

„realistische“) Interpretation einerseits und die „holistische“ (oder auch „rationalistische“) andererseits. In meinem Artikel will ich pragmatische Momente im Werk Freges, gewissermaßen als „Vermittlung“, beto- nen. Dies geschieht in der durchaus ambitiseren Absicht, die philosophische Kontroverse um die einfluss- reichsten Wahrheitstheorien (Korrespondenz-, Kohrenz- und Redundanztheorie der Wahrheit sowie pragmatische Wahrheitstheorie) im Lichte von Freges Analysen aufzuhellen. Denn es ist ja der Wahrheits- begriff, den Frege selbst als den zentralen Gegenstand der Logik bezeichnet.

Since the appearance of Dummett’s monumental monograph in the early seventies of the last century there have been two interpretative traditions of reading Frege, one contradicting the other: the platonistic (or realistic) interpretation and the holistic (rationalistic) one. In this article, as a kind of intermediation, I firstly point out some pragmatic aspects of Frege’s work. Secondly, and more ambitiously, I outline the controversy between the most influential theories of truth (the correspondence, coherence, redundancy and pragmatic theory) in the light of Frege’s philosophy. After all it was the concept of truth that Frege himself identified as the main objective of logic.

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