September 30, 2013 1
EINF ¨UHRUNG IN DAS MATHEMATISCHE ARBEITEN
zu 2.1 Indirekter Beweis
Michael Grosser
Bei einem indirekten Beweis beginnt man damit, dass man das Gegenteil dessen annimmt, was man zeigen m¨ochte.
[Skandal! Man k¨onnte sich wenigstens — im Eingest¨andnis dieser frechen Willk¨ur — ab nun alles im Konjunktiv geschrieben denken, weil diese Annah- me ja rein hypothetisch ist: Da wir uns mitten im Beweis befinden,
”wissen wir noch nicht“1, ob der Satz richtig ist. Meist erspart man sich aber aus Be- quemlichkeit diesen Konjunktiv, außer in ganz kurzen indirekten Beweisen.]
Dann leiten wir aus dieser (hypothetischen) Annahme mit gnadenloser Lo- gik, ganz ohne weitere willk¨urlichen Annahmen, einen Widerspruch ab — das ist eine Aussage derart, dass sowohl diese Aussage selbst als auch ihre Gegenteil als wahr nachgewiesen worden ist.
Da wir als OptimistInnen felsenfest davon ¨uberzeugt sind, dass es weder in der Mathematik noch in der Logik einen Widerspruch gibt, ist dieser Zustand des Bestehens eines Widerspruchs unertr¨aglich.
Schuld am Auftreten ebendieses Widerspruchs ist allein unsere waghalsige Annahme, die just das Gegenteil des behaupteten Satzes darstellt; alle rest- lichen Schritte waren ja logisch einwandfrei und sind somit unschuldig.
Es bleibt also als einzige M¨oglichkeit, den Widerspruch zu vermeiden, fest- zustellen, dass unsere Annahme de facto falsch und somit ihr Gegenteil — das ist jedoch genau der zu beweisende Satz! — wahr ist.
Damit ist der Satz bewiesen — mittels eines indirekten Beweises.
1Man spaltet hier (wie meist beim strengen Schlussfolgern in der Mathematik) das Ich in einen Teil, der bereits den ¨Uber-Dr¨uber-Plan vom gesamten Unternehmen hat, der daher nat¨urlich von vornherein
”weiß“, dass der Satz richtig ist (er steht ja schließlich im Buch) und gewissermaßen von außen her den ganzen Beweisvorgang lenkt, und in einen kindlich-unschuldigen Teil, der ganz naiv, ohne ¨Uberblick ¨uber das Ganze und von jeder neuen Wendung ¨uberrascht, sch¨on brav, aber logisch perfekt einen (Beweis-)Schritt nach dem anderen vollzieht. Der, der
”noch nicht weiß“, ob der Satz richtig ist, ist nat¨urlich dieser zweite Teil des Ichs. Am Schluss des Beweises
”erkennt“ dieser zweite Ich-Teil dann ganz ¨uberrascht und erfreut:
”Da schau her, der Satz ist wirklich wahr!“ Der erste Ich-Teil kann dazu nur matt l¨acheln, denkt sich
”Na das w¨ar auch geschafft“ und belohnt sich (und vielleicht auch Teil zwei) angesichts der vollbrachten Leistung mit einem Eis/einem Bier/einer halbe Stunde facebook oder mit was auch sonst immer.