Die buddhistischen Termini jnana und vijnana
nach Leumann und Stcherbatsky
Von W. Kirfel, Bonn
Als Hermann Jacobi sich vor etwa zehn bis elf Jahren
mit der Trimäikävijnapti des Vasubandhu beschäftigte und
diese zusammen „mit dem Bhäsya des Äcärya Sthiramati"
ins Deutsche übersetzte'), scheint er über einzelne buddhi--
stische Begriffe mit seinem damals noch lebenden Freunde
Ernst Leumann mehrfach korrespondiert zu haben. Bei
einer unserer damals noch regelmäßigen Zusammenkünfte
zeigte er mir nämlich einmal ein längeres Schreiben Leu¬
mann's, in dem dieser ihm seine Auffassung über den Be-
^riffsunterscliied der beiden buddhistischen Termini jnäna
imd vijnäna dargelegt hatte. Den unmittelbaren Anlaß zur
Korrespondenz der beiden Geleiirten gerade über diese beiden
schwierigen Begriffe scheint möglicherweise Th. Stcherbat-
sky's Aufsatz ,,Über den Begriff von vijnäna im Buddhis¬
mus" gegeben zu haben, der 1929 in der „Zeitschrift für
Indologie und Iranistik", Bd. 7, S. 136—139 erschien. In
diesem Artikel setzt sich nämlicli Stcherbatsky mit L. Wal¬
lace auseinander, der sein Buch ,, Central conception of
Buddhism and the meaning of the word 'dharma', London
1923" in der „Zeitschrift für Buddhismus", Jg. 8 (1928,
S. 398 besprochen und seine Gleiciistellung der Begriffe citta,
nianah, vijnäna^) angefochten hatte, und er sucht diese
Gleichstellung auf Grund älterer buddhistischer Quellen ein¬
gehend zu motivieren. Jacobi bot mir damals an, von
1) Jacobi's ( bersetzung wurde zum Druck gebracht von Waltbb
U'jBEx in: Beiträge zur indischen Sprachwissenschaft und Religions¬
geschichte, H. :. t^tutlgart 1932.
2) Vgl. das genannte Buch S. 15, 19, 72.
W. Kirfel, Die buddhistischen Termini jnäna und vijnäna 495
Leumann's Ausführungen eine Abschrift zu nehmen, und
als mir diese vor kurzem wieder in die Hand fiel, schienen
jene Ausführungen mir doch recht beachtlich und der Ver¬
öffentlichung wert, selbst wenn sie für eine spätere eingehen¬
dere Behandlung der buddhistischen Terminologie nur als
Material gewertet werden sollten.
Leumann schreibt:
,,Nach buddhistischer Anschauung ist das Dasein oder
Leben, im Großen gesehen, ein Weltwerden, eine Welt¬
entwicklung, bestimmter ausgedrückt: eine Weltverbesserung
auf Grund eines Weltverzichtes.
Es hat lange gedauert, bis unter der ungeheuren Menge
der Einzelwesen vereinzelte Exemplare sich so weit empor¬
arbeiteten, daß sie von der Einsicht in jene Sachlage und in
die Notwendigkeit des Verzichtes beherrscht wurden. Und
wenige wieder von diesen Ausnahmewesen erreichten die
genannte Einsicht im höchsten Maße derart, daß sie lehrend
dieselbe allen übrigen Wesen zu vermitteln unternahmen.
Ein Wesen von solch überragender Art heißt ein Buddha.
Als ideale Verkörperung der geschilderten Einsicht ist er ein
Höchstwesen, und viele Vorstufen, die auf dem Entwick¬
lungsweg zu dem erhabenen Ziele liegen, werden unter¬
schieden.
In letzter Linie ist aber eine ganz primitive Anlage zur
Buddhaschaft jedem Wesen eigen: man heißt sie den Buddha¬
keim oder genauer, indem man dabei für , Buddha' das
Synonym ,Tathägata' setzt, den Tathägata-Keim. Dieser
Tathägata-Keim ist von Anfang an in jedem Einzelwesen
vorhanden als ein verborgenes Kleinod, das von den welt¬
lichen Strebungen umwickelt ist und so nicht zur Geltung
kommen kann. Aufgabe jedes Wesens ist es, dem ihm derart
innerlichst innewohnenden Tathägata-Keim Gehör zu geben
und ihn zu pflegen, ihn mehr und mehr von seiner Hülle zu
befreien.
Die geschilderte Einsicht in das Wesen des Weltlaufs und
in die Pflicht des Weltverzichts — die Einsicht also, wie sie
in einem Buddha zur vollen Entfaltung gelangt ist — führt
Zeitsehrilt d. DMG Bd. 92 (Neue Folge Bd. 17) 32
496 W. Kibfel, Die buddhistisciien Termini jnäna und vijnäna
den Namen jnäna, wörtlich etwa übersetzbar als ,das geist¬
liche Erkennen'.
Ganz verschieden von ihm ist das weltliche Erkennen,
das sich einfach auf die Weltvorgänge und Weltzustände als
solche bezieht, wie analysiert, rubriziert, diskutiert und kon¬
trolliert: dieses bloße Erkennen heißt vijnäna; es ist ein
einfach verstandesmäßiges Vordringen in die Welt, nicht wie
das jhäna ein wahrhaft vernünftiges Darüberstehen mit dem
Blick auf das höchste Ziel.
Allenfalls würde in möglichst wörtlicher Wiedergabe
jhäna als das , Kennen', d. h. das richtige Erkennen der Welt,
und vijnäna als das ,Verkennen', d. h. das falsche Erkennen
der Welt, bezeichnet werden können.
Dem niedrigeren Erkennen {vijnäna) wie auch dem
höheren Erkennen {jnäna) entspricht als das allgemeine Ob¬
jekt {visaya) die Welt. Vom vijnäna aus gesehen ist die Welt
der Samsära (äußerlicher Weltlauf) und führt auch Namen
wir skandhadhätu (Welt der Erscheinungskomplexe) u. dgl.
Vom jhäna aus gesehen heißt die Welt zunächst bhüta-
tathätä (das richtig aufgefaßte oder absolut begriffene Wirk¬
liche), ferner dharma-dhätu ,das Gute' oder das , Heilige';
ebenso wird die Welt vom gleichen Gesichtspunkt (d. h. vom
jhäna) aus angesehen das Nirväna genannt (d. h. das Ver¬
wehtsein ins Absolute), das Eingegangensein ins Heilige, die
Hingabe ans Absolute oder Heilige, innere Einkehr, Seelen¬
frieden.
Die buddhistischen Dogmatiker haben nun schon vor
2000 und mehr Jahren angefangen, über das Wesen der
beiden geschilderten Erkenntnisarten, des jhäna und des
vijnäna, nachzugrübeln. Sie versuchten dieselben psycholo¬
gisch zu begreifen und gegeneinander abzugrenzen, doit die
in einem Buddha zur höchsten Entwicklung gelangende Ein¬
sicht und hier die im Weltteben auf Grund der sinnlichen
Wahrnehmungen und Beobachtungen sich auswirkende Ver¬
standestätigkeit.
Es ergab sich so eine Psychologie, die mit einer Reihe von
Begriffen arbeitet und die je nach der Veranlagung gewisser
W. Kirkel, Die buddliistischen Termini jnäna und vijnäna 497
Denker auch zu verschiedenen Gruppierungen und verschie¬
denen Wertungen geführt hat. Zugleich ist diese Psychologie
für den Buddhisten mehr als bloße Psychologie. Denn da die
Welt als selbständiges Substrat oder Prinzip geleugnet, als
etwas Scheinhaftes, auf das verzichtet werden muß, aufgefaßt
wird, während allein die in dem Weg zur Buddhaschaft und
zum Nirväna sich verkörpernde Selbstentfaltung oder Selbst¬
entwickelung der geistlichen Einsicht (jnäna) ein Absolutes
darstellt, so gewinnen diese höhere ,Einsicht' und das ihr im
Samsära gegenüberstehende ,weltliche Erkennen' für den
Buddhisten die Bedeutung von ontologischen Prinzipien —
oder wenigstens jene Einsicht die eines solchen Prinzips, das
weltliche Erkennen aber die eines ontologischen Pseudo-
prinzips."
Auf den ersten Blick scheint Leumann's Definierung mit
der Stcherbatsky's nicht ganz zu harmonieren, doch ist dem
nicht so. Nach letzterem bedeutet vijnäna nämlich in der
Klassifikation der „Elemente der Existenz" {dharma) in fünf
Gruppen (skandha) ,, reine Empfindung" oder ,, allgemeines
Bewußtsein", überhaupt das Prinzip jedes bewußten Le¬
bens'). Als solches ist es auch das dritte Glied in der Formel
vom Kausalnexus {pratityasamutpäda) und tritt im Augen¬
blick der Empfängnis eigentlich unabhängig von den Er¬
zeugern des physischen Leibes einzig durch die Wirkung der
sarnskära's, d. h. gewisser mit voraufgegangenen Existenzen
ursächlich verknüpfter Wirkungen — gemeinhin karma ge¬
nannt — in Aktion und ist seinerseits wieder die Voraus¬
setzung für die weiteren Entwicklungsphasen in der Kette
des Kausalnexus. Da vijnäna ferner das Element ist, dem die
Sinnesorgane ihre Eindrücke zuführen, wird es zur empiri¬
schen Erkenntnis, also jener, die auf den Wahrnehmungen
der fünf Sinne und der des sechsten oder inneren Sinnes
{manas) beruht. Dieser empirischen Erkenntnis {vijnäna)
steht dann eine absolute, metaphysische Erkenntnis {jhäna)
gegenüber, die Candrakirti in der Prasannapadä, dem Kom¬
mentar zu Nägärjuna's Madhyamakavrtti (Abhandlung über
1) S. SxcHERBATSKy : Central conception, S. 6f., 15 f. usw.
3 32«
498 W. KiRPEi., Die buddliistisclien Termini jiiäna und vijnäna
die Relativität) folgendermaßen charakterisiert: „Wenn du
dir einbildest, man könnte das Nirväna empirisch erkennen,
so ist das unmöglich. Warum? Weil das empirische Bewußt¬
sein nur (gesonderte) Objekte erkennt (aber Nirväna ist das
Ganze). Im Nirväna gibt es keine gesonderten Objekte.
Darum kann es nicht durch empirisches Bewußtsein erkannt
werden. Es läßt sich aber auch nicht durch die transzendente
Erkenntnis {jnänena) erkennen, und warum nicht? Dieses
ist (die absolute Erkenntnis), die ihrem Wesen nach (ewig),
anfanglos (anutpäda) ist. Wie kann diese Erkenntnis, die
selbst undefinierbar ist, (das bestimmte Urteil) ,das Nirväna
ist die Negierung sowohl des Seins wie des Nichtseins' auf¬
fassen! Das Wesen der absoluten Erkenntnis ist tatsächlich
derart, daß sie über jegliche Formulierung hinausgeht
(sarvaprapaiicallta) *)."
1) S. Tu. Stcherbatsky: Ttie conception of Buddliist Nirväna.
Leningrad 1927. S. 202 f.
Mißschreibungen der Gada-Überlieferung Von P, Thieme, Breslau
1. Der <j-Stamm frörati ist nur einmal (Yasna 46. 4b) belegt.
Man nimmt allgemein an, es handle sich um eine Ableitung
von ^är + jra in der Bedeutung ,, Vorwärtsbringen, Fördern"
(so B.\RTiiox.oM.\E, Wörterbuch Sp. 1024, .M. W. Smith, Stu¬
dies in the Syntax of the Gathas p. 123, Lommel, Gäthä's
des Zarathustra. NGGW 1934, S. 105). Doch stehn mehrere
Schwierigkeiten entgegen.
Zunächst ist |/ar intransitiv: ,,gehn". Die Bedeutung
,,gehn machen" hängt an einigen bestimmten faktitivierenden
Formationen (dem Präsens SMl-aya: fmrayat-raüaYiAZAQS,
vyärayeile V. 18. 26, ved. arpayati, dem redupliziertenPräser.s:
Iratu Y. 53. 8, ved. iyarti, irat^), und dem I^räsens mit «-Infix:
ved. rnoii')). Daß sie auch dem Verbalabstraktum auf- ti
eignen sollte, ist recht unwahrscheinlich. Ich wüßte keine
Parallele zu nennen*).
Setzt man sich hierüber hinweg, ist man doch noch immer
nicht wirklich am. Ziel. ,,ln vorwärtsstrebende Bewegung
setzen" — dies die Bedeutung von faktitivem aw. ar + fra,
ved. r + pra — ist nicht ohne weiteres gleich ,, fördern, foster"
oder dergleich"n. sondern läßt sich erst durch eine Umbie¬
gung dazu maciien.
Der Notwendi<rkeit, dies doppelte Bedenken zu überkom¬
men, kann man leicht entgehn. wenn man sich das Wort in
aramäischer Schreibung vorstellt: \"m"l"',2. Denn diese läßt sich als fravrti interpretieren. Zur ,, defektiven" Schreibung des r-Vokals durch 11 statt 1*11 vgl. Andre.\s-Wäckernagel,
1) Vgl. Verf., Pliisiiiianiperfektuin im Veda, S. 52.
2) a. a. ('. S. 5:! nebst .Anni. ö.
.'f| Die erwartete intransitive Bedeutung hat j. aw. fnrati, ved. duarli, nirrii.