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Archiv "Aufbruch zu Neuem: Passion und Tanz" (20.02.1985)

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Aufbruch zu Neuem:

Passion und Tanz

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kulturmagazin

Matthäus- Passion als Ballett:

Szenenbild der Urauf- führung im Michel (1981)

John Neumeier, der nach seiner Frankfurter Ballettchefzeit seit 1973 dem Hamburger Balletten- semble als Direktor und Chef- choreograph vorsteht.

Im Sturm eroberte John Neu- meier im vergangenen Jahr- zehnt das Hamburger Publikum mit einer packenden „Traum- dramaturgie" — „Schwanen- see": geträumte „Illusionen",

„Nußknacker": der Traum des kleinen Mädchens von der gro- ßen Ballettwelt. „Träumer"

nennt er seine beiden Ballette

Christian Floto

Die Ballettgeschichte ist durch- zogen von teilweise revolutionä- ren Entwicklungssprüngen. Die Begrenzung durch klassisches Schrittmaterial konnte zugun- sten neuen Bewegungsvokabu- lars überwunden werden. Dieser Aufbruch zu neuen Formen, der auch den Tänzer emanzipiert und ihn nicht nur die Primaballe- rina heben oder führen läßt, er- schließt gleichzeitig neue Inhal- te. In unserem Land finden wir die besondere Situation zweier Choreographiezentren mit un- terschiedlichem Selbstverständ- nis. In Wuppertal spürt die ehe- malige Absolventin und heutige Leiterin der Tanzabteilung der Essener Folkwangschule Pina Bausch seit 1973 den Möglich- keiten des Tanztheaters im Sin- ne des absoluten und totalen Theaters nach (Jochen Schmidt schrieb darüber im Kulturmaga- zin des „DEUTSCHEN ÄRZTE- BLATTES" 27/84) In einer auch theaterästhetisch anderen Rich- tung wirkt der heute 42jährige ehemalige Cranko-„Schüler"

Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 8 vom 20. Februar 1985 (85) 511

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Seit 1973 ist John Neumeier Ballettchef in Hamburgs Staatsoper.

Höhepunkt seines bis- herigen Schaffens ist die Matthäus-

Passion. Für viele seiner Tänzer schuf er eindrucks- volle Rollen.

In diesem Werk profilieren sich insbeson- d, seine

Atichen Solisten Foto: dpa

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Getanzte Passion

über „Don Quixote" und die

„Josephslegende" (1979). Wien und Hamburg gerieten über die- se Arbeit, die das ZDF mehrfach ausstrahlte, ins Schwärmen.

Und sein „Sommernachts- traum" mit Musik von Mendels- sohn-Bartholdy, Ligety sowie traditionell-mechanischer „Lei- erkastenmusik" — die drei Hand- lungsebenen musikalisch cha- rakterisierend — geht mit über- wältigendem Erfolg auf Europa- und Südamerikatournee.

„Ich war betroffen"

Ballettgeschichtliches Neuland betritt Neumeier jedoch mit ei- nem Vorhaben, das die gesamte Ballettwelt seit Anfang unseres Jahrzehnts gespannt und mit durchaus geteilter Voreinschät- zung nach Hamburg blicken läßt: Ein Choreograph von Welt- ruf setzt sich mit einem Werk auseinander, das bisher als Ge- samtkunstwerk unangetastet im kirchenmusikalischen Raum stand. „Als ich die ‚Matthäus- Passion' von Johann Sebastian Bach vor über 22 Jahren das er- ste Mal hörte, war ich betroffen und wußte, daß ich dieses Stück machen mußte."

Reif für eine erste Auseinander- setzung mit der Bachschen Pas- sion fühlt sich John Neumeier 1980: Teile des Werks werden als „Skizzen zur Matthäus-Pas- sion" in der Hamburger St.-Mi- chaelis-Kirche welturaufgeführt.

Die musikalische Leitung liegt bei Kirchenmusikdirektor Gün- ter Jena, der dieses Projekt künstlerisch unterstützte und mittrug. Die Erwartungshaltung des Publikums, darunter Fach- kritiker aus der ganzen Welt, spannt sich vor dem Ereignis von uneingeschränkter, begei- sterter Zustimmung bis zu brüs- ker Ablehnung.

Eines kann Neumeier nicht ab- gesprochen werden: die tiefe Ernsthaftigkeit, mit der er und sein Ensemble die Passionsge-

schichte und die Musik Bachs nachempfunden und in ihre künstlerische „Sprache", eben Tanz, umgesetzt haben. Den- noch entzündet sich die Diskus- sion: Ist ein solches Unterfan- gen ästhetisch überhaupt ver- tretbar? Darf „man so etwas mit Bach machen"? Muß so etwas nicht an künstlerische Hybris grenzen? Oder aber allgemei- ner: Können Passion und Tanz überhaupt zueinander finden?

Die Matthäus-Passion — ein Ballett?

Günter Jena, Leiter des Ham- burger Michaelis-Chores und unbestritten renommierter Bach-Kenner, meint: „Ich glau- be, jeder Kunst, der darstellen- den, der musikalischen, der tän- zerischen, ist es nicht nur er- laubt, sondern es ist ihr aufer- legt, sich mit den existentiellen Fragen des Lebens zu befassen.

Also: eine Kunst ausklammern zu wollen aus dem Raum der Kirche und damit aus den mich ganz persönlich bewegenden Fragen, fände ich furchtbar. Die dümmste Äußerung, die mir im Zusammenhang mit dieser Auf- führung untergekommen ist, war die, daß mir jemand die No-

ten hingehalten hat und gesagt hat: ,Hier steht aber von Bach nicht, daß das ein Ballett war.' Ich hätte gern die Bibel dazuge- halten und hätte gesagt: ,Hier ist das Matthäus-Evangelium, da steht nicht, daß das ein Musik- drama ist. —

Könnte dem Zuschauer nicht gerade durch das Angebot einer spirituell-emotional empfunde- nen Bewegungssprache das An- liegen der Matthäus-Passion be- sonders eindringlich nahege- bracht werden?

Tanz erhellt

die christlichen Symbole Tanz als Aussageebene der Pas- sion? Seit Jahrtausenden hilft dem Menschen bei der Faßbar- machung geistiger Gehalte eine bildliche Kurzformel: die Welt der Symbolik. So auch im Chri- stentum. Man denke zum Bei- spiel an das Kreuz als das Zei- chen der Erlösung, mit dem die Kirche alles beginnt, segnet und konsekriert.

Ist Tanz nun nicht besonders ge- eignet, den Sinn dieser Symbole mit ihrem metaphysischen Hin- tergrund durch individuell nach- 512 (86) Heft 8 vom 20. Februar 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Getanzte Passion

fühlbare Körpersprache zu er- hellen? Die intuitive choreogra- phische Gestaltung Neumeiers

— vom Sinn zum Bild — berührt vielleicht besonders intensiv das Innere der Menschen. So be- zieht auch die Choreographie die Symbole ein: Das Kreuz — Zentrum christlichen Lebens und Glaubens — findet sich als Gestus und in vielen Gruppen- konstellationen.

Matthäus-Passion in der Staatsoper

Im Rahmen der Hamburger Bal- lettage wurde 1981 die Mat- thäus-Passion als Ballett urauf-

geführt: in der Staatsoper, mit einem Bandmitschnitt einer Auf- führung in der Michaelis-Kirche, Musik also aus der „Konserve".

Doch die Konzentrierung auf das Tanzgeschehen trotz Her- ausnahme aus dem kirchlichen Raum gelingt, weil Neumeier es geschafft hat, den Zuschauer mit seiner Ballettkunst genauso verdichtet zu erreichen wie Wort und Musik für sich. Die wenigen Aufführungen der gesamten

Jesus (getanzt von dem Solisten Max Midinet) wird von seinen Jüngern emporgehoben — zum letzten Mal vor der Kreuzigung

Passion in der Michaelis-Kirche jeweils in der vorösterlichen Zeit

— mit Chor, Orchester und her- vorragenden Solisten — sind rare Kostbarkeiten.

„Bin ich Judas?"

Wer mit Neumeier, der gele- gentlich selbst im Wechsel mit Max Midinet die Christusrolle tanzt, über dessen choreogra- phisches Werk reflektiert, spürt die Kraft, die es ihm ermöglicht, sich derartig schwierigen künst- lerischen Aufgaben zu stellen.

Worum geht es ihm?

John Neumeier: „Es ist nicht Ziel, nur die Leidensgeschichte als Tanzdrama auszudrücken.

Das Werk verfügt über tiefe Glaubensdimensionen, die auf einer universalen Ebene umge- setzt werden, die allgemein über Liebe und Tod reflektiert.

Dabei ist die Passion selbst eine ideale Form, weil sie einerseits eine mythisch-archaische Ge- schichte erzählt, die ihrerseits nicht auf inhaltliche Spannung ausgerichtet ist, da wir alle de- ren Ende kennen. Auf der ande- ren Seite und viel wichtiger sind die Arien und Chöre, in denen reflektiert wird: „Was ist eigent- lich Haß? Bin ich Petrus? Bin ich Judas?'

„Ich glaube, daß man im- mer wieder zu den gleichen Grundthemen kommt. Denn ich kann nichts anderes ausdrük- ken, als das, was mich bewegt.

Es sind essentielle Themen: die Beziehungen zwischen Men- schen; Humanität, die schon vor Politik da war."

Elementare Gesten

Wie hat John Neumeier die Bachsche Passion choreogra- phisch gestaltet? Schon der mu- sikalisch und formal dichte Ein- gangschor „Kommt, ihr Töch- ter" gerät in der tänzerischen Ausgestaltung („Es ist auch ein Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 8 vom 20. Februar 1985 (91) 513

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Getanzte Passion

Ballett für und um 41 Tänzer") vielschichtig. Leitmotivartig ent- wickeln sich die Umsetzungen zu zentralen Begriffen wie

„Kreuz", „Schuld", „Liebe" und

„Geduld", wobei sehr elementa- re Gesten einfließen, wie z. B.

Zittern, um zweifelnde und ängstliche Grundstimmung zu verdeutlichen.

Und wenn ein Tänzer in einem Rezitativ mit Choral (Nr. 25) stampfend und mit mächtig-ag- gressiven jetes Schmerz aus- drückt, spürt man die Absicht des Choreographen, Akzente mit Zäsurcharakter zu setzen.

Überhaupt sind die meisten Be- wegungen weder klassisch ge- rundet noch auf bloße Gefällig- keit ausgerichtet. Auch ge- schieht in der tänzerischen Dar- stellung nicht unbedingt — als Nacherzählung — das, wovon im Text gerade die Rede ist. Dem Knecht wird z. B. kein Ohr abge- hauen; vielmehr wird er umge- stoßen.

Außerordentlich feinsinnig ge- lingt die Antizipation des Ver- rats: viel früher als im Text wird Judas als potentieller Verräter entlarvt. Überraschend der „Ju- daskuß": Nicht Judas küßt Je- sus, sondern Jesus selbst geht auf ihn zu. Hier vereinigt Neu- meier die irdische Bezogenheit Christi mit transzendenter, sen- dungsfähiger Kraft.

Einen krassen Kontrapunkt bil- det die Choreographie zu zahl- reichen lyrischen Arien. Wäh- rend die Musik z. B in der Sopranarie „Blute nur, du liebes Herz" (Nr. 12) ruhig und ent- spannt fließt, wirbeln die Tänzer hektisch und scheinbar planlos umher. Auch in der Sopranarie

„Ich will dir mein Herze schen- ken" (Nr. 19) geraten die Bewe- gungen ängstlich-erregt — bis zur Erschöpfung. Gag oder Trick des Choreographen? Oder viel- mehr die Antwort auf die Überle- gung: Wie kann angesichts zu ertragenden Leides und des

„blutenden Herzens" die

Tief bewegend ist die Szene des Abendmahls: „Und am Abend setzte er sich zu den Zwölfen.

Und da sie aßen, sprach er ..."

Grundstimmung ruhig sein? So kommt es, daß dieser Kontrast zwischen Musik und Bewegung erst nach der Kreuzigung aufge- löst wird: In der letzten Baßarie

„Mache dich, mein Herze, rein"

(Nr. 75) entspannt sich die Sze- ne und ist gleichfalls lyrisch.

Immer wieder gelingen Neumei- er ungemein nachhaltige Bilder:

die gleiche Hand, die geballt zum „Kreuziget ihn" gereckt wird, kann in besinnender

Aktuelle Kulturnotizen

Museum für Endoskopie in Stuttgart — Im Sommer 1984 wurde in Stuttgart, Arminstraße 10, das Max-Nitze-Museum für Medizinische Endoskopie ge- gründet. Die Sammlung des Mu- seums verfügt über die wichtig- sten Instrumente aller Fachge- biete aus der Anfangszeit der Endoskopie bis in die Neuzeit.

Unter anderem ist das Nitze-Lei- ter-Urethroskop von 1878 zu se- hen. Porträts und zum Teil bis- her unveröffentlichte Hand- schriften der Begründer der En-

Selbstreflexion geöffnet und vor Augen geführt werden — Was ha- be ich da angerichtet? — und im gleichen Bewegungsablauf das Gesicht einer Frau streicheln.

Sehr menschlich geraten man- che Szenen: In „Aus Liebe will mein Heiland sterben" (So- pranarie, Nr. 58) ist es keine ent- sagende Liebe; der pas de deux erzählt vielmehr von mensch-

licher Nähe — und Zärtlichkeit.

Packende Expressivität durch- dringt den Zuschauer in der Alt- arie „Erbarme dich, mein Gott"

(Nr. 47), wenn Fran9ois Klaus er- greifend in seinem Solo zwi- schen Hoffen und Verzagen, Ag- gression und Selbstzerflei- schung, Sehnsucht und Hoff- nungslosigkeit schwankt. Alle Register tänzerischer Aus- drucksmöglichkeiten — von ecki- ger Zerfahrenheit bis zu fließen- der Ruhe und auch meditativem Stillstand — werden vollendet eingesetzt.

Liebe und Tod, Kreuz und Schuld sind Themen dieses Evangeliums, aber auch des choreographischen Werks John Neumeiers.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Christian Floto Münsterstraße 10 6500 Mainz 1

doskopie sowie Fotos und eine umfangreiche Bibliothek ergän- zen die Bestände. JR Musik und Jugend — Der Inter- nationale Arbeitskreis für Musik e. V. (IAM) organisiert 1985 im Europäischen Jahr der Musik unter anderem Musizierwochen, internationale Jugendbegeg- nungen im In- und Ausland so- wie Fortbildungs- und Fachlehr- gänge für Musikinteressierte.

Nähere Informationen sowie der Veranstaltungsplan können mit Rückporto angeforder wer- den bei: IAM, Heinrich-Schütz- Allee 33, 3500 Kassel-Wilhelms- höhe. AM 514 (92) Heft 8 vom 20. Februar 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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