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Archiv "Zur Entstehung und Behandlung von Schmerzen" (04.05.1984)

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EDITORIAL

Zur Entstehung und Behandlung von Schmerzen

Rudolf Gross

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enne mir Dein Verhältnis zum Schmerz, so will ich Dir sagen, wer Du bist ...", so schrieb Ernst Jünger (3) 1934 in einem breitangelegten Essay zum Schmerz. In der Tat gibt es kein komplexeres — und trotz aller Fortschritte — noch weithin ungelöstes Problem als den Schmerz. Die Dimensionen reichen von den Schmerzrezep- toren und Neuronen bis zu rein seelisch bedingten oder über- spielten Schmerzen, vom Warn- signal bis zu unzumutbaren Dauerschmerzen, von der medi- kamentösen Analgesie über die Bestrahlung bis zu sinnvollen stereotaktischen Eingriffen. Die einfachste und zugleich prak- tisch wichtigste Einteilung des Schmerzes ist die in „akut" und

„chronisch". Beim akuten Schmerz handelt es sich um ein Signal, um ein Warnsymptom (z. B. 1), dem der Arzt gebüh- rende Aufmerksamkeit schen- ken muß und dessen genaue Anamnese ihm diagnostisch weiterhilft. Nichts wäre gefähr- licher, als den akuten Schmerz nicht ganz eindeutiger Ursache (wie z. B. nach Verbrennungen) mit Analgetika zu behandeln und das Grundleiden zu über- sehen. Es hat sich in der Litera- tur eingebürgert, die Grenze zum chronischen Schmerz bei 3 Monaten (nach einigen Auto- ren bis zu 6 Monaten (z. B. (6)) anzusetzen. Dies mag aus der Physiologie und Pathophysiolo- gie des Schmerzes heraus sinn- voll sein; es wäre aber gefähr- lich, die Grenze der eingehen-

den Diagnostik — etwa bei un- klaren Bauch- oder Brust- schmerzen —'mit 3 oder 6 Mo- naten zu bemessen.

Allein von der Konstitution her kann man beim akuten (und beim chronischen) Schmerz Hy- perreaktionen — Normoreaktio- nen — Hyporeaktionen unter- scheiden: Patienten der erste- ren Gruppe machen sich und den behandelnden Ärzten das Leben schwer, ermöglichen aber Frühdiagnosen. Demge- genüber lebt der Hyporeagie- rende leichter, sucht aber den Arzt häufig erst mit fortgeschrit- tenen Erkrankungen auf. Daß

Schmerzempfindung und Schmerzverarbeitung auch ei- nem Lernprozeß unterliegen (können, aber nicht müssen!

Verf.), hat der früh verstorbene Würzburger Psychiater Schrap- pe (7) besonders betont. Gene- rell wird die Schmerzschwelle unter anderem durch Angst, Trauer, Depression, Isolation, Schlaflosigkeit erniedrigt, durch Verständnis der Umgebung, Sorglosigkeit, Hoffnung, Schlaf und ähnliches erhöht (10).

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aß es daneben Schmerz als Lust, als völlige Indolenz bei Fanatikern, Fakiren, Feuertänzern, Märtyrern usw.

gibt, hat Larbig (4) eindrucks- voll beschrieben. Dazu gibt es als angeborene Anlagestörung eine aufgehobene Schmerz- empfindlichkeit und eine relati- ve Schmerzindifferenz (10). Um- gekehrt rechnet man bei etwa 80 Prozent der Depressiven, bei einer Gesamtheit von 40 bis 50 Prozent aller psychiatrischen Patienten mit Schmerzen ganz verschiedener Lokalisation (4, 9). Ein Teil von ihnen soll er- niedrigte Endorphine (s. u.) ha- ben. Alle diese Zustände sind vorzugsweise Objekte der Diffe-

rentialdiagnostik Beim chroni- schen Schmerz sind die Ursa- chen (Verletzungen, Narben, Entzündungen, Entzündungsfol- gen, Tumoren, degenerative

Gefäßerkrankungen, Medika- mente) meist bekannt. Der Schmerz als Warnzeichen ist sinnlos geworden, manchmal zu einer Krankheit sui generis („chronic pain behaviour") ge- worden und behandlungsbe- dürftig. Das gilt nicht zuletzt von den vielartigen und vielorti- gen „Algien", auch unklarer Genese, wie z. B. Migräne, Tri- geminusneuralgie, Zerviko-Bra- chialgie, Ileo-Inguinal-Neural- gie, Postzoster-Neuralgie, Kar- pal-Tunnel-Syndrom, Band- scheibenvorfall, Tabes dorsalis, Stumpfneuralgie, Phantom- schmerzen.

Schlegel (6) zitiert Literatur, nach der 40 Prozent der lokali- sierten Tumoren und 60 bis 80 Prozent der fortgeschrittenen Fälle behandlungsbedürftige Schmerzen haben, von denen rund 90 Prozent zu beherr- schen sind.

Zum Mechanismus des Schmer- zes spielt die 1965 von Meltzak und Wall (5) aufgestellte „Gate- Theorie" unverändert eine gro- ße Rolle. Danach werden die in den langsam leitenden C-Fa- sern ankommenden Schmerz- reize nicht oder nicht mehr von den rasch geleiteten zentrifuga- len A-Reizen unterdrückt: „Das Tor für die Schmerzempfindung ist offen". Ausgangsort periphe- rer Schmerzen sind spezielle Rezeptoren („Nociceptoren").

Als Mediatoren für Schmerzen sind mindestens charakterisiert:

Gamma-Oxybuttersäure (Gaba), die Substanz P oder PPS („Pain producing substance"), Prosta- glandine (besonders PG E2), Bra- dykinin, Serotonin(?), dazu eine Anzahl entzündungsbegleiten- der Substanzen. Die Schwierig- keit liegt in der Differenzierung schmerzspezifischer Transmit- ter von Substanzen, die im ge- samten Nervensystem bioche- mische Mediatoren oder lnhibi- toren sind. Deshalb sind die meisten Analgetika zugleich An- tiphlogistika und umgekehrt.

1448 (58) Heft 18 vom 4. Mai 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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Über dem Hirnstamm (vermut- lich periaquaeductalen Gan- glienzellen, Nucleus raphe ma- gnus) oder über dem Hypotha- lamus verliert sich sozusagen die Spur des Schmerzes. Es gibt meines Wissens bis heute kein lokalisierbares Schmerz- zentrum auf der Ebene der Hirnrinde — noch weniger eine Erklärung für die - Einflüsse von Geschlecht, Alter (mitigierte Schmerzen bei alten Menschen als Segen oder als besondere Gefährdung!) und Soziokultur.

Auch Sigmund Freud, der durch sein jahrelanges Krebsleiden im Pharynx-Bereich mit rund ei- nem Dutzend von Operationen über seine überragenden psy- chologischen Fähigkeiten hin- aus geradezu ex persona auf eine Beschäftigung mit dem Schmerz verwiesen wurde, hat meines Wissens dazu keine weiterführende Angaben ge- macht. Revolutionierend in der Schmerztherapie war die be- reits genannte Entdeckung der körpereigenen schmerzhem- menden Endorphine und Enke- phaline und der spezifischen Rezeptoren. So weiß man heute auch, daß die intrathekale Gabe einer kleinen Dosis von Morphi- um (abgesehen von der stets zu berücksichtigenden Gefähr- dung des Atemzentrums) eine anhaltende Analgesie bewirkt.

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erade diese Erkenntnisse sprechen über den ge- wohnten oralen oder par- enteralen Gebrauch von Schmerzmitteln hinaus für das interdisziplinäre Consil. Der Neurochirurg kann mit Mikro- methoden die schmerzleiten- den Fasern (z. T. sogar transku- tan!) oder hypothalamische Bahnen unterbrechen. Der An- ästhesist kann gezielt intraneu- ral oder peridural Schmerzen ausschalten. Der Strahlenthera- peutvermag bei richtig dosier- ter Anwendung vor allem Tu- morschmerzen langfristig aus- zuschalten. Die vorstehenden Ausführungen mögen auch ge-

zeigt haben, daß in vielen Fäl- len der Psychiateroder der Psy- chotherapeut mit zum Konzept einer optimalen Schmerzbe- handlung gehören. Unverändert bleibt aber in der Praxis die Be- deutung der Pharmakologie, lies: Der Analgetika und Psy- chopharmaka. Deshalb haben wir den pharmakologischen Grundlagen einen eigenen Bei- trag in diesem Schmerzheft ge- widmet.

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ie „Basistherapie"wird heute in aller Regel einer Behandlung mit Anxiolyti- ka, Neuroleptika, Antidepressiva

—je nach den Komponenten Unruhe, Agitiertheit, Depression

—sein. Analgetika werden nach Bedarf und klinischer Situation (so mild wie möglich, so stark wie nötig!) zugegeben. Es hat sich gezeigt, daß mit Analgetika häufiger Mißbrauch getrieben wird als mit Psychopharmaka.

Bei Kranken mit metastasierten Tumoren braucht auf eine et- waige Gewöhnung keine Rück- sicht genommen zu werden.

Der Kliniker erlebt immer wie- der erstaunt den Placebo-Ef- fekt, z. B. einer Injektion von Kochsalzlösung, die bei Schwerkranken das immer häu- figere „Verlangen nach der Spritze" spreizt oder ersetzt.

Die Kunst besteht ja gerade darin, die Schmerzen zu besei- tigen oder wenigstens zu mil- dern, ohne den Kranken in ei- nen Dämmerschlaf zu verset- zen. Eine wichtige Rolle für ei- ne sinnvolle Führung der Anal- gesie spielt die früher in dieser Zeitschrift ausführlich beschrie- bene Tagesrhythmik (8): Bei Nacht Trophotropie mit pathi- scher Vigilanz, bei Tag Ergotro- pie mit epikritischer Vigilanz.

Spasmolytika, Antiphlogistika können bei entsprechender In- dikation auch die Wirkung der beiden Grundkomponenten ver- stärken. Die Analgetika werden für praktische Zwecke in drei Gruppen gegliedert: Schwach wirksame Medikamente vom

Typ der Acetylsalicylsäure — stark wirksame, meist zentral angreifende Substanzen, die nicht der Betäubungsmittelver- ordnung unterliegen — Opioide und Opiate, soweit sie der Be- täubungsmittelverordnung un- terliegen (siehe Beitrag Jurna in diesem Heft). Leider sind zur Zeit durch Warnungen des Bun- desgesundheitsamtes auch vie- le wertvolle Analgetika wie Me- tamizol (z. B. Novalgin®) zu- rückgedrängt oder aus dem Handel genommen worden, während für neuere Substanzen (vielleicht abgesehen vom Para- cetamol [z. B. Anaflon®, Beno- run®]) aus Zeitgründen noch keine negativen Erfahrungen vorliegen.

Mehr und mehr haben sich die Anästhesisten der Schmerzbe- kämpfung oder den Schmerzkli- niken zugewandt; über ihre ge- zielten Maßnahmen und deren Ergebnisse bringen wir in die- sem Heft zwei Beiträge, die die Probleme unter verschiedenen Aspekten behandeln (wenn auch zum Teil anhand von Er- fahrungen mit den gleichen Pa- tienten). Schmerz hat sich in den letzten Jahren zu einem vielseitig beforschten, wenn auch noch nicht abschließend geklärten Problem entwickelt, zu dem wir mit diesem Heft ei- nen Beitrag geben möchten.

Literatur

(1) Janzen, R., Kühn, H..: Neurologische Leit- und Warnsymptome bei inneren Er- krankungen, Thieme, Stuttgart (1982) (2) Jessel, T. M.: Lancet II (1982) 1084 — (3) Jünger, E.: über den Schmerz, Gesam.

Werke 5, 151, Stuttgart, Klett (1949)

—(4) Larbig, W.: Schmerz, Stuttgart, Kohl- hammer (1982) — (5) Meltzak, R.; Wall, P.

D.: Science 150 (1965) 971 — (6) Schlegel, G.: Tumordiagnostik und Therapie 2 (1982) 10 — (7) Schrappe, 0.: Ztschr. Nervenheil- kunde 2 (1983) 47 — (8) Strempel, H.:

Dtsch. Ärztebl., 78 (1981) 2017 — (9) Zim- mermann, M.: Schmerz und Schmerzthera- pie, Klinik Journal 11 (1983) 6 — (10) Zim- mermann, M., Piepenbrock, S., Zenz, M.:

Medica (1983)

Professor Dr. med.

Rudolf Gross

Haedenkampstraße 5 5000 Köln 41

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 18 vom 4. Mai 1984 (63) 1449

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