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Archiv "Musik zum Sehen, Musik zum Denken" (27.04.1984)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kulturmagazin

Werner Klüppelholz

Musik

zum Sehen, Musik

zum Denken

Die Fusion von Kunst und Medien ist in den Händen von Mauricio Kagel zu Alltäglichem geworden

Er versteht sich auch darauf, damit das

alltäglich Unangenehme zum Ausdruck zu bringen

Mauricio Kagel Fotos (4): Klaus Barfisch

G

ewiß gab es bereits zuvor flüchtige Berührungen zwischen Tonkunst und Heilkunst. Wo etwa Marin Marais, ein französischer Kleinmeister des Spätbarock, in „L'opöration de la taille" mit allen zu Gebote stehenden Mitteln des Cembalos einen Galleneingriff ausmalt; wo Arnold Schönberg, im „Streich- trio op. 45", seines eigenen, überstandenen Herzinfarktes musikalisch gedenkt, oder wo dessen Schüler Hanns Eisler sich in einem Kinderlied über Chirur- gen amüsiert, die versehentlich ein Holzbein amputieren. Doch sozusagen systematisch wurde die Sphäre der Krankheit erst durch Mauricio Kagel musika-

lisch erschlossen, einen der heute bekanntesten und — ne- ben John Cage und dem Stock- hausen der fünfziger Jahre — wohl auch bedeutendsten Kom- ponisten.

1957, nach seiner Übersiedlung von Buenos Aires nach Köln, traf Kagel auf eine Musik, die bereits Welten entfernt lag von der klas- sizistischen Kompositionsweise eines Johannes Brahms oder der satten Klanglichkeit eines Richard Strauss. Zwischenzeit- lich hatte eben die atonale „Re- volution" stattgefunden, die der doch so konservative Schön- berg glaubte anzetteln zu müs- sen, dessen Vokalmusik Hanns

Eisler — in aller Verehrung übri- gens — mit den Worten be- schreibt: „Es gibt zum Beispiel eine Oper von Schönberg, in der ganz einfache Sätze vom Kaf- feetrinken oder von der Kinder- erziehung in so merkwürdiger Weise gesungen werden, daß man glaubt, todkranke Hyänen miteinander sprechen zu hören.

Dieses Werk (gemeint ist ,Von Heute auf Morgen') ist von so großer technischer Vollendung, daß dieser Eindruck zwingend wird". Was hätte Eisler erst zu Kagels europäischem Erstlings- werk „Anagrama" gesagt, wo es an einer Stelle der Partitur lau- tet: „Wenn diese Schreie bei dem Hörer den Eindruck erwek- Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 17 vom 27. April 1984 (97) 1379

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Mauricio Kagel

ken sollten, daß es sich hier um verletzte, schmerzleidende Per- sonen handelt, so ist dem Chor aufs herzlichste zu gratulieren".

Nach allen Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges war auch den Komponisten, zumindest den tiefsinnigeren und originel- leren, der Glaube geschwun- den, aus einem Gedicht um- standslos ein Lied, aus einem Libretto ganz selbstverständlich eine Oper verfertigen zu kön- nen. Der Vokalmusik jener Jahre eignete allgemein etwas Krank- haftes, Morbides, das schrie und zischte, summte und röchelte, hustete und hechelte, jede nur erdenkliche Lautäußerung fand ästhetische Nobilitierung.

Im Zustand

seines stimmlichen Verfalls Was lag näher, als das Kagel — ohnehin jeglicher Literatur von Jugend auf nahestehend — gleich zu medizinischen Be- schreibungen als kompositori-

sche Vorlage griff, wo es bei- spielsweise heißt: „Seine dicke, lange Zunge machte die Rede unverständlich zischend, außer- dem war seine Stimme rauh und dumpf, glitt leicht zu pfeifenden Lauten aus, die an das Wutstöh- nen wilder Tiere erinnerten".

Solche Sätze bilden die Grund- lage von Kagels „Phonophonie"

(1964), das „Porträt eines Sän- gers aus dem 19. Jahrhundert im Zustand seines stimmlichen Verfalls", und finden auch im Chorwerk „Hallelujah" (1968) Verwendung, wo etwa ein Sän- ger nur die Vokale des Titelwor- tes brüchig artikuliert, das tradi- tionelle Gotteslob ihm sozusa- gen in der Kehle steckenbleibt.

Unfähigkeit, Nichtkönnen, Hin- dernisse körperlicher Hinfällig- keit erscheinen bei Kagel eben- falls in szenischem Zusammen- hang immer wieder, zum Bei- spiel in „Atem" (1970), wo ein pensionierter Bläser seine Po- saune nur noch polieren, nicht mehr wirklich spielen kann, oder in „Ex-Position" (1978), wo

Vertreter diverser olympischer Disziplinen ihrer verbandartigen Kleidung halber kaum je reüs- sieren, ein Sprinter etwa einge- wickelt ist wie eine Mumie.

Bleibt zu erwähnen, daß Kagel — unter klinischer Kontrolle — selbst einst Drogen einnahm, um akustischen Halluzinationen auf die Spur zu kommen (dem verdankt sich die Komposition

„Tremens" aus dem Jahr 1965) und schließlich einen der ersten Kurse für Musiktherapie in der Bundesrepublik (1972 im Bon- ner Landeskrankenhaus) initi- ierte.

Nun also komponiert Kagel, ei- gens für diese Zeitschrift, ein Stück mit dem merkwürdigen Ti- tel „Der Eid des Hippokrates"

und der noch merkwürdigeren Besetzung „für Klavier zu 3 Hän- den". Gilt das als Dankopfer desjenigen, der sich im vergan- genen Jahr einer komplizierten Augenoperation unterziehen mußte, an einen Berufsstand, der sich doch gerade durch Hip-

1380 (98) Heft 17 vom 27. April 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

Duett für Mensch und Radio

Die kürzlich für das Fern- sehen fertiggestellte WDR- Produktion „Er" ist ein Mu- sterbeispiel für Kagels (links im Foto bei der Bild- regie) multimediale Ambi- tionen. Im Februar letzten Jahres im großen Sende- saal des WDR als Rund- funk-Live-Übertragung ur- aufgeführt, liegt „Er" als thematische Grundidee das Zwiespiel zwischen den Rezeptionsgewohn- heiten eines Radiohörers und dem Programmkli- schee der Hörfunkskala zugrunde. Vierzig Kurz- kompositionen Kagels bil- den den musikalischen Be- standteil der Szene. Die Ausstrahlung ist für Ende 1984 zu erwarten. CUK

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Mauricio Kagel

pokrates vom Mythos befreit hatte? Jedenfalls entbehrt Kagel selber nicht hippokratischer Zü- ge, sei es die allem romanti- schen Geniekult entgegenge- setzte Rationalität des musik- theatralischen Handwerkers, sei es sein allem bloßen Ulk und aufgeblasener Scharlatanerie abgeneigten Ethos als Kompo- nist.

Die beschriebene Komposi- tionsweise dieses kleinformati- gen Stückes ist typisch auch für die abendfüllenden Partituren Mauricio Kagels aus den letzten Jahren, etwa „Die Erschöpfung der Welt", eine musikalisch-phi- losophische Interpretation der Genesis in Umkehrung; „Aus Deutschland — Eine Lieder- Oper" über Texte und Figuren romantischer Lieder; „La Trahi- son orale", ein musikalisch-sze- nisches Epos über den Teufel.

Neben solchen Bühnenwerken verfaßte Kagel bislang Orche- ster-, Kammer- und Chormusik, aber auch zahlreiche Filme und Hörspiele.

Daß er kaum je „reine", im Sin- ne des klassischen Streichquar- tetts in sich abgeschlossene Mu- sik komponiert, vielmehr seine Gebilde meist mit szenischen Zusätzen verunreinigt (der plötzliche Exitus des Dirigenten in „Finale mit Kammerensem- ble" oder das leibhaftige Auftre- ten von Brahms und Händel in Kagels Orchesterbearbeitung der Brahmsschen Händel-Varia- tionen), entspringt freilich nicht

nur Kagels nachgerade angebo- rener Neigung zur Bühne. Er dürfte dabei auch der zeitge- nössischen Wahrnehmungsge- wohnheiten gedenken, die — durch den unermeßlichen Film- und Fernsehkonsum — selbst beim Hören von Musik primär vi- suell geprägt sind. Überdies möchte Kagel — durchaus im Geist der enzyklopädischen Auf- klärer — Musik schreiben, „die zum Denken anregt wie durch Denken zu ergänzen ist". Daher zielen seine Werke auf eine hö-

Oben und rechts: Bei der Fernsehbearbei- tung für „Er". Gerd Haucke besticht in seiner Rolle als Alt- baubewohner zwi- schen Schirmlam- pen, gardinenlosen Fenstern und einem Schwarzweißfernseh- gerät. Ein Röhrenra- dio ist sein kulissen- gerechter Gegen- spieler auf der Suche nach Zerstreuung.

rende, sehende und gleichzeitig reflektierende Wahrnehmung.

Sabotage des Verstehens In Kagels Kosmos erlebt also die traditionelle Definition von Mu- sik eine Erweiterung: Sie muß nicht länger notwendig aus Klängen, sondern lediglich aus einem kompositorisch gestalte- ten Zeitablauf und einer sprach- lich nicht übersetzbaren Mehr- deutigkeit ihrer Inhalte beste- hen. Auch Kagels „Umzug"

(1977) zum Beispiel zählt dem- zufolge zur Musik, wo nichts an- deres geschieht, als daß Büh-

nenarbeiter Requisiten über die Opernbühne tragen; eine Kom- position, die übrigens drei der wichtigsten Charakteristika Ka- gels: eine zuweilen gar slap- stickhafte Heiterkeit, ein proto- kollarisch-objektives Aufgreifen von Alltäglichkeiten und eine ganz unaggressive politische Brisanz exemplarisch vereinigt.

Und zugleich ein Beispiel dafür abgibt, wie Kagel den alten mu- sikästhetischen Streit zwischen Form (mit Brahms/Hanslick auf der einen) und Ausdruck (mit Liszt/Wagner auf der anderen Seite) zugunsten des Hörens entschieden hat.

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 17 vom 27. April 1984 (99) 1381

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Mauricio Kagel

Kagel setzt die reine Form der Musik in Beziehung unter ande- rem zur Verdauung: „Man hört nach dem Essen anders" — „Ich finde es schwachsinnig, die Psy- chologie des Hörens von der Formanalyse zu trennen" —

„Zwischen der musikalischen und der allgemeinen mensch- lichen Kommunikation kann ich keine Grenze ziehen". Es wäre freilich ein Mißverständnis, die- se Worte als Ruf nach Allge- meinverständlichkeit der mo- dernen Musik aufzufassen, als Appell zur Schonung des Hö-

rers. Kagel beabsichtigt eine

„bewußte Sabotage des Verste- hens", in der Gewißheit, daß nur Mehrdeutigkeit Poesie erzeugt und nur Rätselhaftigkeit einen Betrachter zum Nachdenken an- regt. Dabei wollen sich die Ge- bilde Kagels nicht hermetisch verschließen, sondern ganz buchstäblich einen Reiz auf die Schaulust und Neugier aus- üben, mittelalterlichen Gauklern gleich, die, von Dorf zu Dorf zie- hend, Sensationen mitbrachten, Nachrichten aus der Ferne, Be- lehrung.

gen des Publikums gegenüber Kunst, gar gegenüber der fort- geschrittensten, kaum andere sind als bei „XY" oder „Was bin ich?"

Trotz aller Modernität seines kompositorischen Bewußtseins sind die Absichten der Werke Kagels allerdings eher altmo- disch, die sich kaum von denen Bachs unterscheiden, movere, docere, delectare, wenn auch nicht stets zur alleinigen Ehre Gottes. Und mit der Betonung der Belehrung, also Aufklärung, wurzelt Kagels CEuvre zutiefst in der deutschen Romantik: „Mu- sik zum Denken" ist eine Forde- rung Friedrich Schlegels. Kagels ideales Publikum sind daher die Philosophen — und die Kinder.

Menschen mithin, die die Kon- struktion der Welt nicht als ge- geben hinnehmen, sondern fra- gen, wer die Welt erbaut hat, welchen Sinn sie enthält und welche Fehler.

Ein Teil der erwähnten Werke Kagels findet sich auf folgenden Schallplatten: „Anagrama" Har-

monia Mundi DMR 1010 — 12,

„Hallelujah" Deutsche Grammo- phon 643544, „Phonophonie"

Harmonia Mundi (in Vorberei- tung), — „Atem" EMI C 063-28808.

Als einführende Literatur sei ge- nannt: Dieter Schnebel: Mauri- cio Kagel, DuMont, Köln, 1970, Werner Klüppelholz: Mauricio Kagel 1970-1980, DuMont, Köln 1981 — Werner Klüppelholz: Was ist musikalische Bildung? Ge- spräche mit Bazon Brock, Carl Dahlhaus, Michael Gielen, Jür- gen Girgensohn, Heinz Josef Herbort, Mauricio Kagel, György Ligeti, Hans Mayer, Heinz-Klaus Metzger, Christoph Richter, Do- rothee Wilms, Verlag Bärenrei- ter, Kassel (im Druck).

Für freundliche Hilfe sei Dr. med. Peter Jünemann und Dr. med. Heiner Jüne-

mann herzlich gedankt.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Werner Klüppelholz Nußbaumerstraße 43

5000 Köln 30 Auch Kagels Humor — allerdings

von der Grundfarbe schwarz — bleibt kein Selbstzweck, son- dern möchte als Transportmittel von Gedanken dienen. Aber

„Lachen ist kulturpolitisch et- was Unsolides" in der „ernsten"

Musik, für deren Attitüde Kagel nur sanften Spott erübrigt: „Der häufig verabsolutierte Anspruch der absoluten Musik, einzig legi- timer Ausdruck einer erhabenen Musikwelt zu sein, ist von zwei- felhafter Gültigkeit. Immer wie- der konnte ich feststellen, daß jener ,wahre Schrecken einer (absoluten) Tonkunst', den Kleist beschreibt, auf Umwegen über das Unreine, das Minder- wertige und das Kümmerliche der Kleinkunst erreicht werden kann". Wenn Kagel die Oper nur

„als strenge Form der Unterhal- tung" betrachtet, schiebt er das gesellschaftliche Prestige die- ser Gattung beiseite und konsta- tiert zu Recht, daß die Erwartun-

Exklusiv fürs Deutsche Ärzteblatt hat Mauricio Kagel ein Stück komponiert! Wer seine Komposition nachspielen möchte, der findet die Partitur im nächsten Heft, drei volle Seiten nach dem Original druckgerecht gestochen

1382 (100) Heft 17 vom 27. April 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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