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Archiv "Besuch auf dem Wildboden" (10.04.1975)

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Besuch auf dem Wildboden

Studie für das Rahmenprogramm des V. Davos-Sommer-

seminarkongresses der Bundesärztekammer vom 21. Juli bis 2. August 1975

Albert Schretzenmayr Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen

FEUILLETON

Abbildung 1: Selbstbildnis E. L. Kirchner (1915), aus W. Grohmann, Verlag W. Kohl- hammer. Copyright by Roman Ketterer, Campione d'Italia

D

er „VVildbodenstil" kennzeichnet die künstlerisch reifste Schaf- fensperiode der Davoser Zeit des deutschen Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner (Abbildung 1); sie ist benannt nach dem langge- streckten Berghügel, der gegen- über Davos-Frauenkirch den Ein- gang in das Sertig-Täli bewacht.

In der Tat steht bei kaum einem anderen modernen Künstler ein Stilwandel in so enger zeitlicher Verbindung mit einem Wohnungs- wechsel, wie das bei Kirchners Umzug vom Bauernhaus „in den Lärchen" (südlich von Frauenkirch) in das Almhaus „auf dem Wildbo- den" (1923) der Fall war — der

Künstler arbeitete dort die letzten 15 Jahre seines Lebens. Und doch ist der zeitliche Zusammen- hang zwischen Stilwandel und Ortswechsel fast zufällig, jedenfalls recht oberflächlich; die tieferen menschlichen und künstlerischen Grundlagen der Wende liegen weit, weit zurück: das Kunstschaffen Kirchners nimmt seinen Anfang in der Künstlervereinigung „Brücke", die mit ihm, mit Schmidt-Rottluff, Heckel, Bleyl, Pechstein, Nolde und Otto Mueller zur Wiege des deutschen Expressionismus gewor- den ist. Das Ringen um einen eige- nen Stil füllt die Dresdner und Ber- liner Jahre Kirchners, die vor dem 1. Weltkrieg liegen. Vor allem das

mondäne Großstadtleben (Abbil- dung 2) wird zu seinem Thema und bringt ihm internationale Anerken- nung. Dann werden die Schrecken des 1. Weltkrieges dem empfindsa- men Künstler und Soldaten Kirch- ner zum Verhängnis; er bricht kör- perlich und seelisch zusammen, ein schweres Psychosyndrom mit tiefster Verzweiflung und Adynamie bildet sich aus, seine Laufbahn als führender Künstler des deutschen Expressionismus scheint zu Ende.

Freunde, die um seine Gesundheit und um sein Leben bangen, brin- gen ihn 1917 nach Davos. Auch in Davos herrscht 10 Monate lang zu- nächst nur Lähmung und Depres- sion.

1078 Heft 15 vom 10. April 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen Kirchners Davoser Zeit

Das zweite Leben

des Ernst Ludwig Kirchner

Dann aber schreibt der Künstler von der Staffelalp, seinem Refu- gium nach der Sanatoriumsbe- handlung: "Ich glaube, die Farben meiner Bilder bekommen ein neues Gesicht. Einfacher und doch leuch- tender. Leider bleiben sie nur ·un- fertig."

Schließlich kommt auch die Kraft zur Vollendung der Bilder "mit dem neuen Gesicht" - das zweite Le-

ben des Ernst Ludwig Kirchner be- ginnt, es beginnt in Davos und soll- te zwanzig Jahre später auf tragi- sche Weise in Davos enden. Was aber in diesen 20 Jahren von Kirchner erarbeitet wurde, ist zu ei- ner Apotheose des Lebens im Al- penhochtal geworden, die Kirch- ners Stellung im Rahmen des Ex- pressionismus erneut bestätigt hat.

Seine Arbeit beginnt zunächst mit einer einfachen, beschreibenden Schilderung. Kirchner ist 1919 in ein wetterfestes Bauernhaus "in den Lärchen" bei Frauenkirch ge-

zogen. Er arbeitet wie ein Besesse- ner, um die neu beobachteten Mu- ster der Berge, der Tannen, der Felsen und der Wolken, um die

~Tiefe und Weite der Davoser Berg- welt künstlerisch zu erforschen.

Bei der Betrachtung der Bilder aus dieser Anfangszeit in Davos hat man den Eindruck, daß er eines seiner Grundprinzipien, nämlich die Überwindung einer bloß natur- getreuen Wiedergabe vorüberge- hend etwas zurückstellt, er be- schreibt zunächst einmal seine neue Umwelt, der "Lärchenstil"

wird geboren. Eine große Zahl von Bildern entsteht, auch Bilder von großflächigem Format, zuerst Ober- wiegend Darstellungen der som- merlichen und herbstlichen Berg- welt - leuchtende Farben in glas- klarer Luft. "Unsere Sonne vergol- det schon die Berge und die Lär- chen werden gelb, aber die Farben sind wunderbar wie alter, dunkelro- ter Samt. Hier unten im Tal stehen die Hütten in kräftigstem Pariser Blau auf den gelben Wiesen. Man lernt überhaupt erst hier den Wert der einzelnen Farben kennen. Und dazu die herbe Monumentalität der Berglinien. Es herrscht eine unend- liche Ruhe." Dann aber erkennt Kirchner, daß auch der Davoser Winter seine Farbentrunkenheit be- friedigen kann: "Die Landschaft ist

·'' doch auch im Winter herrlich schön, ich versuche die Farbe des Schnees und die durch ihn geform- te seltsame Gestalt der Menschen und der Tiere."

Der frühe Wildbodenstil

Abbildung 2: Berliner Straßenszene (1913), aus W. Grohmann, Verlag W. Kohl- hammer. Copyright by Roman Ketterer, Campione d'ltalia

Mit seinem Umzug auf den Wildbo- den wendet sich Kirchner immer mehr ab von der bloßen Beschrei- bung und naturgetreuen Schilde- rung. Symbolische Intention und stärkste Expression treten in den Vordergrund. Besucher des Davoser Sommerseminankongresses sind in der glücklichen Lage, drei große Gemälde aus der ersten Zeit der Wildbodenperiode im Original zu bewundern. Sie sind im Besitz der Gemeinde Davos. Es handelt sich um "Davos im Sommer" (1925);

"Die Brücke bei Wiesen" (1926)

1080 Heft 15 vom 10. April1975 DEUTSCHES ARZTEBLATT

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 15 vom 10. April 1975 1081 Spektrum der Woche

Aufsätze • Notizen Kirchners Davoser Zeit

und „Rathaus Davos-Platz" (1931).

Farbreproduktionen dieser drei grundlegenden Arbeiten konnten dank besonderen Entgegenkom- mens der Hauptschriftleitung in dieser Zeitschrift bereits früher ab- gebildet werden (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 13/1970, Seite 1034 bis 1042).

Betrachten wir die „Brücke bei Wiesen", dann werden wir uns so- fort an die Kurven der rätischen Bahn erinnern, wir werden die Angst und Beklemmung in der Herzgrube körperlich spüren, die uns bei der ersten Bahnreise nach Davos befallen hat. Einen tiefen Einblick in das Seelenleben des Künstlers vermittelt uns sein Bild

„Rathaus Davos-Platz" („Haupt- straße Davos" 1931, Abbildung 3a).

Intuitiv hat der Künstler ein altes Thema neu gestaltet — den Kampf zwischen Licht und Dunkel, zwi- schen Gut und Böse, zwischen Himmel und Hölle: Links vom Kirchturm ein heiterer, freundlich- klarer Himmel mit zukunftsfroher Fernsicht und helleuchtenden Far- ben, rechts vom Kirchturm düster- schwarzer Himmel, die Fernsicht ist blockiert, Streifen dunkler Wäl- der geben dem Landschaftsbild et- was Schwermütiges — Licht- und Schattenseiten in Kirchners Davo-

Abbildung 3 a (oben): Rathaus Davos- Platz (1931), im Besitz der Gemeinde Davos. Der Kirchturm teilt die Szene in eine kleine linke Bildfläche mit heiterem Himmel und Fernsicht sowie eine grö- ßere rechte Fläche mit düsterem Him- mel und blockierter Aussicht; Ambiva- lenz von Licht und Finsternis, in Kirch- ners Seele zuungunsten des Lichts. Co- pyright by Roman Ketterer, Campione d'ltalia

Abbildung 3 b (unten): II gallo in lotta con la tartaruga, der Kampf zwischen dem lichtkündenden Hahn und dem Tar- tarus-Symbol Schildkröte, frühchristli- ches Mosaik Aquileja, 3. Jh. Die Säule in der Mitte mit der Amphora als Kampfpreis teilt das Kampffeld in eine Lichtseite (rechts) und eine Höllenseite (links) — Ambivalenz von Licht und Fin- sternis; der Hahn hat die Mitte über- schritten, das Licht gewinnt

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Abbildung 4: Wildboden im Schnee (1923), aus „Du", Atlantis, 24. Jahrgang. Hell leuchten die Farben über dem Haus auf dem Wildboden und dem Weg ins Sertig- tal. Copyright by Roman Ketterer, Campione d'Italia

1082 Heft 15 vom 10. April 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kirchners Davoser Zeit

ser Umwelt, aber auch die eigene Ambivalenz verrät sich in diesem malerischen Bekenntnis: Zweidrit- tel der seelischen Landschaft ist dunkeldüster (rechte Bildseite), noch gibt es eine schmale Lichtsei- te (links), eine Fernsicht, eine wenn auch karge Aussicht auf die Zukunft.

Kirchner konnte das in Abbildung 3 b gezeigte Pendant zu seinem Rathausbild nicht kennen — wir wollen die Gegenüberstellung wa- gen: Die Bildkomposition im früh- christlichen Mosaik von Aquileja „il gallo e la tartaruga" (3. Jahrhun- dert), ist die gleiche wie in Kirch- ners Rathausbild: die Funktion des Kirchturms als senkrechte Bezugs-

linie wird im Mosaik durch die senk- rechte weiße Linie der Säule aus- geübt, auf der die Amphora als Kampfpreis steht. Der Hahn, der mit dem ersten Schrei den Sonnen- aufgang begrüßt und der deshalb Symbol des Lichts und des Guten ist, steht gegen die Schildkröte, la tartaruga — dem Tartarus, der Höl- le, dem Dunkel verpflichtet. Der Kampf scheint unentschieden: die langsame Schildkröte kann dem flinken Hahn nichts antun — der Schnabel des Hahns kann den Panzer der tartaruga nicht durch- dringen. Und doch hat — anders als in Kirchners Bild — das Licht an Terrain gewonnen: der Kopf des Lichtkünders hat die Mittellinie deutlich überschritten, die „Licht- seite" des Mosaiks ist größer als die Seite des Tartarus geworden. In Kirchners Bild von 1931 dagegen beherrscht das Dunkel bereits zwei Drittel der Bildfläche, nur noch ein schmaler Ausblick auf die Zukunft bleibt. Und noch eines: Wir alle würden beim Versuch eigenen Zeichnens und Malens die Lichtsei- te, „das Gute", auf die rechte Bild- hälfte stellen, wie im Mosaik. In Kirchners Innerem aber hat das

Abbildung 5: Sertigweg (1937), aus Do- nald E. Gordon, Prestel Verlag, Mün- chen. Der Weg des Künstlers ist durch blauschwarze Barrieren blockiert. Copy- right by Roman Ketterer, Campione d'Italia

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Abbildung 6: Schafherde (1938), aus Donald E. Gordon, Prestel Verlag, München.

Kirchners letztes Bild vor dem Suizid. Die Wände des Hauses auf dem Wildboden sind tiefschwarz, es führt kein Weg mehr heraus oder hinein. Copyright by Roman Ketterer, Campione d'Italia

Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen Kirchners Davoser Zeit

Die Welt verdankt dieser Ambiva- lenz die Meisterwerke des „späten Wildbodenstils", die durch großar- tige architektonische Kompositio- nen, kühne Farbkontraste und überzeugende Aussagekraft ge- kennzeichnet sind. Es ist in diesem Rahmen möglich, auf diese zahl- reichen Werke im einzelnen einzu- gehen, wir wollen nur den mit der Deutung der Abbildungen 3 a und 3 b beschrittenen Weg zu Ende ge- hen, indem wir das „Haus auf dem Wildboden" in 3 Entwicklungspha- sen zeigen.

Zunächst „Wildboden im Schnee", 1923 (Abbildung 4) — eine Sym- phonie von Farben begrüßt uns;

das leuchtende Lila, das helle Orange und das Rosa der Kontu- ren des Hauses korrespondieren mit den gleichen Farben der Tan- nen und Berggipfel des Sertig-Täli, ein ganz helles Blau und helles Grün deutet den Schatten an, das Weiß des Schnees fügt sich diesen freudigen Farben an, der Weg ins Sertig-Täli ist frei und hell und viel- versprechend. 14 Jahre später, 1937 (Abbildung 5), ist dieser Weg blockiert durch schwarze Barrie- ren, das leuchtende Lila ist einem traurigen Dunkel-Grau gewichen.

Ein weiteres Jahr später, 1938, Kirchners letztes Bild „Schafher- de" (Abbildung 6) zeigt uns noch einmal das Haus auf dem Wildbo- den. Eine Herde von weißen Scha- fen hat sich halbkreisförmig um das Haus gelagert. Das helle Band dieses Halbkreises verstärkt den Kontrast zum Dunkel des Hauses, zum tiefen Schwarz der fast fen- sterlosen Hauswände. Kein Weg führt heraus aus dieser Finsternis, keine Fernsicht, nicht einmal mehr ein schmaler Streifen bleibt, nichts mehr von jenem leuchtenden Lila des ersten Bildes vom Haus auf dem Wildboden. Kirchner hat sich ganz in das Dunkel der Depression

zurückgezogen. Am 15. Juni 1938 wählt er den Freitod. Das Bild

„Schafherde" steht auf seiner Staf- felei!

Wir gehen den sonnigen Wiesen- weg, entlang dem rauschenden Landwasser, in Richtung Frauen- kirch, biegen in Höhe des Kirch- leins mit dem Lawinenschutz in das Sertigtal ein und sehen über uns inmitten der blühenden Wiesen das Haus „auf dem Wildboden".

Jedes Jahr, vom 1. bis 31. August, also innerhalb des Termins des Davos-Sommerseminarkongresses, öffnet sich zur Erinnerung an den großen Künstler die schwere Holz- tür für den Wanderer, für den Kunstbeflissenen, für den zufälli- gen Besucher von nah und fern.

Zahlreiche Originalarbeiten aus al- len Schaffensperioden Kirchners hängen und liegen herum, als sei der Künstler eben nur mal kurz weggegangen. Wir nutzen die ein- malige Gelegenheit, Haus und Werk des Künstlers zu begreifen.

Dann folgen wir dem Weg in das Sertig-Täli; Kirchner ist ihn oft ge- gangen, er hat ihn immer wieder gezeichnet und gemalt, um uns dann schließlich ein Jahr vor dem Zusammenbruch Kenntnis zu ge- ben von der Blockierung dieses seines Weges.

Bei unserem Spaziergang auf die- sem Pfad quält uns der Gedanke an die damalige Hilflosigkeit der Psychiatrie, verglichen mit den heu- tigen therapeutischen Fortschrit- ten. Hätte er doch noch ein Jahr- zehnt ausgehalten, und diese Blok- kierung wäre — so glauben wir — den Psychopharmaka gewichen!

Leuchtende Farben auf dem Wild- boden hätten wieder Kunde geben können vom dritten Leben des Künstlers.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med.

Albert Schretzenmayr 89 Augsburg

Frohsinnstraße 2 Dunkel der Depression schon so

viel Übergewicht gewonnen, daß er der Finsternis den „rechten" Platz einräumt.

Das Haus auf dem Wildboden

DEUTSCHES ÄRZTE BLATT Heft 15 vom 10. April 1975 1083

Referenzen

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