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Archiv "Gerechte Mittelverteilung: Ärzte in der Verantwortung" (11.12.2009)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 106

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Heft 50

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11. Dezember 2009 A 2499

KOMMENTAR

Prof. Dr. med. Dieter Köhler, Ärztlicher Direktor, Krankenhaus Kloster Grafschaft

S

chon länger ist klar, dass nicht alles bezahlbar ist, was machbar und wünschenswert wäre. Eine Diskus- sion über Verteilungsgerechtigkeit wird immer notwendiger. Neue Begriffe tau- chen auf, um die ungeliebte „Rationie- rung“ zu vermeiden. Ressourcenallokati- on und zuletzt Priorisierung sind neue Bezeichnungen beim Umgang mit dem alten Problem. Viele sagen, bereits eine Debatte darüber sei unethisch, da sie dem hippokratischen Eid des Arztes zu- widerlaufen würde; dieser sei nun ein-

mal verantwortlich für den einzelnen Pa- tienten. Die Frage der Finanzierung sei Sache der Politik oder, noch allgemeiner, der Gesellschaft. Damit stehlen sich die Ärzte aber aus der Verantwortung und handeln, vermutlich ohne sich darüber Gedanken gemacht zu haben, letztlich unethisch. Denn auch im Gesundheits- system herrscht bei der Mittelverteilung das Prinzip der kommunizierenden Röh- ren. Geld, das an einer Stelle zu viel ausgegeben wird, fehlt an anderer Stelle und verursacht dort möglicherweise ei- nen Schaden.

So kann man beispielsweise mut- maßen, dass für 100 überflüssige Ope- rationen pro Jahr 100 Liegegeschwüre in Pflegeheimen zusätzlich auftreten, da dort der Personalschlüssel reduziert werden musste. Oder es sterben Pa- tienten an gut behandelbaren Erkran- kungen, weil sie einige Wochen auf ei- nen Termin beim Facharzt warten müs- sen. Wegen der anonymen Koppelung der Kosten entsteht hier selten ein Un- rechtsbewusstsein. Trotzdem ist das ethische Problem bezogen auf das Ge- samtkollektiv der Erkrankten offen- sichtlich. Der Arzt ist eben nicht nur dem Einzelnen, sondern auch den Ein- zelnen verpflichtet.

Ein Teilproblem dieser Debatte wur- de bisher eher ausgespart – nämlich die Rechtsverordnungen oder Richtlini- en, die vom Staat oder halbstaatlichen

Organisationen, wie etwa dem Robert- Koch-Institut, erlassen werden. Hier besteht die Gefahr, dass infolge zuneh- mender Komplexität und Stringenz der Vorgaben Ressourcen aus anderen Be- reichen abgezogen werden müssen, sodass insgesamt mehr Schaden als Nutzen entsteht. Relativ unabhängig von Inhalt und Zusammensetzung zei- gen Kommissionen die Neigung, beste- hende Richtlinien oder Gesetze immer weiter zu diversifizieren – ein typisches gruppendynamisches Phänomen. Da-

bei werden automatisch die bereits be- stehenden Vorgaben als richtig voraus- gesetzt, obwohl das in vielen Fällen gar nicht belegbar ist.

Begründet werden die ausgeweite- ten Regeln zumeist mit Einzelfällen, bei denen ein Schaden entstanden ist, wie beispielsweise mit einer durch beson- dere Umstände zustande gekommenen nosokomialen Infektion oder mit einem Fehler eines medizinischen Gerätes.

Hierbei wird nahezu immer von einem

„worst case scenario“ ausgegangen, was dann kaum mehr Gegenargumen- te zulässt. Beispiele sind Hygienever- ordnungen, Medizinproduktegesetz, Transfusionsgesetz und Strahlenschutz.

Jedem wird das Problem sofort klar, wenn man vom „worst case scenario“

als Grundlage des ärztlichen Handelns ausgeht. Das Gesundheitssystem wür- de zusammenbrechen, wenn in jedem Einzelfall ein theoretisch möglicher Schaden vermieden werden müsste.

So wäre es beispielsweise erforderlich, bei jedem nicht eindeutig klaren Kopf- schmerz ein CT oder ein MRT durchzu- führen. Jede Disziplin könnte sofort mit Hunderten seltener Differenzialdiagno- sen aufwarten. Die Befolgung dezidier- ter Vorgaben bindet Klinikpersonal und zieht es von anderen Bereichen ab, wo es zur Gefährdung der Patienten we- gen der schlechteren Versorgung kommt. Hier geht man also stillschwei-

gend (und richtigerweise) von keinem

„worst case scenario“ aus, sondern von einem kollektivethischen Ansatz, der allen eine möglichst gerechte Ge- sundheitsversorgung sichern soll.

Erstaunlicherweise wird dieser Pro- blempunkt in der Priorisierungsdebatte nahezu völlig ausgespart. Dabei müs- sen eben auch Rechtsverordnungen und Richtlinien in die Diskussion mit eingebunden werden. Für viele Vorga- ben fehlen jegliche wissenschaftliche Grundlagen, die diese breite Hand-

lungspflicht begründen würden. So gibt es beispielsweise keine gesicherten Daten, die zeigen, dass eine MRSA-Iso- lierung das Outcome verbessert. Im Gegenteil, durch die Isolierung nimmt die Überwachungsqualität ab, es gibt Hinweise für ein höheres Nettorisiko für die Patienten. Auch beim Strahlen- schutz wird in dem Niedrigdosisbereich bereits von einem stochastischen Schaden ausgegangen, für den es Hy- pothesen, jedoch keine Beweise gibt (es gibt auch gegenteilige Hypothesen).

Die Annahme ist immer, dass ein Schaden entstehen könnte und dass natürlich die ärztliche Tätigkeit diesen zu vermeiden hat. Dieser an sich plau- sible und allgemein akzeptierte Grund- satz ist aber dann infrage zu stellen, wenn seine Verwirklichung so viel Kos- ten verschlingt, dass in anderen Teilbe- reichen ein größerer Schaden für die Patienten entsteht.

Durch die jetzt aufkommende offene Debatte über Rationierung im Gesund- heitswesen sollten diese Mechanismen auch in die öffentliche Diskussion ein- bezogen werden. Einer der großen Vor- züge der Demokratie beziehungsweise der offenen Gesellschaft nach Karl Popper ist auch die Rücknahme oder Korrektur von politischen Entscheidun- gen. Dies sollte auch für Rechtsverord- nungen und Richtlinien im medizini-

schen Bereich gelten. ■

GERECHTE MITTELVERTEILUNG

Ärzte in der Verantwortung

P O L I T I K

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