Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 5⏐⏐2. Februar 2007 A223
P O L I T I K
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eigentlich war davon auszu- gehen, dass die Debatten über eine Liberalisierung des europä- ischen Gesundheitsmarktes abklin- gen würden. Denn im Februar 2006 hatte das Europaparlament sich nach langem Hin und Her darauf geei- nigt, gesundheitliche Dienstleistun- gen aus der Dienstleistungsrichtli- nie auszunehmen. Schließlich, so die Kritiker eines umfassend libe- ralisierten Marktes, seien Gesund- heitsangebote besondere Leistun- gen, die zudem in die Gestaltungs- hoheit der Mitgliedsstaaten fielen.Doch weit gefehlt: Nicht einmal ein Jahr später – das zeigten die Dis- kussionen während der Auftaktver- anstaltung des Bundesgesundheits- ministeriums (BMG) zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft in Potsdam Mitte Januar – wird bereits wieder heftig darüber debattiert, wie grenz- überschreitende Gesundheitsdienst- leistungen in einer eigenen Richtli- nie zu regeln wären.
Eine sektorenspezifische Dienst- leistungsrichtlinie für den Gesund- heitsbereich zu erlassen ist für die
Kommission naheliegend: Derzeit bestehe keine Rechtssicherheit der Patienten. Bürger, die in anderen Mitgliedsstaaten ärztliche Leistun- gen in Anspruch nehmen oder dies beabsichtigen, bleiben der Kommis- sion zufolge zurzeit noch immer mitunter trotz zahlreicher Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) entweder teilweise auf ihren Kosten sitzen, oder sie erhalten erst gar kei- ne Erlaubnis, sich im Ausland be- handeln zu lassen.
„Deshalb diskutieren wir zurzeit über die Zutrittsbedingungen in an- dere EU-Mitgliedsstaaten“, heißt es aus dem Referat für Grundsatzfra- gen europäischer Gesundheitspoli- tik des BMG. Zu klären sei bei- spielsweise, ab welcher Wartezeit ein Patient sich im Ausland behan- deln lassen dürfe. Bis Ende Januar haben Regierungsvertreter, Stan- desorganisationen und Interessen- vertreter die Möglichkeit, Stellung- nahmen abzugeben. Nach einem weiteren Meinungsaustausch der Gesundheitsminister im April in Aa- chen sollen sich diese bis zum Ende
der deutschen Ratspräsidentschaft im Juni über Fristen einigen.
Geht es nach den Spitzenverbän- den der Krankenkassen, ist kein weiterer Schritt notwendig. Schließ- lich habe Deutschland die EuGH- Entscheidungen zur Patientenmobi- lität bereits im Zuge des GKV-Mo- dernisierungsgesetzes 2004 in deut- sches Recht umgesetzt1, heißt es in deren Potsdamer Erklärung. Sie ga- ben der Kommission bereits im Herbst vergangenen Jahres zu verste- hen, dass es neben dem nationalen Recht und den bestehenden Verord- nungen2 keiner weiteren Gesetze bedürfe. „Wir befürchten nicht, durch ein neues Gesetzes mehr zahlen zu müssen“, sagt Dirk Ruiss, der bei den Spitzenverbänden federführend für den Bereich Europa tätig ist. Es be- stehe aber durchaus die Sorge, dass in die Sektorenrichtlinie erneut das Herkunftslandprinzip Einzug hält.
Hiernach sollte Ärzten, Pflegekräf- ten und anderen Diensleistern, die vorübergehend im EU-Ausland ar- beiten wollen, garantiert werden, ih- re Leistungen nach den Vorschriften ihres Heimatlandes anzubieten.
Wie sich die Bundesgesundheits- ministerin in diesem Punkt positio- nieren wird, ist noch unklar. Die Ausgestaltung der Sozialsysteme bleibe zwar auch künftig Aufgabe der Nationalstaaten, betonte Ulla Schmidt in Potsdam, dennoch hält sie legislative Detailregelungen zu grenzüberschreitenden Gesundheits- dienstleistungen für erforderlich.
Ihre Mitarbeiter äußern sich deutli- cher: Die Krankenkassen seien – wie an den derzeitigen Reformdis- kussionen ersichtlich – „struktur- konservativ“. Zudem gebe es immer
„Auffassungsunterschiede“. I Martina Merten
GESUNDHEITSVERSORGUNG IN EUROPA
Neue Diskussion über Richtlinie
Während die Kommission unermüdlich den europäischen Gesundheitsmarkt zu liberalisieren versucht – diesmal mithilfe einer „Sektorenrichtlinie“ –, pochen heimische Kostenträger auf die Beibehaltung nationaler Besonderheiten.
Zankapfel Europa:
Wie weit Solidarität auf dem europä- ischen Gesundheits- markt gehen soll, ist zwischen Kommis- sion, EU-Mitglieds- staaten und Kosten- trägern umstritten.
Foto:dpa
1§ 13 Absatz 4–6 SGB V
2 EWG Nr. 1408/71; EG 883/04