A586 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 1114. März 2008
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chwere graue Wolken hän- gen über Sartène. Erste Re- gentropfen fallen. Die triste Stim- mung verleiht der Stadt einen me- lancholischen Reiz. Mehrstöckige Häuser aus dunklem Granit säumen die Gassen. Der Schriftsteller Pros- per Mérimée bespöttelte sie einst wegen ihres Festhaltens an alther- gebrachten religiösen Bräuchen als die „korsischste aller korsischen Städte“. Doch die Stadt über dem Rizzanèse am Hang des Monte Grosso ist der ideale Ort für die mystische Karfreitagsprozession, die ihren Ursprung im Mittelalter hat.Schon vor Einbruch der Dunkel- heit sind die besten Plätze im Zen- trum besetzt. Die Balkons in den oberen Stockwerken drohen unter der Last der vielen Menschen abzu- stürzen, in den weit geöffneten Fens- tern drängt sich Kopf an Kopf, und auf Brunnen und vorstehenden Dächern hängen Menschentrauben.
Es hat inzwischen aufgehört zu reg- nen. Jetzt taucht der Vollmond ganz Sartène in silbernes Licht.
Um 21 Uhr 30 kündigen dumpfer Trommelwirbel und monotoner Klagegesang den Beginn der Pro- zession an. Kinder und Fotografen eilen dem Zug voraus. Wenn der Büßer auf der Bildfläche erscheint,
ne Masochismus“, empört sich eine Frau in der Menge. Ihr Mann schickt sich gerade an, eine Nahaufnahme von U Catenacciu zu machen, wird jedoch resolut von einem Priester zur Seite geschoben: „Das hier ist eine heilige Prozession und kein Karneval.“ Die Menge bewegt sich weiter durch die Straßen und Gas- sen, bis sie in die bis auf den letzten Platz gefüllte Église Sainte-Marie Assunta hineinströmt. Hier darf der Rote Büßer seine Last ablegen. Das Passionsfest endet mit einer feier- lichen Messe.
„Es stimmt, dass jeder, der Büßer werden will, sich um diese Ehre be- werben muss“, erklärt einer, der fast sein ganzes Leben hier verbracht hat. „Der Pfarrer von Sartène trifft eine strenge Auswahl. Manchmal müssen Kandidaten mehr als zehn Jahre warten. Dem Geistlichen ist als Einzigem die wahre Identität des U Catenaccio bekannt, der in jedem Fall anonym bleiben muss.“ Des- halb ist er auch gänzlich verhüllt. In den meisten Fällen wollen verurteil- te Verbrecher mit diesem Bußgang Sühne tun. Oder aber jene, deren Ta- ten unentdeckt blieben, möchten auf diese Weise ihr Gewissen entlasten.
Wollen die Leute hier denn nicht wissen, wer der Büßer ist? „Natür- lich“, bestätigen die Einheimischen.
„Alle sind neugierig und schließen sogar Wetten ab. Aber es ist ganz schwer, irgendwen unter der Ver- kleidung zu erkennen.“ Allerdings endete vor ein paar Jahren die Pro- zession fast in Heiterkeit. Der treue Hund des Büßers hatte sich losgeris- sen, zerrte fröhlich kläffend an der roten Robe und leckte seinem Herr- chen ausgiebig die Füße. I Uta Buhr
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@mdlf.de, www.franceguide.com geht ein Raunen durch die Menge.
Eine von Kopf bis Fuß in blutiges Rot gehüllte Gestalt wankt mit ei- nem 50 Kilogramm schweren Holz- kreuz auf dem Rücken durch die Straße. Am Fuß trägt sie eine Eisen- kette, die 14 Kilogramm wiegt. Der Gestalt folgen acht weitere, ganz in Schwarz gekleidete Büßer. Sie tragen eine Christusfigur vor sich her. Das Schlusslicht bildet ein Schwarm kirchlicher und weltli- cher Würdenträger, Messdiener und Honoratioren. Indes schleppt sich U Catenacciu, wie der Rote Büßer auf Korsisch heißt, weiter über das Pflaster. In seine über dem Kopf ge- knotete Kutte sind nur Augenschlit- ze und zwei winzige Löcher für die Nase geschnitten. Der schmächtige Mann stöhnt und droht zu stürzen.
Der Weiße Büßer hinter ihm hebt das Kreuz leicht an. Er symbolisiert Simon von Kyrene, der, wie die Bi- bel berichtet, Jesus als Einziger auf seinem Weg nach Golgatha gehol- fen hat, „sein Kreuz zu tragen“. Das Ritual verlangt, dass U Catenacciu dreimal zu Boden fällt und sich mit seiner Last wieder erhebt.
„Du musst dir mal vorstellen, dass der Büßer all das freiwillig tut und sich sogar jahrelang um diesen Job bewerben muss. Das ist der rei- OSTERN AUF KORSIKA
Der Masochismus des Roten Büßers
Die Karfreitagsprozession in Sartène folgt strengen mittelalterlichen Ritualen.
U Catenacciu:Von Kopf bis Fuß in blu- tiges Rot gehüllt, büßt er für seine Sünden. Nur der Pfarrer kennt seine Identität.
„Perdono dio mio“:Ein düsterer Sprechgesang erfüllt die Luft bei der Karfreitagsprozession in Bonifacio.