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Archiv "Medizinische Begutachtung - Pflicht oder Gefälligkeit?" (03.07.1992)

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(1)

DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

DIE ÜBERSICHT

Medizinische

Begutachtung Pflicht oder Gefälligkeit?

Die Erstellung medizinischer Gutachten ist eine der Pflichten des ap- probierten Arztes, die eher Mühe und Verdruß als Lohn und Anerken- nung erwarten läßt. Dies liegt unter anderem an der unterschiedlichen Erwartungshaltung des jeweiligen Auftraggebers, manchmal auch an der Erfahrung, daß solche Schriftsätze eher der Gefälligkeit gegenüber einer Partei als der Erhellung medizinischer Fakten dienlich sind. Weil unzureichende Fachkenntnisse im sozialmedizinischen Bereich beson- ders ins Gewicht fallen, werden hier einige aktuelle Grundlagen im Rahmen der Kranken- und Rentenversicherung, beim Schwerbehinder- tengesetz und in der Unfallversicherung aufgezeigt und einige allge- meine Regeln für die Gutachtertätigkeit zur Diskussion gestellt.

Hans Hermann Marx

1:1

ie besonderen Anforde- rungen an einen Gutach- ter liegen darin, daß nicht nur sein Patient und des- sen Angehörige einen Schriftsatz im speziell gewünschten Sinn erwarten, zum Beispiel für die Erlangung der Schwerbehinderteneigenschaft oder zur Rentenbewilligung, sondern auch die jeweilige Behörde oder ein Sozialgericht, wobei der Gutachter die bestehenden Verordnungen und Gesetze ebenso kennen und berück- sichtigen muß wie die wissenschaft- lich anerkannten Grundlagen. Somit steht der Gutachter im Brennpunkt unterschiedlichster Anforderungen, denen er gerecht werden muß (2). Es kann als bekannt vorausgesetzt wer- den, daß gemäß § 278 StGB Ärzte und andere approbierte Medizinal- personen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszu- stand eines Menschen zum Ge- brauch bei einer Behörde oder Ver- sicherungsgesellschaft wider besse- res Wissen ausstellen, mit Freiheits- strafen von einem Monat bis zwei Jahren bestraft werden können. Des- halb ist grundsätzlich von einem ob- jektiv brauchbaren Gutachten zu un- terstellen, daß es auf detaillierter Kenntnis des Gegenstandes, exakten und angemessenen Untersuchungs-

ergebnissen, umfassendem Wissen von den gesetzlichen und medizini- schen Grundlagen wie auch auf un- abhängigem und vorurteilslosem Vermögen des Gutachters beruht.

Wie unterschiedlich dabei die Auf- gabenstellungen sind, soll nachfol- gend an den wichtigsten sozialmedi- zinischen Bereichen aufgezeigt wer- den.

O

Krankenversicherung

In der gesetzlichen Krankenver- sicherung muß der Arbeitnehmer spätestens am dritten Tag eine Krankschreibung durch seinen be- handelnden Arzt vorlegen. Für die Dauer einer solchen Krankschrei- bung im Einzelfall gibt es keine star- ren Regeln, weil nicht immer nur medizinische Gesichtspunkte zu be- rücksichtigen sind, so daß der erfah- rene Praktiker diesen Zeitraum we- der besonders engherzig noch groß- zügig ansetzen wird. Wenn es ein Nachrichtenmagazin der Schlagzeile für Wert hält, daß in Deutschland

„Krankfeiern ein Volkssport" sei, so macht dies die ärztliche Verantwor- tung deutlich. Im übrigen ist unser soziales Netz heute bereits für alle Arbeitnehmer so engmaschig ge-

knüpft, daß der behandelnde Haus- arzt auch nicht den Anschein erwek- ken sollte, daß er einzelnen Patien- ten ungerechtfertigte Vorteile ver- schaffen wollte.

Die Überwachung besonderer Fälle geschieht durch den Medizini- schen Dienst der gesetzlichen Kran- kenversicherung (früher sogenann- ter Vertrauensärztlicher Dienst), dem weiterhin Begutachtungen zur Sicherung des Heilerfolges bei Ar- beitsunfähigkeit, Anträge auf Maß- nahmen zur medizinischen Präventi- on und zur Rehabilitation obliegen, neuerdings in besonderem Maße auch Beurteilungen des häuslichen Krankenpflegebedarfs und der Schwerpflegebedürftigkeit (2). In all diesen Fragestellungen können die zuständigen Behörden nur dann sachlich begründete Entscheidungen treffen, wenn sie durch entsprechen- de Atteste des Hausarztes umfas- send informiert werden.

Rentenversicherung (5)

In der gesetzlichen Rentenversi- cherung geht es um die Begriffe der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, deren Voraussetzung jedem Arzt ebenso bekannt sein müssen wie die Dt. Ärztebl. 89, Heft 27, 3. Juli 1992 (41) A1-2389

(2)

Tatsache, daß dabei prozentuale An- gaben einer Minderung der Erwerbs- fähigkeit = MdE entfallen. Bei Be- amten, Bundeswehr und so weiter kann eine Dienstunfähigkeit in Fra- ge stehen. Dem behandelnden Haus- arzt fällt die Aufgabe zu, der für die Rentengewährung zuständigen Be- hörde durch einen ausführlichen Be- fundbericht Unterlagen an die Hand zu geben, die eine Entscheidung er- möglichen. Ein solcher Befundbe- richt sollte Angaben über Behand- lungsbeginn, besondere Krankheits- ereignisse, derzeitige Beschwerden und Symptome, Behandlungsrichtli- nien sowie objektiv belegte Diagno- sen enthalten. Ähnliches gilt für An- träge auf medizinische Rehabilitati- on. Die für die Rentenversicherer (BfA, LVA) tätigen Gutachter ha- ben bei der Entscheidung über Ren- tengewährung auch zu berücksichti- gen, was als Bezugsberuf des Antrag- stellers gilt, und sie sollen ein indi- viduelles Leistungsbild aufstellen, nach dem über die Berufsfähigkeit oder auch berufsfördernde Maßnah- men zu entscheiden ist. Zu bedenken ist auch, daß der etwa im Rahmen des Schwerbehindertengesetzes er- langte Grad der Behinderung für die Frage einer Rentengewährung durch die gesetzliche RV irrelevant ist;

auch kann ein Kriegsbeschädigter, der zum Beispiel nach Schußverlet- zung eine schädigungsbedingte MdE von 80 Prozent zuerkannt bekam, durchaus für einen körperlich nicht besonders belastenden Beruf noch voll berufsfähig sein.

Besondere Schwierigkeiten bei der Rentengewährung bieten in zu- nehmendem Maße solche Fälle, bei denen eine krankmachende Lebens- weise gegeben ist, vor allem bei Al- kohol- und Tablettenmißbrauch.

Hier unterliegen die Auskünfte ei- nem besonderen Maß an Diskretion, weshalb es sich für den behandeln- den Arzt empfiehlt, daß er vor Abga- be seines Berichtes von seinem Pa- tienten eine persönliche Entbindung von der Schweigepflicht einholt. Lei- der werden solche Krankheitsbilder in den Anfangsstadien unterschätzt oder von Patienten und auch den Angehörigen verschleiert. Grund- sätzlich sind die Auswirkungen der Alkoholkrankheit als Rentenbegrün-

dung ebenso anerkannt wie jede an- dere organische oder psychische Er- krankung, jedoch wird allgemein vor- ausgesetzt, daß vor Rentengewäh- rung ein langfristiger stationärer Be- handlungsversuch mit dem Ziel der Entziehung durchgeführt wurde und daß Befunde vorliegen, die auf se- kundäre Organschäden, vor allem im Bereich der Leber und des Stoff- wechsels, hinweisen. Da für die Ren- tengewährung hier die Kausalität der Krankheit keine Rolle spielt, kann ein Alkoholiker auch nicht durch Nichtgewährung einer objektiv ge- rechtfertigten Rente „bestraft" oder

„erzogen" werden.

0

Schwerbehinderten- gesetz

Hierbei handelt es sich genauer um das „Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft", woraus zu erkennen ist, daß nun ganz andere Voraussetzungen als bei den Rentenanträgen gegeben sind.

Wie im einzelnen den „Anhaltspunk- ten für die ärztliche Gutachtertätig- keit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehinderten- gesetz" (1), zu entnehmen ist, sind Schwerbehinderte im Sinne dieses Gesetzes Personen, die körperlich, geistig und seelisch behindert und in Folge ihrer Behinderung in ihrer Er- werbsfähigkeit nicht nur vorüberge- hend (das heißt mehr als sechs Mo- nate) um wenigstens 50 Prozent ge- mindert sind, sofern sie rechtmäßig

0

Soziales Entschädigungs- recht, insbesondere Kriegs- opferversorgung (2, 4)

Hier erfolgt die Bewertung einer Schädigungsfolge unter dem Begriff der „Minderung der Erwerbsfähig- keit" = MdE in Prozent gemessen, obwohl dies keinen direkten Bezug auf die bestehende Erwerbstätigkeit besitzt und auch für Behinderungen gilt, an denen Patienten leiden, die nicht mehr oder noch gar nicht im Er- werbsleben stehen. Nach den erwähn- ten „Anhaltspunkten für die ärztliche

im Geltungsbereich dieses Gesetzes wohnen. Nach der letzten Novellie- rung von 1986 sind die Versorgungs- ämter gehalten, auf Antrag den je- weiligen „Grad der Behinderung" = GdB festzustellen, worunter jeder regelwidrige Zustand, jede Gesund- heitsstörung körperlicher, geistiger oder seelischer Art, gleichgültig wel- che Ursache, zu verstehen ist. Wer den heutzutage offensichtlich für viele erstrebenswerten Status eines

„Schwerbehinderten" erreicht hat, ist dadurch keineswegs rentenbe- rechtigt, genießt aber einige materi- elle Vorteile hinsichtlich Kündi- gungsschutz, Steuern und ähnliches.

Für bestimmte „Nachteilsausglei- che" macht das Gesetz weitere ge- sundheitliche Merkmale zur Voraus- setzung, wie zum Beispiel erhebliche Gehbehinderung zur Gewährung von Freifahrtscheinen, Parkerleich- terung usw. Der Vorsatz, die myste- riöse Grenze eines GdB von 50 zu er- reichen, sollte allerdings nicht dazu führen, daß eine größere Anzahl be- langloser Diagnosen („Zustand nach Uterusentfernung" und so weiter) aufgeführt wird. Mehr im Interesse des Patienten ist es, daß man ihm den Sinn dieses Gesetzes erklärt und gezielt vermeidet, daß bei solchen Patienten die Aktivität eher fehlge- richtet und der Schwerbehinderten- status nur als Teilgewinn empfunden wird, der dann eventuell zu langwie- rigen Bestrebungen nach zusätzli- chen Sozialleistungen, vor allem zur Rentengewährung führen soll, was jedoch auf ganz anderer Ebene zu

entscheiden ist.

Gutachtertätigkeit" (letzte Ausgabe 1983) ist in der MdE ein Maß für die Auswirkungen eines Mangels an funktioneller Intaktheit, an körperli- chem, geistigem und seelischem Ver- mögen zu sehen. Damit gibt die MdE den Grad der Behinderung wieder, ohne daß sie vom Berufsleben abhän- gig wäre. Allerdings kann bei Zuer- kennung einer Schädigungsfolge auf Antrag ein besonderes berufliches Betroffensein berücksichtigt und die MdE erhöhtwerden, wenn die Berufs- tätigkeit und damit auch der Ver- dienst durch die erlittene Schädigung nachweislich beeinträchtigt wurde. l>

A1-2390 (42) Dt. Ärztebl. 89, Heft 27, 3. Juli 1992

(3)

Das soziale Entschädigungs- recht betrifft neben dem Bundesver- sorgungsgesetz (BVG) noch das Sol- datenversorgungsgesetz, das Bun- desseuchengesetz und andere. Es unterscheidet sich von den bisher er- wähnten Versorgungsbereichen vor allem durch die Tatsache, daß der Nachweis eines ursächlichen Zusam- menhangs zwischen angeschuldigtem Ereignis und nachfolgender Gesund- heitsstörung erbracht, zumindest wahrscheinlich sein muß. Dabei ist ein ursächlicher Zusammenhang wahrscheinlich, wenn diesem nach Würdigung aller Umstände gegen- über anderen Möglichkeiten der Verursachung ein deutliches Über- gewicht zukommt, so daß ernsthafte Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden. In vielen Fällen einer beantragten oder auch bereits gewährten Versorgung, vor allem für Kriegsteilnehmer, sind der- artige Zusammenhangsfragen nach Antragsstellung oder Antrag auf Hö- hereinstufung der schädigungsbe- dingten MdE strittig und dann nicht selten Gegenstand langwieriger Sozi- algerichtsverfahren (6). Für die Gut- achtertätigkeit in diesem Bereich sind in besonderem Maße Kenntnis- se der gesetzlichen Grundlagen wie auch der speziellen Krankheitsursa- chen erforderlich. Dabei ist zu be- achten, daß Ursache im Sinne dieser Versorgungsgesetze die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophi- schen Sinn ist, die wegen ihrer be- sonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Haben mehrere Umstände zu ei- nem Erfolg beigetragen, so sind sie versorgungsrechtlich nur dann ne- beneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Kommt einem der Umstände gegenüber dem anderen überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand Alleinursache im Sinne des Versorgungsrechtes. Da- bei muß auch ein Nach-Schaden, der nur zeitlich, nicht aber ursächlich ei- nem Schädigungsereignis folgt, von einem Folge-Schaden unterschieden werden, der wegen ursächlichem Zu- sammenhang entschädigungspflich- tig ist. Fakten, auf die sich die Beur- teilung des Zusammenhangs grün-

det, müssen bewiesen oder zumin- dest wahrscheinlich sein. Möglich- keiten oder persönliche Vermutun- gen des Gutachters sind ohne Be- deutung. Trotzdem findet man gera- de bei solchen Sozialgerichtsverfah- ren gelegentlich Schriftsätze eines behandelnden oder eines gem. § 109 I SGG beauftragten Arztes, in denen Kausalketten konstruiert werden, die einer objektiven Bewertung kei- neswegs standhalten können. Dabei finden sich dann Motive, die erken- nen lassen, daß die ärztliche Aufga- be im Sinn eines sozialen oder an- geblich „wohlwollenden", aber eben parteilichen Denkens mißverstanden wird. Solche Ärzte können sich von einem, wie der Psychiater Bleuler es ausdrückte, fast biologisch begrün- deten Zwang zur Parteinahme schlecht lösen, sie unterliegen, ohne es selbst zu bemerken, einem unkriti- schen Gefühlsdenken und werden verleitet, dem laienhaften Kausali- tätsbedürfnis des Rentenbewerbers zu folgen. Dabei ist natürlich als be- kannt vorauszusetzen, daß es ein „in dubio pro reo" nur im Strafrecht gibt, im Sozialrecht aber keinesfalls ein „pro aegroto", denn im Gegen- satz zum Strafrecht, wo der Kläger (Staatsanwalt) beweispflichtig ist, bleibt dies hier der Antragsteller.

Gesetzliche

Unfallversicherung, Berufskrankheiten (3, 7)

In beiden Bereichen stehen wie- derum Kausalitätsfragen im Mittel- punkt, die häufig schwer zu beant- worten sind. Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind die 36 ge- werblichen Berufsgenossenschaften, die für die Entschädigung von Un- fallfolgen nach dem Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung ver- antwortlich sind, wobei die MdE- Sätze aufgrund allgemeiner Erfah- rung für gesundheitlich gleich ge- schädigte Verletzte auch gleich fest- gesetzt wurden. Anders als im Ver- sorgungsrecht bildet für die Verletz- tenrente der Unfallversicherung aber das Arbeitsentgelt, das der Verletzte vor dem Unfall verdient hat, die Grundlage. Schwierige Entscheidun- gen verlangen solche Unfallfolgen,

bei denen das von außen einwirken- de Unfallereignis nicht allein oder nicht mehr für einen Gesundheits- schaden verantwortlich zu machen ist, bei dem die äußere Einwirkung also eine Art Gelegenheitsursache darstellt, sozusagen den letzten Tropfen, der das Faß zum Überlau- fen bringt. Solche Fragen bestehen beispielsweise bei einem Myokardin- farkt, der in zeitlich engem Zusam- menhang mit einem Unfall oder Thoraxtrauma entstanden ist, bei dem als eigentliche organische Ursa- che die Koronarsklerose gilt, aber äußere oder auch psychische Einwir- kungen als Teilursache quantitativ abzugrenzen sind. Bei Gelenkschä- den, Ermüdungsfrakturen, degene- rativen Kniegelenksveränderungen unter anderem wird den sogenann- ten Gelegenheitsursachen meistens keine wesentliche Bedeutung zuge- messen, was im einzelnen der ent- sprechenden Fachliteratur zu ent- nehmen ist (3).

Berufskrankheiten sind Krank- heiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung (BEKV) bezeichnet hat und die ein Versi- cherter bei einer der in der Berufs- krankheitenverordnung genannten Tätigkeiten erleidet. Nach § 545 RVO werden Berufskrankheiten im Gegensatz zu Arbeitsunfällen über- wiegend durch längerdauernde und wiederholte schädliche Einwirkun- gen am Arbeitsplatz hervorgerufen.

Sie können manchmal auch erst in jahrzehntelangem Abstand zwischen dem Beginn der schädigenden Ein- wirkung und dem Zeitpunkt der Dia- gnose auftreten, also mit großer La- tenz, während ein Unfallereignis im allgemeinen während einer Arbeits- schicht oder auch als Wegeunfall auftritt (7). Weitere Voraussetzun- gen für die Anerkennung einer Be- rufskrankheit sind

a) Ausschluß der Erkrankung vor Beginn der als ursächlich angeschul- digten beruflichen Beschäftigung.

b) Klinische Sicherung der Krank- heitsdiagnose unter besonderer Be- rücksichtigung differentialdiagnosti- scher Aspekte.

c) Beweis eines örtlichen und zeitli- chen Zusammenhanges zwischen Schädigung und Krankheitsentwick- lung.

Dt. Ärztebl. 89, Heft 27, 3. Juli 1992 (43) A1-2391

(4)

d) Nachweis der adäquatem Berufs- schädlichkeit (2).

Hat die zu begutachtende Krankheit schon vor Beginn der als ursächlich angeschuldigten Berufsar- beit bestanden, so ist die Frage der Verschlimmerung zu prüfen. Zum Nachweis des örtlichen Zusammen- hangs dient eine besonders sorgfäl- tig aufzunehmende Arbeitsplatzan- amnese, auch Angaben des techni- schen Aufsichtsdienstes der BG und des staatlichen Gewerbearztes sind heranzuziehen. Der Begriff „ad- äquate Berufsschädlichkeit" beinhal- tet die Tatsache, daß gleichgelagerte Krankheitsfälle an entsprechenden Arbeitsplätzen gehäuft zur Beobach- tung kommen, durch epidemiologi- sche Methoden zu belegen sind, daß sie in der Fachliteratur publiziert sind und schließlich zu neuen Er- kenntnissen führen. Von der krank- heitsverursachenden beruflichen Noxe ist zu fordern, daß sie einen

„Listenstoff" darstellt, also daß sie in Anlage 1 der BEKV enthalten ist.

Darüber hinaus ist noch der § 551 Abs. 2 RVO, die sogenannte Gene- ralklausel, zu berücksichtigen, die Bewertungen außerhalb der sonsti- gen Norm möglich macht. Bei der Prüfung des ursächlichen Zusam- menhangs ist eine kausale Verknüp- fung versicherungsrechtlich nur dann relevant, wenn sie zumindest wahrscheinlich ist.

Aktuelle Ausführungen zur be- sonderen Problematik der Begutach- tung von ärztlichen Behandlungsfeh- lern, sogenannten „Kunstfehler", müssen andernorts entnommen wer- den (W. Spann und R. Penning in [2]).

Es sollte deutlich gemacht wer- den, daß für die Gutachtenerstellung generell wesentlich mehr als nur der sogenannte gesunde Menschenver- stand und einige medizinische Grundkenntnisse aufgebracht wer- den müssen. Leider werden aller- dings bisher die dafür notwendigen sozialmedizinischen Grundkenntnis- se weder während des Medizinstudi- ums noch im Rahmen üblicher Fort- bildungsveranstaltungen vermittelt.

Das sollte bei den für die ärztliche Fortbildung zuständigen Gremien überdacht werden. Vorerst bleibt es deshalb in der Verantwortung des

einzelnen Arztes, der Begutachtung den angemessenen Stellenwert zu geben. Dabei wird kein Gutachter für sich in Anspruch nehmen, stets die unanfechtbare „medizinische Wahrheit" gefunden zu haben, er wird sich häufig, zum Beispiel bei Fragen der Kausalität, auf den höchstmöglichen Grad einer Wahr- scheinlichkeit berufen müssen, in je- dem Fall aber bemüht bleibten, eine gerechte, objektiv begründete Beur- teilung abzugeben. Seine Fürsorge- pflicht darf sich dabei nicht auf eine materielle Gefälligkeit reduzieren.

Seine Beurteilung wird um so ge- wichtiger sein, je mehr er dabei seine durch Fachwissen, Sorgfalt und Un- abhängigkeit erworbene ärztliche Autorität unter Beweis stellt.

0

Schlußfolgerungen

Zusammenfassend gelten hier nachfolgende allgemeine Regeln für die ärztliche Gutachtertätigkeit:

C) Das ärztliche Gutachten dient der Aufgabe, „die medizinische Wahrheit" zu finden. Hierzu muß der Sachverständige in jedem Fall fachkundig, objektiv, unabhängig und erfahren sein. Mittelpunkt der Begutachtung bleibt stets der kranke oder hilfesuchende Mensch, der An- spruch auf bestmögliche Untersu- chung und Beurteilung hat.

C) Überschreitet ein Gutachten- auftrag oder die Fragestellung die Möglichkeiten oder Fähigkeiten des Gutachters oder sieht dieser sich in ei- nem Verfahren als befangen an oder ist er persönlich an der Fertigstellung in angemessener Frist verhindert, so sollte er unverzüglich dem Auftragge- ber mitteilen, daß er den Gutachten- auftrag zurückgeben möchte.

®

Umfang und Inhalt des Gut- achtens richten sich nach dem jewei- ligen Auftrag und der Fragestellung.

Da stets Verwaltungsbehörden in die Bearbeitung eingeschaltet sind und das Gutachten grundsätzlich auch dem Antragsteller aus Gründen der Rechtsgleichheit zugänglich ist, sind Diagnosen und Schlußfolgerungen allgemeinverständlich zu formulie- ren.

® Bei der Befragung und Un- tersuchung des Kranken muß der

Gutachter bemüht sein, den Wahr- heitsgehalt der subjektiven Angaben und einen je nach Fragestellung um- fassenden aktuellen Befund zu er- halten. Es ist allgemein davon abzu- raten, daß der Gutachter Fragen der Rentengewährung und Folgen aus den Untersuchungsergebnissen mit dem Antragsteller diskutiert, zumal die Entscheidung nicht bei ihm, son- dern stets bei den jeweiligen Behör- den oder Gerichten liegt. Ausge- nommen hiervon sind solche Befun- de, die neu erhoben wurden und wei- terer Abklärung oder sofortiger Be- handlung bedürfen.

® Die erhobenen objektiven Be- funde sollten unmittelbar bei der Krankenuntersuchung niedergelegt und das Gutachten zu einem Zeit- punkt abgeschlossen werden, an dem der Gutachter noch über eine persön- liche Erinnerung an den Patienten verfügt. Dies bedeutet, daß der Be- fund und möglichst das ganze Gutach- ten vier bis sechs Wochen nach der Untersuchung fertiggestellt werden sollte. Bei längerer Frist ist auch nicht auszuschließen, daß sich der Befund in der Zwischenzeit wieder verändert hat, weshalb der Antragsteller Nach- untersuchung verlangen kann.

® Der Untersuchungsgang ist auf größtmögliche Objektivierung durch Maße und Zahl abzustellen, weshalb auch ein gewisser apparati- ver Aufwand unvermeidbar ist. Die Untersuchungen sind aber gezielt auf die Fragestellung auszurichten, jede Art von „Schrotschuß-Diagno- stik" ist zu unterlassen.

® Die Krankheitsbezeichnung muß so genau wie möglich erfolgen, während zum Beispiel unklare Sam- melbegriffe wie „Rheumatismus, Kreislaufstörungen" oder häufige Kennzeichnungen eines „Zustandes nach" nicht genügend aussagefähig sind.

® Für die Bewertung der einzel- nen Gesundheitsstörungen sind die in den deutschen Lehr- und Handbü- chern niedergelegten Anschauungen und Ergebnisse der Schulmedizin maßgebend, nicht aber die persönli- che Ansicht des Gutachters. Außer- dem muß der Gutachter den neuesten Stand der Gesetze und Verordnungen kennen, die im sozialmedizinischen Bereich maßgeblich sind.

A1-2392 (44) Dt. Ärztebl. 89, Heft 27, 3. Juli 1992

(5)

DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

FÜR SIE REFERIERT

C) Als Grundlage der Gutach- tertätigkeit im sozialen Entschädi- gungsrecht und im Schwerbehinder- tenrecht gelten die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit", letzte Ausgabe 1983, die sowohl über Kausalitätsfragen wie über die Bewer- tung der Gesundheitsschäden Hin- weise liefern.

(Z) Der Gutachter darf in seiner Schlußfolgerung nicht ausführen, was er möchte, sondern was sich zwingend und objektiv aus den Befunden ablei- tet. Alle seine Feststellungen und Fol- gerungen müssen beweisbar oder we- nigstens überwiegend wahrscheinlich sein. Auch für den behandelnden Arzt können nicht karitative oder einer Ge- fälligkeit dienende Motive gegenüber seinem Patienten für die Erstellung gutachterlicher Schriftsätze maßgeb- lich sein, sondern es bleibt eine nach bestem Wissen und Gewissen zu erfül- lende ärztliche Berufspflicht.

Dt. Ärztebl. 89 (1992) A 1-2389-2394 [Heft 27]

Literatur

1. „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachter- tätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz".

Köllen Verlag, Bonn (1983)

2. Marx, H. H. (Hrsg.): „Medizinische Begut- achtung, Grundlagen und Praxis", 6. Auflage, G. Thieme, Stuttgart 1992

3. Mehrtens, E. H.; Valentin, H.; Schönberger, A.: „Arbeitsunfall und Berufskrankheit", 4.

Auflage, Schmidt Verlag, Berlin (1988) 4. Rauschelbach, H. H.: „Ärztliche Begutach-

tung im Spannungsfeld zwischen Medizin, Recht und Auftraggeber". Med. Sachverst. 75 (1979) 22

5. Silomon, H.: „Der medizinische Sachverstän- dige in der Sozialversicherung". Med. Sach- verst. 80 (1984) 9

6. Wiester, W.: „Über die ärztliche Gutachter- tätigkeit im Sozialgerichtsverfahren". Med.

Sachverst. 86 (1990) 106

7. Woitowitz, „Wesensverschiedenheit zwischen Arbeitsunfall und Berufskrank- heit", Med. Sachverst. 87 (1991) 75

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Hans Hermann Marx Internist

Robert-Bosch-Straße 6 W-7000 Stuttgart 1

A1 -2394 (46) Dt. Ärztebl. 89, Heft 27,

H.-pylori-Antikörper

bei atrophischer Gastritis

Bei der chronischen atrophi- schen Gastritis wird Helicobacter py- lori nur selten in der Schleimhaut nachgewiesen, obwohl diese offen- sichtlich aus einer H-pylori-positiven Oberflächengastritis hervorgegangen ist. Die finnischen Autoren unter- suchten bei einer Reihe von Patien- ten die Korrelation zwischen Helico- bacter-pylori-Antikörpern und dem direkten Nachweis des Keimes in der Mucosa. Patienten mit einer atrophi- schen Gastritis der Corpusschleim- haut waren zu 86 Prozent seroposi- tiv, während nur bei 33 Prozent das Bakterium in der Schleimhautbiop- sie nachgewiesen werden konnte.

Offensichtlich wird bei der chroni- schen athrophischen Gastritis ein Magenschleim produziert, der Heli- cobacter pylori nicht mehr zusagt.

Daß die Gastritis jedoch durch den Keim induziert wurde, beweist die anhaltende Seroposivität.

W. E. Karnes, I. M. Samloff Jr., M. Siur- ala, M. Kekki, P. Sipponen, S. W. R. Kim, J. H. Walsh: Positive Serum Antibody and Negative Tissue Staining for Helicobacter pylori in Subjects with Athrophic Body Gastritis. Gastroneterology 101: 167-174, 1991.

Cureva Wodsworth, Room 115, Building 115, Wilshire and Sawtelle Boulevard, Los Angeles, California 90 073, USA.

Herzkatheter: Für jeden Patienten nichtionische Kontrastmittel

In zwei voneinander unabhängi- gen Studien kommen amerikanische und kanadische Untersucher bezüg- lich der Anwendung nichtionischer, niedrig-osmolaler Kontrastmittel bei der Koronarangiographie zu weitge- hend identischen Ergebnissen.

In der amerikanischen Studie wurde randomisiert und doppelblind bei 505 Herzkatheteruntersuchun- gen nichtionisches, niedrigosmolales Kontrastmittel mit einem ionischen, hochosmolalen Kontrastmittel ver- glichen. Die Nebenwirkungen wur- den in minimal, leicht, mäßiggradig und schwer unterteilt.

3. Juli 1992

Die Patientengruppe mit dem hochosmolalen Kontrastmittel hatte eine dreifach höhere Anzahl von mä- ßiggradigen Nebenwirkungen gegen- über der Gruppe mit dem nichtioni- schen Kontrastmittel; bei den schwe- ren Nebenwirkungen zeigten sich da- gegen keine Unterschiede. Alle zehn schweren Nebenwirkungen traten bei Patienten über 60 Jahre oder bei Patienten mit instabiler Angina pec- toris auf; speziell diese Patienten hatten auch ein dreifach erhöhtes Risiko für mäßiggradige Nebenwir- kungen.

In der kanadischen Studie wur- den ebenfalls randomisiert und dop- pelblind bei 1490 Patienten Herzka- theteruntersuchungen mit ionischen, hochosmolalen oder nichtionischen, niedrigosmolalen Kontrastmitteln durchgeführt. In der Patientengrup- pe, die das hochosmolale Kontrast- mittel erhielt, kam es bei 29 Prozent zu Nebenwirkungen, in der Gruppe mit nichtionischem Kontrastmittel dagegen nur bei neun Prozent.

Schwere Nebenwirkungen traten bei Anwendung des hochosmolalen Kontrastmittels häufiger auf als bei dem nichtionischen Kontrastmittel (2,9 Prozent versus 0,8 Prozent), je- doch wiesen die von Nebenwirkun- gen betroffenen Patienten alle eine schwere koronare Herzerkrankung oder eine instabile Angina pectoris auf.

Aufgrund der hohen Kosten der nichtionischen Kontrastmittel emp- fehlen die Autoren beider Studien, ihre Anwendung auf selektionierte Risikogruppen (Alter über 60 Jahre, instabile Angina pectoris) zu be- schränken. acc

Steinberg, E. P. et. al.: Safety and cost ef- fectiveness of high-osmolality as compared with low-osmolality contrast material in patients undergoing cardiac angiography.

N. Engl. J. Med. 326 (1992) 425-430 Dr. Steinberg, John Hopkins University, 1830 E. Monument St., Baltimore, MD 21205, USA.

Barret, B. J. et. al.: A comparison of non- ionic, lowosmolality radiocontrast agents with ionic, highosmolality agents during cardiac catheterization. N. Engl. J. Med.

326 (1992) 431-436.

Dr. Parfrey, Division of Nephrology, The Health Sciences Centre, St. John's, NF AlB 3V6, Kanada.

Referenzen

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