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Archiv "Psychiatrie in der DDR: Stecken geblieben – Ansätze vor 38 Jahren" (09.02.2001)

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T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 6½½½½9. Februar 2001 AA307

Die Abhängigkeit vieler psychisch Kranker von der Sozialhilfe betrifft be- sonders die Angehörigen. Rose-Marie Seelhorst, Arbeitsgemeinschaft der Angehörigen psychisch Kranker, Nie- dersachsen, kritisiert die „systemati- sche Verarmung“ der Betroffenen, die dann auf Hilfen der Familie ange- wiesen seien. Sie fordert deshalb vor al- lem die Einführung der ambulanten psychiatrischen Krankenpflege. „Wir brauchen professionelle Hilfe, die den Kranken in der Wohnung aufsucht.“

Das bleibe sonst an den Angehörigen hängen, die bereits längst überlastet sind. Ein großes Problem sei auch die nicht ausreichende ambulante Versor- gung chronisch psychisch Kranker: Nur wenige Nervenärzte behandelten Schi- zophrenie-Patienten, die den Budget- rahmen wegen des Einsatzes teurer Medikamente und des zeitlichen Auf- wandes für Gespräche sprengten. Trotz deutlich weniger Nebenwirkungen und guter Compliance würden die atypi- schen Neuroleptika wegen des höhe- ren Preises weniger eingesetzt. „Psy- chisch Kranke sind im Vergleich zu so- matisch Kranken immer noch benach- teiligt.“

„Psychisch Kranke werden nach wie vor nicht respektiert“, beklagt Regina Kochalski vom 1991 gegründeten Bun- desverband der Psychiatrie-Erfahrenen e.V., Bonn. Professionelle Helfer wen- deten in der Behandlung zu oft Zwang an und hörten nicht zu. Sie fordert die Wahlfreiheit zwischen psychiatrischen Hilfen und alternativen Konzepten, wie sie zum Beispiel vom Reglaff-Haus in Berlin angeboten werden. Die von Psychiatrie-Erfahrenen geleitete Villa biete „Raum für das verrückte Erleben ohne Psychopharmaka“. Ebenso wie die Angehörigen kritisieren die Psych- iatrie-Erfahrenen, dass Entscheidun- gen auf Bundesebene ohne sie getrof- fen werden.

Die Psychiatrie-Reform hat nach mehr als 25 Jahren nur Teillösungen er- reicht. Die Fachkrankenhäuser werden noch lange neben den psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkranken- häusern existieren. Die gemeindenahe sozialpsychiatrische Versorgung ist lückenhaft und regional sehr unter- schiedlich. Die Koordination und Ko- operation zwischen den Versorgungs-

diensten muss deutlich verbessert wer- den. Langzeitpatienten wurden enthos- pitalisiert, jedoch zum Teil in Heime verlagert. Viele chronisch psychisch Kranke leben am Rand der Armuts- grenze. Sozialrechtlich sind sie längst nicht körperlich Kranken gleichge- stellt. Am wenigsten verändert hat sich

am Verständnis der Gesellschaft für Krankheiten, die nicht sichtbar sind und deshalb bedrohlich wirken, für Menschen, die anders sind. Vor der Psychiatrie-Reform wurde das Anders- artige einfach weggeschlossen. Das ist zumindest heute nicht mehr selbstver-

ständlich. Petra Bühring

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it Psychiatrie in der DDR wird häufig noch Missbrauch asso- ziiert. Das Klischee, das vor zehn Jahren das Bild der ostdeutschen Psychiatrie prägte, hält sich hartnäckig.

Inzwischen haben Recherchen erge- ben, dass es keinen systematischen Missbrauch gab.

Über die Missbrauch-Diskussion in den letzten Jahren ist ein Aspekt völlig in den Hintergrund getreten: die früh- zeitigen sozialpsychiatrischen Bestre- bungen in der DDR. „Seit 1954 bin ich in jedem Jahr wenigstens einmal in der DDR gewesen, um die DDR-Entwick- lung auch innerlich mitvollziehen zu können“, berichtete der Psychiater Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner, ehemaliger Direktor des Westfälischen Krankenhauses für Neurologie, Psych- iatrie und Psychosomatik Gütersloh, anlässlich des 35. Jahrestages der Rode- wischer Thesen. In diesen Thesen von 1963 – zwölf Jahre vor der Psychiatrie- Enquete der Bundesregierung – sind bereits die wesentlichen Ziele der Psychiatriereform formuliert. Sie for- dern die Abschaffung der Verwahr- psychiatrie, die soziale Integration der Kranken in die Gesellschaft und den Aufbau ambulanter und teilstationärer Dienste. Obwohl damit die konzeptio- nelle Basis für eine moderne Psychia-

trie gegeben war, kam es nur insulär zu durchgreifenden Reformen. Dies lag nach Einschätzung von Experten nicht an den spezifischen Hindernissen der DDR, sondern hauptsächlich an all- gemeinen Problemen der deutschen Psychiatrie: Großkrankenhäuser, eine naturwissenschaftlich orientierte Krank- heitslehre sowie Nachwirkungen der NS-Zeit in den Köpfen der Menschen bestimmten die Psychiatrie. Hinzu ka- men noch die schlechten materiellen und personellen Bedingungen in der DDR.

Thesen setzten nicht konsequent an

„Das Scheitern der Reform ist schon in den Thesen selbst angelegt“, meint heute Prof. Dr. med. Klaus Weise, ehe- maliger Ordinarius der Psychiatri- schen Universitätsklinik Leipzig. Er gehörte während seiner Tätigkeit in Leipzig zu den Verfechtern einer sozial orientierten Psychiatrie. „Jetzt wissen wir, dass sich ein sozialpsychiatrisches System nicht aus der Krankenhausper- spektive heraus entwickeln kann“, meint Weise. „Wären damals die Ideen von Rodewisch konsequent und radi- kal verfolgt worden, hätten letztlich

Psychiatrie in der DDR

Stecken geblieben: Ansätze vor 38 Jahren

Bereits 1963 wurden mit den „Rodewischer Thesen“ sozial-

psychiatrische Forderungen in Ostdeutschland laut. Doch auch

in der DDR scheiterte eine grundlegende Psychiatrie-Reform.

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die Krankenhäuser entmachtet, ja so- gar aufgelöst werden müssen, wie im Auflösungsbeschluss der westdeut- schen Sozialpsychiatrischen Gesell- schaft gefordert.“ Die „Rodewischer Thesen“ stellen die Krankenhäuser aber noch in das Zentrum der Versor- gung. Folge: Die Mehrzahl der Groß- krankenhäuser blieb. Mit ihnen die Massenschlafsäle, die unhygienischen Bedingungen und das ungünstige soziale Klima auf den Stationen. „Die Hauptprobleme damals waren – ähn- lich wie in Westdeutschland – das Festhalten an der dominierenden Stel- lung des Krankenhauses und am medizinisch-naturwissenschaftlichen Krankheitsverständnis“, resümiert Wei- se heute. Die meisten Psychiater wa- ren auf die Einheit von Psychiatrie und Neurologie fixiert. Psychiatrische Stö- rungen wurden vor allem als neurobio- logische Prozesse gesehen, wobei auch die einseitig organisch ausgerichtete Moskauer Psychiatrie eine wesentliche Rolle spielte.

Gesicherter Arbeitsplatz für psychisch Kranke

Kleinere Erfolge erreichten die „Rode- wischer Thesen“ in der DDR doch.

Sichtbar wurden diese dadurch, dass vielerorts die Gitter von den Fenstern entfernt wurden. Einige Stationen öff- neten sich, beispielsweise in Mühlhau- sen unter Prof. Dr. med. Ehrig Lange.

In Brandenburg und Rodewisch wur- den arbeitstherapeutische, rehabilitati- ve Programme entwickelt.

Hervorzuheben sind die Möglich- keiten der beruflichen und sozialen Rehabilitation in der DDR. 80 bis 85 Prozent (!) der psychisch Kranken der DDR hatten einen Arbeitsplatz. Sie arbeiteten in regulären Betrieben, die die Auflage hatten, ausreichend Ar- beitsplätze bereitzustellen. Den Kran- ken brachte das Leben in der realen Welt Selbstbewusstsein und nicht zu unterschätzende Hilfe. Trotz dieser be- sonderen Leistung gibt es eine Schat- tenseite. Die „Kollektive“ hätten sich – trotz jahrelanger sozialistischer Er- ziehung – gegen die behinderten Kol- legen gewehrt, da mit ihnen der Plan nicht erfüllt werden konnte und die

Prämien ausfielen, berichtet Irene Norberger vom Landesverband Thü- ringen der Angehörigen psychisch Kranker e.V.

Modellprojekt: „Verbund Gemeindenahe Psychiatrie“

In den 70er- und 80er-Jahren gab es er- neut Reformbestrebungen. Die Bran- denburger Thesen zur therapeutischen Gemeinschaft von 1973 ergänzten die Rodewischer Thesen. Sozial engagierte Psychiater setzten sich in dieser Zeit für eine kommunale Psychiatrie ein. Die Leipziger Gruppe entwickelte Strategi- en, um die sozialpsychiatrischen Ansät- ze praxiswirksam umzusetzen. An allen Polikliniken von Leipzig entstanden 1976 neuro-psychiatrische Abteilun- gen, in denen Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter tätig waren. Drei psychia- trische Kliniken versorgten die Patien- ten der ihnen zugeteilten Stadtbezirke.

1980 entschied sich das DDR-Gesund- heitsministerium, dieses Modell als Psychiatrieplan für die gesamte DDR zu fördern. Eine gemeindenahe, dezentra- lisierte psychiatrische Betreuung wurde als Ziel benannt. Die Polikliniken er- hielten die Aufgabe, leistungsfähige psychiatrische Abteilungen mit multi- professionellen Teams zu schaffen, die für die gesamte psychosoziale Versor- gung zuständig waren. „Der Vorteil der Lösung war die Möglichkeit, verschie- dene Hilfen von der Therapie bis zur

Rehabilitation und Sozialarbeit nach ei- nem ganzheitlichen Versorgungskon- zept zu koordinieren“, erläutert Weise das Programm. Die ambulanten Ein- richtungen kooperierten mit den Kran- kenhäusern und stellten gleichzeitig ein Gegengewicht zu deren Dominanz dar.

Nach der „Wende“ 1989 brachen die Versorgungsstrukturen zusammen – zunächst ohne Ersatz. Erst nach und nach ließen sich Psychiater nieder, ent- standen sozialpsychiatrische Dienste und Angebote in freier Trägerschaft. In Leipzig gelang es, das ambulante psych- iatrische Versorgungssystem beizube- halten. Durch ein Modellprojekt des Bundesgesundheitsministeriums konn- ten die Abteilungen der Psychiatrie in Leipzig zu dem „Verbund Gemeindena- her Psychiatrie“ zusammengefasst wer- den. „Die Ärzte des Sozialpsychiatri- schen Dienstes besitzen im Gegensatz zu vielen Altbundesländern eine Be- handlungsermächtigung“, erklärt Tho- mas Seyde, Psychiatriekoordinator der Stadt Leipzig. „Sie betreuen gemeinsam mit niedergelassenen Ärzten und Sozi- alarbeitern an sieben Standorten in der Stadt Leipzig ihre Patienten wohnort- nah. An fünf Standorten werden zudem tagesklinische Betten angeboten.“

Doch die psychiatrische Versor- gung in Sachsen ist ein Sonderfall. In den meisten Städten und Gemeinden Ostdeutschlands entstand ein Vaku- um, da der Aufbau der neuen Struktu- ren der Auflösung der alten hinterher-

hinkte. ✁

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A308 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 6½½½½9. Februar 2001

Anfang der 90er-Jahre waren die Mel- dungen über die Missstände in der Psychiatrie in Ostdeutschland ein Dau- erthema. Erinnert sei an Berichte über zweckentfremdete Anstalten, Stasi-Op- fer, Verwahrung von politischen Geg- nern und eine „brutale“ Psychiatrie. In- zwischen haben Untersuchungskom- missionen in den neuen Bundesländern herausgefunden, dass es einen systema- tischen Missbrauch der Psychiatrie wie in der Sowjetunion nicht gab. Wohl aber sind Macht und Einfluss von Stasi und SED nicht an der Psychiatrie vorüber- gegangen. Einzelne Ärzte verletzten ih- re Schweigepflicht, indem sie als Inoffi- zielle Mitarbeiter der Staatssicherheit

über ihre Patienten berichteten. Ein- zelne Krankenhäuser, wie das Kranken- haus für Psychiatrie in Waldheim, wa- ren gänzlich in „Stasihand“, Patienten wurden bei Staatsempfängen und Mes- sen in der Klinik behalten. Die Untersu- chungskommissionen stellten aber auch fest, dass sich die Ärzte in den Kliniken gegen solche Anordnungen gewehrt be- ziehungsweise diese „flexibel“ gehand- habt haben. Zwangseinweisungen wa- ren in den meisten Fällen nicht rechts- widrig. Fazit der Kommissionen: Da bei den Gesetzesverstößen keine politische Motivation zu erkennen ist, sind sie nicht als politischer Missbrauch zu be-

zeichnen. ER

Missbrauch in der DDR?

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A310 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 6½½½½9. Februar 2001

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merika hat einen neuen Präsiden- ten. Gesundheitspolitisch wird sich freilich nach Ansicht von Ex- perten in Washington zunächst wenig ändern. Dennoch wird der Texaner George W. Bush nicht daran vorbei- kommen, die dringendsten Reformen durch den Senat zu boxen. Der Streit mit den bei den Wahlen im November nur sehr knapp unterlegenen Demokra- ten ist damit programmiert.

Die Gesundheitspolitik spielt im amerikanischen Wahlkampf erfah- rungsgemäß eine eher bescheidene Rolle. Weder Bush noch sein Kontra- hent Al Gore hielten es für sinnvoll, da- mit auf Stimmenfang zu gehen. Statt- dessen dominierten Wirtschafts- und Verteidigungspolitik. Bush stellt sich dabei gerne als der starke Mann aus Te- xas dar, Wächter über den Weltfrieden und Hüter der vom Bürgertum gepräg- ten amerikanischen Moral.

In der Gesundheitspolitik ist Bush dagegen eher ein unbeschriebenes Blatt. „Tatsache ist, dass wir bisher nur wenig über seine gesundheitspoliti- schen Ideen wissen“, sagt der für den amerikanischen Nachrichtensender CNN tätige Journalist Mike Ferullo. Das dürfte sich bald ändern. Lobbygruppen wie die bestens organisierten Rentner, die einflussreichen privaten Kranken- versicherungen und Health Mainte- nance Organizations (HMOs) drängen den Präsidenten und seinen Gesund- heitsminister Tommy Thompson, Farbe zu bekennen.

Der 59-jährige Thompson gilt als en- ger und langjähriger Vertrauter des Bush-Clans. Er deutete bereits an, als Erstes das Problem der stark steigen- den Kosten für verschreibungspflich- tige Arzneimittel angehen zu wollen.

Die Ausgaben für Verordnungen dürf- ten in diesem Jahr nach Schätzungen von CNN „mindestens 110 Milliarden

Dollar“ verschlingen. Zum Vergleich:

1990 waren es lediglich rund 38 Milliar- den Dollar.

Jeder dritte in diesem Jahr in Ame- rika für verschreibungspflichtige Arz- neimittel ausgegebene Dollar kommt aus den Taschen der Rentner. Viele von ihnen müssen aufgrund niedriger Renten gut haushalten. „Oftmals lau- tet die Entscheidung, entweder ein teures Medikament zu kaufen oder die Heizkostenrechnung zu bezahlen“, sagt Mike Ferullo. Die staatlichen me- dizinischen Versorgungsangebote wie

Medicare können in den meisten Fäl- len die Lücken im individuellen pri- vaten Versicherungsschutz nicht aus- füllen.

Alle Versuche der Clinton-Regie- rung, das US-amerikanische Gesund- heitswesen auf ein sozial verträgliches Fundament zu stellen, das allen Bür- gern guten und preiswerten Zugang zu Gesundheitsleistungen gewährt, ver- liefen im Sande. Clintons ehrgeizige Gesundheitsreform scheiterte 1994 am Kongress, bereits zwei Jahre nach Gleichzeitig brachten die Jahre des

Umbruchs eine große Errungenschaft, Selbsthilfegruppen der Angehörigen und Betroffenen erweiterten sich. Bis- her hatte es sie fast nur in der Sucht- krankenbetreuung gegeben. Für viele psychiatrische Patienten war die „Wen- de“ jedoch ein tief greifender, nicht son- derlich positiver Einschnitt in ihr Le- ben. Sie verloren ihre Arbeitsplätze und zum Teil auch ihre Wohnungen.

Geschützte Werkstätten und Wohnhei- me waren noch nicht ausreichend vor- handen. In der freien Marktwirtschaft hatten die chronisch psychisch Kran- ken, die vorher in der großen „Ge- schützten Werkstatt DDR“ tätig waren, kaum mehr eine Chance. „Mit dem Betreuungssystem nach dem Muster der alten Bundesländer übernahmen die östlichen Länder gleichzeitig die Defizite in der Psychiatrie in West- deutschland, die seit Jahren bemängelt wurden und werden“, beklagt Weise heute. „Positive Ansätze, wie die kom- plexe und integrierte Behandlung in den Polikliniken, gingen verloren.“

Polikliniken waren

„erhaltenswert“ gewesen

19991/92 analysierte eine „Psychiatrie- enquete Ost“ die Situation der ostdeut- schen Psychiatrie. Die poliklinischen Behandlungsformen wurden als „erhal- tenswert“ bezeichnet, die unmenschli- chen Bedingungen, unter denen Patien- ten in den Großkrankenhäusern lebten, angeprangert. Sie glichen den Zustän- den in Westdeutschland vor der Psych- iatriereform, waren jedoch von einem größeren materiellen Mangel geprägt.

Es folgte eine „Enthospitalisierungs- welle“, die vor allem die Langzeit- bereiche der Häuser betraf. Da eine Nachsorge noch nicht vorhanden war, landeten viele der Patienten in Heimen und Obdachlosenunterkünften. Die Bettenzahl wurde drastisch reduziert.

Doch die Ziele der Psychiatrie-Enquete wurden auch vor zehn Jahren in Ost- deutschland nicht konsequent verfolgt.

Ärzte, Patienten und Angehörige in Gesamtdeutschland kämpfen weiter- hin um eine gemeindenahe Psychiatrie und eine Gleichstellung der psychisch Kranken. Dr. med. Eva A. Richter

US-Gesundheitspolitik

Wenig Reformeifer

George W. Bush, den neuen Präsidenten der USA, erwarten drängende Probleme im Gesundheitswesen.

Präsident George W. Bush und Gesundheitsmini- ster Tommy Thompson

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seinem Amtsantritt. Immer wieder sorgen in den USA Berichte über „tra- veling Grannies“ (übersetzt: reise- freudige Omas) für Schlagzeilen. Die cleveren Senioren fanden heraus, dass viele verschreibungspflichtige Medi- kamente im Nachbarland Kanada deutlich billiger zu haben sind. In Bus- sen fahren die Pensionäre über die Grenze, um dort in grenznahen Apo- theken ihren Medikamentenbedarf zu decken.

Der unterlegene Präsidentschafts- kandidat Al Gore warb im Wahlkampf unter anderem mit dem Vorschlag, Medicare für die Arzneimittelversor- gung der Senioren aufkommen zu las- sen. Die Kosten von rund 253 Milliar- den Dollar über zehn Jahre, so Gore, sollten aus Steuermitteln finanziert werden. Präsident Bush lehnt derartige Großzügigkeit ab: „Das ist nichts ande- res als Sozialismus durch die Hinter- tür.“ Er will das drängende Problem der steigenden Arzneimittelausgaben, das Millionen amerikanische Privat- haushalte finanziell belastet, wie folgt lösen: Innerhalb der nächsten zehn Jahre soll Medicare modernisiert und bürokratisch entrümpelt werden. Da- für stellt die Bush-Regierung rund 110 Milliarden Dollar bereit. Bush ver- spricht, dass Medicare von 2002 an 25 Prozent der Arzneimittelkosten für die rund 20 Millionen am schlechtesten ge- stellten Rentner übernehmen wird.

Gibt ein Medicare-Patient jährlich mehr als 6 000 Dollar für Medikamente aus, trägt der Staat die Kosten, die die- sen Grenzwert überschreiten. Landes- weit vertrauen rund 39 Millionen Pati- enten auf Medicare.

Steuervorteile für private Zusatzversicherungen

Senioren, die sich freiwillig privat zu- satzversichern, verspricht der neue Präsident Steuervorteile. Bushs ge- sundheitspolitischer Berater Dr. Gail Wilensky: „Präsident Bush glaubt dar- an, Patienten die Wahl zu geben zwi- schen staatlicher Medicare-Medizin und qualitativ besseren privaten Ver- sorgungsangeboten.“ Derartige Rheto- rik kommt bei den Amerikanern gut an. Kritiker befürchten, der Bush-Plan

von reformierter Medicare kombiniert mit größerer Wahlfreiheit unter den HMOs könnte leicht den erwünschten Effekt verfehlen. „Ich rechne damit, dass die HMOs Millionen finanziell nicht sonderlich attraktive Patienten einfach fallen lassen“, meint Amanda McCloskey von der Organisation

„Families USA“. 6,2 Millionen Medi- care-Patienten sind zugleich HMO-Pa- tienten. McCloskey bezweifelt, dass die von Bush in Aussicht gestellten 110

Milliarden Dollar über zehn Jahre aus- reichen, um Medicare zu reformieren und gleichzeitig die Arzneimittelko- sten für Millionen von Rentnern zu subventionieren.

George W. Bush hat darüber hinaus angekündigt, Patienten mehr Rechte gegenüber den HMOs einzuräumen.

Rund 56 Millionen freiwillig privat Krankenversicherte sollen in die Lage versetzt werden, ihre HMO verklagen zu können. Der von den Republikanern kontrollierte US-Senat steht hinter den Plänen. Allerdings sollen Gerichte ma- ximal eine Entschädigung von 350 000 Dollar gewähren können. Die freie Arztwahl – bis heute keine Selbstver- ständlichkeit – soll ausgebaut werden.

Interessant: US-Krankenversicherer unterstützten CNN zufolge den Wahl- kampf von Bush mit mindestens 1,5

Millionen Dollar. Das ist fünfmal mehr, als Gore erhielt.

Bush plant außerdem die Reform des Children Healthcare Insurance Pro- gram (CHIP). Dabei handelt es sich um ein staatlich mitfinanziertes Hilfspro- gramm für Eltern, deren Einkommen für eine kostenfreie Medicare-Behand- lung ihrer Kinder zu hoch ist, die aber nicht in der Lage sind, diese privat zu versichern. Bush will die Bundesstaaten stärker in die finanzielle Verantwor-

tung nehmen, um mehr Familien den CHIP-Zugang zu ermöglichen. In Texas wurde auf diese Weise bereits rund 400 000 Kindern geholfen. Weiterhin gilt jedoch eine Einkommensgrenze von 41 000 Dollar jährlich pro Familie, um in den Genuss von CHIP-Leistun- gen zu kommen.

Bush gewann die Wahl nicht zuletzt wegen seines Versprechens, die Steuern senken zu wollen. Steuervorteile und Abschreibungsmöglichkeiten für pri- vate Krankenversicherungen dürften nach Ansicht von Gesundheitsminister Thompson rund 18 Millionen Patienten den Zugang zur Privatversicherung er- möglichen. Um ihre Angestellten pri- vat krankenversichern zu lassen, erhal- ten auch kleine und mittelständische Unternehmen zusätzliche steuerliche

Vorteile. Kurt Thomas

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 6½½½½9. Februar 2001 AA311

Präsident Bush hat versprochen, dass Medicare von 2002 an 25 Prozent der Arzneimittelkosten für die rund 20 Millionen am schlechtesten gestellten Rentner übernehmen wird. Fotos: ap

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