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Archiv "Brutale Psychiatrie in der Ex-DDR?" (07.11.1991)

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Brutale Psychiatrie in der Ex-DDR?

In einer der jüngsten Ausgaben des DEUTSCHEN ÄRZTEBLATTES (Heft 39/1991) erschien ein Beitrag von Alexander Görtz über die

„Psychiatrie in der Ex-DDR", der sich zum Teil auf Dr. med. Eugen Wolpert beruft, Mitglied einer west-/ostdeutschen Expertengruppe, die eine Studie „Zur Lage der Psychiatrie in der früheren DDR" an- gefertigt hat. Das war Veranlassung für ein Interview mit Professor Dr. med. Klaus Weise, Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Leipzig, schon zu Zeiten der früheren DDR engagierter und deshalb oft angefochtener Sozialpsychiater und Mitglied der gleichen Ex-

pertengruppe.

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

DAS INTERVIEW

DÄ: Die Psychiatrie in den neu- en Bundesländern hat eine überwie- gend schlechte Presse, jetzt auch im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT.

Halten Sie das für gerechtfertigt?

K. W.: Die gegenwärtig in den Medien vorherrschende Schwarzma- lerei der Situation in der Psychiatrie, die ja bis zur Gleichsetzung mit der Staatssicherheit reicht, wächst sich allmählich zu einem Problem aus, weil sie einmal das Vertrauen der Bevölkerung und auch der Patienten in die psychiatrischen Einrichtungen zerstört, und zum anderen, weil sie das Engagement vieler Ärzte, Pfle- ger und Schwestern ignoriert, die un- ter schwierigen Bedingungen aufop- ferungsvoll die ihnen anvertrauten Patienten betreut haben. Der Bei- trag zur Psychiatrie in der Ex-DDR im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT, der sich auf Informationen vom Kol- legen Wolpert bezieht, ist zwar von solchen sensationell aufgemachten Beiträgen in den Massenmedien weit entfernt und bemüht sich um eine sachlich kritische Wertung; trotzdem vermeidet auch er nicht die erwähnte Einseitigkeit, die als Komplement

der früheren Schönfärberei durch- aus verständlich ist. Einiges kann ich deshalb nicht unwidersprochen las- sen. Betonen möchte ich allerdings, daß es mir keinesfalls darum geht,

die schlimmen und (um eine Formu- lierung der Enquete zu verwenden)

„elenden und menschenunwürdigen Umstände" in der Psychiatrie, vor al- lem in den Großkrankenhäusern, ir- gendwie zu bagatellisieren. Der Bau- zustand, die Ausstattung, die Intim- bereiche der Patienten sind in vielen Einrichtungen tatsächlich auf einem skandalösen Niveau. Mit vollem Recht wird auch die letztlich inhu- mane Mischung von Patienten mit chronischen Psychosen und Demen- zen mit geistig behinderten Patien- ten angegriffen, gegen die wir aller- dings schon seit Jahren versucht ha- ben anzugehen.

DÄ: „Inhuman" erinnert an das Reizwort „Waldheim".

411)

K. W.: Was uns von Waldheim

bekannt wurde, ist nicht kritiklos für die DDR-Psychiatrie zu verallgemei- nern. Hier muß nicht nach kollekti- ver, sondern nach persönlicher Schuld geforscht werden. Gerade das unentschuldbare menschliche Versagen von Betreuungspersonen in dieser Einrichtung zeigt die Not- wendigkeit, auch die andere Seite der Medaille zu betrachten. Das ma- terielle Niveau psychiatrischer Klini- ken ist wichtig. Auch der psychisch Kranke hat das Recht auf eine men-

schenwürdige, den gegenwärtigen Lebensbedingungen in der Gesell- schaft angemessene Unterbringung.

Trotzdem ist das sicher nicht das Entscheidende. Für noch wichtiger halte ich es, wie sich der Umgang mit den psychisch Kranken gestaltet; ob Verständnis, Menschlichkeit, Akzep- tanz realisiert werden. Ich denke schon, daß seit den Brandenburger Thesen zur therapeutischen Ge- meinschaft in verschiedenen Kran- kenhäusern auch unter ungünstigen räumlichen Bedingungen Fortschrit- te gemacht worden sind. Ich erinnere nur an die Tagung der Deutsch-Ita- lienischen Gesellschaft in Berlin vor einigen Jahren, in deren Vorfeld Ex- perten aus vielen Ländern psychia- trische Einrichtungen im Ost- und im Westteil der Stadt besucht hatten.

Die einstimmige Meinung, die dort zum Ausdruck gebracht wurde, war, daß im Westteil der Stadt zwar die Ausstattung und die materiellen Be- dingungen in den Krankenhäusern ungleich besser waren, daß aber die Art des menschlichen und verständ- nisvollen Umganges, die Realisie- rung von Wärme und Akzeptanz den Kranken gegenüber im Ostteil der Stadt deutlich überwogen.

DÄ: Kritisiert wurde in dem ge- nannten Artikel auch das Fehlen so- zial-integrierender Maßnahmen.

K. W.: Die Aussage über das Fehlen sozial-integrierender Unter- stützung als Alternative zur Dau- erunterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist sachlich so nicht zu akzeptieren. Wenn auch mit territo- rial erheblichen Unterschieden war durch die psychiatrisch-neurologi- schen Polikliniken, die eine Versor- gungspflicht für ihr Territorium hat- ten und sich deshalb vor allem auch den Problemgruppen der Psychia- trie, den chronisch Kranken, zu- wandten, eine langfristige, medizini- sche, psychologische und auch sozia- le Betreuung gewährleistet. Sicher gab es kaum institutionelle Alterna- tiven in Form von geschützten Werk- stätten und Heimen. Das allerdings stellt sich aus der jetzigen Sicht eher als ein Vorteil heraus und war darin begründet, daß die überwiegende Dt. Ärztebl. 88, Heft 45, 7. November 1991 (25) A-3817

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Mehrzahl der psychisch Kranken, auch der chronisch Behinderten, ei- ne — wenn auch oft nur stundenweise und minderqualifizierte — Arbeit im normalen Produktionsbereich hatte.

Es gab auch unter den psychisch Kranken das Problem der Arbeitslo- sigkeit kaum und damit auch nicht die Notwendigkeit, außerhalb des normalen Bereiches der Wirtschaft besondere Strukturen für psychisch Kranke zu schaffen, die ja doch im- mer die Gefahr von ghettoähnlichen Zuständen in sich tragen. Ähnlich war es im Bereich des Wohnens.

Auch hier hatte der psychisch Kran- ke das Recht auf Wohnung, wenn auch die Kranken oft die schlechte- sten Wohnungen hatten (wobei man natürlich auch die gesamte Woh- nungssituation der ehemaligen DDR bedenken muß). Eine Betreuung und Kontrolle war durch die Fürsor- ger der Polikliniken gewährleistet, ohne daß diese Wohnungen institu- tionell als geschützte Wohnungen definiert wurden.

DÄ: Trotzdem waren überdurch- schnittlich viele chronisch-psychisch Kranke auf Dauer in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht.

K. W.: Richtig ist sicher, daß die psychiatrischen Krankenhäuser zu einem erheblichen Prozentsatz Dau- erasyle waren, das heißt psychisch Kranke verwahrten. In der Regel wa- ren es zwischen 50 und 60 Prozent der Patienten, die besser unter ge- schützten Lebensbedingungen in Wohnheimen oder geschützten Wohnbereichen hätten existieren können. Das waren aber, und sind zum überwiegenden Teil, die soge- nannten alten chronischen Patien- ten, das heißt Patienten aus der Zeit vor der Psychopharmaka-Ära und der Intensivierung therapeutischer und rehabilitativer Maßnahmen. In den alten Bundesländern sind diese Patienten zu einem erheblichen Teil in Heime verlegt worden. Die Frage ist aber offen, ob die Bedingungen dort tatsächlich besser sind als in den psychiatrischen Krankenhäusern.

Das Problem wird auch in den alten Bundesländern sehr heftig disku- tiert. Die sogenannte Sedimentati-

onsrate — das heißt die Zahl der Pa- tienten, die langfristig untergebracht werden, also innerhalb von einem oder zwei Jahren nicht entlassen werden konnten — war in der ehema- ligen DDR eher niedrig, auch im Vergleich zu anderen Ländern. Sie lag zwischen einem und fünf, zum Teil wohl auch acht Prozent; das heißt aber, daß die Psychiatrie in der ehemaligen DDR nicht mehr Ver- wahrpsychiatrie war, als sie das in anderen Ländern auch heute noch ist.

DÄ: Im Artikel ist auch von ei- ner „ideologischen Brille" die Rede, durch die wissenschaftliche Erkennt- nisse nicht gesehen werden wollten.

K. W.: Das ist ebenfalls etwas problematisch. Ich denke, daß die für die Psychiatriereform wesentli- chen wissenschaftlichen Erkenntnis- se allen daran Interessierten zugäng- lich waren — angefangen von den Er- gebnissen des ersten Mannheimer Kreises über die Arbeit der Deut- schen Gesellschaft für soziale Psych- iatrie, die Enquete und den Exper- tenbericht. Auch die Möglichkeit der Umsetzung dieser Erkenntnisse in die Praxis bestand durchaus, wenn auch durch verschiedene Bedingun- gen nur in begrenztem Umfang und gegen Widerstand. Aber selbst auf der Ebene des Systems waren die Forderungen nach gemeindeorien- tierter Psychiatrie da und wurden ak- zeptiert, wie sich in einem Entwick- lungsprogramm des Ministeriums für Gesundheitswesen für die Psychia- trie nachlesen läßt, das ich vor eini- ger Zeit in den sozial-psychiatrischen Informationen veröffentlicht habe.

Der Widerstand gegen eine Re- formpsychiatrie ergab sich natürlich aus Systemzwängen, vor allem auch aus ökonomischen Zwängen, aber noch stärker war nach meiner Erfah- rung der Widerstand aus konservati- ven Fachkreisen.

DÄ: Durfte es — wie im Artikel dargestellt — im Sozialismus keine Alkoholiker geben, obwohl Alkoho- lismus doch unzweifelhaft ein Pro- blem der Ex-DDR war?

K. W.: Das wird auch etwas ver- zerrt dargestellt. Tatsächlich war es so, daß über viele Jahre das Problem von Alkoholkrankheit und Sucht ta- buisiert war. Seit Mitte der 80er Jah- re wurde aber offen über das Pro- blem gesprochen, und es gab vor der Wende ein Gesetz über die Entwick- lung eines gemeindezentrierten Be- treuungssystems für Alkohol- und Suchtkranke. Auch das Problem der Beurlaubungs- und Entlassungssper- re für psychiatrische Patienten zu be- sonderen Anlässen, wie Staatsbesu- chen oder in Leipzig den Messen, Sportfesten und ähnlichem sieht aus unserer Sicht etwas anders aus. Ei- nerseits haben sich fast alle Ärzte nicht daran gehalten, sondern die Patienten nach ihrer Entscheidung und Verantwortung entlassen oder beurlaubt. Andererseits hat es eine Vielzahl von offiziellen Protesten ge- gen diese Maßnahmen gegeben. Es hat kaum eine Tagung zur Frage der Forensischen Psychiatrie stattgefun- den, bei der nicht offen gegen diese Regelung Stellung genommen wur- de. Sie ist sogar von führenden Juri- sten des Landes als gesetzwidrig ge- kennzeichnet worden. Ich selbst war an einer Initiative beteiligt, die ge- gen diese aus fachlichen, ethischen und rechtlichen Gründen nicht zu akzeptierende Maßnahme prote- stierte und die über die verschiede- nen Leitungsebenen der medizi- nisch-wissenschaftlichen Gesell- schaften zum Ministerium für Ge- sundheitswesen gelangte. Allerdings, das muß man sagen, waren unsere Bemühungen ohne Erfolg. Eine Rückfrage nach geraumer Zeit beim damaligen Abteilungsleiter für Me- dizinische Betreuung im Ministeri- um für Gesundheitswesen ergab, daß diese Festlegung eine Entscheidung des Ministeriums für Staatssicher- heit war, auf die kein Einfluß genom- men werden konnte.

DÄ: Herr Professor Weise, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

(Das Interview führte für das DEUTSCHE ÄRZTEBLATT Dr.

Gerhard di Pol.) 3 A-3818 (26) Dt. Ärztebl. 88, Heft 45, 7. November 1991

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