DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Aktuelle Politik
Den Tierschutz nicht über den
Schutz kranker Menschen stellen
Kontroversen um die geplante Novellierung des Tierschutzgesetzes
M lt der Novellierung des be- stehenden Tierschutzge- setzes hofft die Bundesre- gierung, daß etwa die Hälfte der Tierversuche eingespart wer- den, so Bundesernährungsmini- ster lgnaz Kiechle bei einer Pressekonferenz Anfang No- vember in Bonn. Dies soll durch verschärfte Genehmigungsver- fahren erreicht werden. Zur Be- ratung der Behörden sollen auf Länderebene Kommissionen eingerichtet werden, in denen Ärzte, Tierärzte und Naturwis- senschaftler vertreten sind. Zu- sätzlich sollen bis zu einem Drit- tel Mitglieder von Tierschutzor- ganisationen in die Kommissio- nen entsandt werden können.
Nach Kiechles Angaben kann bei Kosmetika noch nicht auf Tierversuche zur Beurteilung der gesundheitlichen Unbe- denklichkeit der Produkte ver- zichtet werden.
Um den Diebstahl und illegalen Handel mit Hunden und Katzen zu unterbinden, müssen diese Haustiere demnächst gekenn- zeichnet werden. Schließlich plant die Bundesregierung, alle Rechtsvorschriften, die zum Schutz der Verbraucher Tierver- suche vorschreiben, hinsichtlich der Verringerung der Versuche zu überprüfen.
Nach Ansicht der Sozialdemo- kraten sowie der Tierversuchs- gegner geht der Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht weit
Blutzuckerbestimmung am Kaninchen
genug. In Pressemitteilungen kritisieren sie übereinstimmend, daß in dem Entwurf der Bundes- regierung Versuche zur Erpro- bung von Waffen und chemi- schen und bakteriologischen Kampfstoffen sowie zur Erpro- bung von Kosmetika und Chemi- kalien nicht untersagt werden.
Die SPD fordert, daß Tierversu- che grundsätzlich verboten wer- den. Ausnahmen sollen nur durch besondere Regelungen zugelassen werden. Solche Aus- nahmen sollen jedoch für Kos- metika, Genußmittel, Waffen und Kampfstoffe nicht möglich sein.
Auf einer Pressekonferenz stell- te Mitte November in Bonn die
Gesellschaft für die Biomedizi- nische Forschung einen Aufruf namhafter Wissenschaftler vor.
Den Aufruf haben alle Dekane der medizinischen und veteri- närmedizinischen Fakultäten der bundesdeutschen Universi- täten sowie mehr als tausend Professoren und Mitarbeiter von Kliniken und Forschungsinstitu- ten unterzeichnet, darunter die Nobelpreisträger Dr. Georges Köhler, Prof. Dr. Manfred Eigen und Prof. Dr. Adolf Butenandt.
Die Gesellschaft ruft dazu auf, die medizinische Forschung nicht durch die Novellierung einzuengen und den Tierschutz nicht über den Schutz kranker Menschen zu stellen.
Die Wissenschaftler sprechen von einer Massenpsychose, die die Öffentlichkeit ergriffen hat.
Wie die Gesellschaft erläuterte, werden pro Jahr etwa sechs Mil- lionen Versuchstiere benötigt, davon über die Hälfte Ratten und Mäuse. Dies entspreche aber nur einem Tier auf einen Bewohner in zehn Jahren! Laut Professor Dr. Walter Brendel, Di- rektor des Instituts für chirurgi- sche Forschung an der Universi- tät München und Vorsitzender der Gesellschaft, ist die erhoffte fünfzigprozentige Reduktion der Tierversuche gar nicht zu er- warten. Denn in 19 Gesetzen, darunter das Arzneimittel-, Le- bensmittel- und das Chemika- liengesetz, seien eine große Zahl an Tierversuchen vorge- Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 49 vom 5. Dezember 1984 (17) 3637
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Tierversuche KURZBERICHT
schrieben. Die Tierschutz-No- velle tangiere aber gerade die
hier einschlägige biomedizini- sche Forschung in den Universi- täten und Großforschungsein- richtungen; die Massentierhal- tung in der Landwirtschaft sei je- doch von dieser Novelle nicht betroffen.
Nach den Angaben der Gesell- schaft für Biomedizinische For- schung sind die Tierversuche, die weitgehend der Behandlung Erkrankter durch einen Arzt ent- sprechen, nicht grausam. Rund siebzig Prozent der künstlichen Erkrankungen der Versuchstie- re haben einen Schweregrad, der beim Menschen ambulant behandelt und zum großen Teil noch nicht einmal zum Krank- schreiben veranlassen würde.
Etwa 25 Prozent entsprächen Krankheiten, die beim Men- schen einen Krankenhausauf- enthalt erforderten. Solche Ver- suchstiere würden unter ähn- lichen Bedingungen wie Men- schen betreut.
Die Beteiligung von Laien — wie Theologen, Juristen und Natur- schützer — an den geplanten Be- ratungskommissionen lehnt die Gesellschaft für Biomedizini- sche Forschung ab, weil das auf eine bürokratische Gängelung der freien Forschung hinauslau- fe. Statt dessen plädiert sie in ei- nem eigenen Gesetzentwurf, der von der Deutschen For- schungsgemeinschaft, der Max- Planck-Gesellschaft und der Ge- sellschaft Deutscher Naturfor- scher und Ärzte ausgearbeitet wurde, für institutsnahe Kom- missionen, die sich allein aus Medizinern und Biologen zu- sammensetzen. Analog zu den Ethik-Kommissionen, die sich in der Humanmedizin im großen und ganzen bewährt hätten, sol- len so Gremien geschaffen wer- den, die nicht vom Schreibtisch aus, sondern direkt in den Tier- ställen und am Tier die Experi- mentatoren betreuen. Die Ge- fahr, daß Wissenschaftler in der kritischen Selbstprüfung sach-
blind seien, schätzt die Gesell- schaft geringer ein als die ideo- logische Bevormundung der Forschung.
Der von den Wissenschaftlern vorgeschlagene Gesetzestext schreibt die bereits seit Jahren praktizierten Verbesserungen zum konkreten Schutz der Tiere fest. Wenn jedoch der Entwurf der Regierung oder gar der der Opposition verabschiedet wer- de, so verlautete von der Gesell- schaft für Biomedizinische For- schung, müsse man ein bis zwei Jahre warten, bis beantragte Tierversuche begonnen werden könnten. Wie Professor Brendel weiter erläuterte, könne dann auf aktuelle medizinische Frage- stellungen nicht mehr schnell genug reagiert werden, so daß die deutsche biomedizinische Forschung in wenigen Jahren in den Provinzialismus abgleitet.
Dr. rer. nat. Jürgen Vogt
Alternativen gefördert
Im Zusammenhang mit der geplanten Novellierung des Tierschutzgesetzes wies das Bundesministeri- um für Forschung und Technologie Mitte Novem- ber darauf hin, daß es seit Jahren im Rahmen des
Biotech nolog ie-Prog rann- mes Projekte fördert, die sich mit der Entwicklung von Ersatz- und Ergän- zungsmethoden zum Tier- versuch befassen. Es be- absichtige, diesen Förder- bereich auszuweiten. Da- durch sollen Forschung und Lehre angeregt wer- den, alle Möglichkeiten zu nutzen, einen Tierversuch durch einen anderen Test zu ersetzen und somit die Anzahl der heute noch be- nötigten Versuchstiere zu senken. jv
Vier Millionen
für Transparenzmodell
Bundesweit einzigartig — so nennt der Staatssekretär im Arbeits- und Sozialministerium von Baden- Württemberg, Hermann Mühlbey- er, Stuttgart, den Modellversuch
„Leistungs- und Kostentranspa- renz in der gesetzlichen Kranken- versicherung", der jetzt im Raum Heilbronn angelaufen ist. Einzig- artig wohl deshalb, weil sich hier erstmalig vor Beginn eines sol- chen Modellversuchs alle am Ge- sundheitswesen Beteiligten „auf ein gemeinsames Vorgehen" ge- einigt hätten (vgl. auch „Transpa- renz-Modell mit Hindernissen"
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 42/1984, Seite 3050 ff.).
Unter der Projektleitung des So- zialministeriums werden Kranken- kassen, Ärzte, Apotheker und Krankenhäuser zusammenarbei- ten. Ein Lenkungsgremium, dem auch die Landeskammern der Ärz- te und Zahnärzte angehören, hat auch bereits die Umsetzungsmaß- nahmen gewonnener Daten be- schlossen, wobei betont wird, daß hier dem Grundsatz „Beratung geht vor Regreß" der Vorrang ge- geben worden sei. Folgende Un- tersuchungsziele sind festgelegt worden:
1. Entwicklung von Indikatoren für die Überprüfung von geeigne- ten Krankheitsfällen (§ 223 RVO);
2. Verbesserung der Wirtschaft- lichkeitsprüfung in der kassen- ärztlichen/vertragsärztlichen Ver- sorgung einschließlich einer ver- besserten Arzneimittelinforma- tion der Ärzte;
3. Verbesserung der Kranken- hausbedarfsplanung und Entwick- lung von Konzepten für die Über- prüfung der Wirtschaftlichkeit der Krankenhauspflege;
4. Verbesserung der Arbeitsbe- dingungen aufgrund der Bestim- mung von Leistungs- und Kosten- 3638 (18) Heft 49 vom 5. Dezember 1984 81. Jahrgang Ausgabe A