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Archiv "Potenzpille Viagra: Super-GAU für die GKV" (12.06.1998)

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uidquid agis prudenter agas et respice finem: Was immer Du tust, handele klug und beden- ke die Folgen!“ Das Studium lateinischer Spruchweisheiten gehört ganz offensichtlich nicht zu den Voraussetzungen einer Qualifika- tion als Kassenfunktionär. Anders ist kaum zu erklären, daß die Kranken- kassen sich am 17. März 1998 mit ihrem Feldzug gegen das Konzept der individuellen Gesundheitsleistungen (IGEL) einen ele-

mentaren Rettungs- anker gegen unkalku- lierbare Leistungsan- sprüche selbst aus der Hand geschlagen ha- ben. Ironie des Schicksals: Nur zehn Tage später, am 27. März 1998, wurde in den USA der lei- stungsrechtliche Su- per-GAU gezündet,

dessen Auswirkungen bereits heute in Deutschland spürbar sind und der spätestens bis zum Ende des Jahres die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) vor existentielle Finanzpro- bleme stellen kann.

An diesem für die deutsche Soli- darversicherung denkwürdigen Tag wurde von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA die Sub- stanz Sildenafil (Viagra) zur Behand- lung von Potenzstörungen im Sinne der erektilen Dysfunktion zugelassen.

Die völlig überzogenen Leistungsver- sprechen, die von den Krankenkassen im Abwehrkampf gegen Kostener- stattung und IGEL-Konzept gegeben wurden, könnten sich nun sehr bald gegen sie selbst richten. So heißt es in einer aktuellen Informationsbro- schüre der Spitzen-

verbände der Kran- kenkassen, alle GKV- Versicherten hätten bei Vorlage der Versichertenkarte ein Recht darauf, „ohne Einschränkungen“

medizinisch versorgt zu werden.

In wenigen Wo- chen und Mona- ten werden Millionen deutscher Männer dieses ruinöse Blan-

ko-Versprechen einer gesetzlichen Zwangsversicherung einlösen wollen.

Die Rechnung, die das Ende dieser solidarischen Krankenversicherung einleiten kann, ist ebenso einfach wie erschreckend: Bei geschätzten 7,5 Millionen Männern, denen in Deutschland eine erektile Dysfunkti- on mit Krankheitswert zugemessen wird, und dem Einzelpreis der Via- gra-Tablette von zirka 20 DM ergibt sich folgendes Szenario in Abhängig-

keit von der leistungsrechtlich zuge- standenen Koitusfrequenz:

c einmal pro Woche:

7,5 Milliarden DM pro Jahr, c zweimal pro Woche:

15 Milliarden DM pro Jahr, c dreimal pro Woche:

22,5 Milliarden pro Jahr, c täglich: 52,5 Milliarden DM pro

Jahr.

Verdoppelung der Arzneimittelbudgets

Zur Erinnerung: Die Gesamtaus- gaben der Gesetzlichen Krankenver- sicherung für Arzneimittel beliefen sich im Jahr 1997 auf rund 33 Milliar- den DM. Damit sind die Forderungen

der Kassenärztlichen Vereinigungen für die laufenden Verhandlungen über die Arzneimittelbudgets klar: Die Budgets werden mehr als verdoppelt werden müssen, um die „Stärkung der Manneskraft“ als Leistungsanspruch in der GKV halten zu können.

Auch für die aktuellen Richt- größen-Überlegungen ergeben sich interessante Perspektiven: Alleine die Richtgrößen für Urologen werden um mehr als 3 000 Prozent (!) nach oben korrigiert wer- den müssen. Proble- me werden allerdings diejenigen Urologen bekommen, deren Pa- tienten mehr als 25 Prozent „öfter wol- len“ als der Durch- schnitt; sie werden den individuellen Ta- tendrang ihrer Pati- enten in Form von Arzneimittelregressen aus dem eigenen ärztlichen Honorar zu finanzieren haben.

Die Hoffnung auf eine eher ge- ringe Inanspruchnahme der Viagra- Therapie durch Kassenpatienten ist pures Wunschdenken. Wer über die Bestätigung der Diagnose „erektile Dysfunktion“ den Anspruch auf re- gelmäßigen Viagra-Konsum erwor- ben hat, dürfte sich selbst bei hohem Alter oder geschwächter Libido die Einlösung dieses Anspruchs kaum entgehen lassen, da dieser Anspruch bares Geld bedeuten kann: Die Verlockung ist groß, sich beispielswei- se durch die Weitergabe von Viagra ein „solidarisch finanziertes“ Zubrot in der Größenordnung von mehr als 1 000 DM pro Jahr zu verdienen.

Denn: Auf europäischer Ebene mag der Euro die neue Währung sein, in Sport- und Fitneß- Studios dürfte dage- gen künftig Viagra unter der Hand hoch im Kurs stehen.

Nach der Zulas- sung des Potenzmit- tels im Kleinstaat San Marino ist Viagra in- zwischen auch in Eu- ropa erhältlich und kann durch Einkauf von Großpackungen A-1512 (28) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 24, 12. Juni 1998

P O L I T I K KOMMENTAR

Potenzpille Viagra

Super-GAU für die GKV

Via acra

A just married couple from Ankara came seeing the Falls of Niagara and left them behind,

she pregnant, he blind;

they are calling the falls now: Viagrara

®

Aus einer Leserzuschrift

Q

(2)

zur Finanzierung einer Italien-Reise beitragen. Der „Große Preis von San Marino“ erfährt hierdurch einen post- modernen Bedeutungswandel: die neue „Formel 1“ heißt Viagra.

Auch die Hoffnung, daß der lei- stungsrechtliche Super-GAU letztlich durch die Sozialgerichte abgewendet werden könnte, wird sich nicht erfül- len. Die Sozialgerichte haben Lei- stungsansprüche von Versicherten im Bereich der „Krankenbehandlung“

noch nie mit den Finanzierungsgren- zen einer gesetzlichen Zwangsversi- cherung rückgekoppelt. Sie haben zu- dem die Behandlung der erektilen Dysfunktion durchweg als Leistungs- anspruch des Kassenpatienten defi- niert. Daher steht zu erwarten, daß man sich allenfalls mit der Frage aus- einandersetzt, welches Ausmaß sexu- eller Aktivität nach den Kriterien des Sozialgesetzbuches „notwendig, aus- reichend, zweckmäßig und wirtschaft- lich“ ist.

Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen schließlich ist vor dem Hintergrund dieser ständigen Rechtsprechung machtlos: Er wird Viagra nichtaus dem GKV-Leistungs- katalog ausschließen können. Gegen- teilige lautstarke Behauptungen wer- den dem Ansehen des Bundesaus- schusses eher abträglich sein, wenn sich dann herausstellen sollte: „Als Ti- ger gesprungen, als Bettvorleger ge- landet!“

Realitätsimmune Verfechter ei- nes unbegrenzten Leistungsan- spruchs in der Gesetzlichen Kran- kenversicherung wird die Viagra- Thematik ohnehin nur zu einem trot- zigen „Jetzt erst recht“ animieren. Es wäre allerdings interessant zu erfah- ren, wie die Viagra-bezogene Varian- te des berühmten Totschlag-Argu- ments lautet: „Weil Du arm bist, mußt Du früher . . .“

Im übrigen haben die ideologisch sattelfesten Sozialpolitiker bereits die Lösung des Viagra-Problems öffentlich propagiert: Die Pflichtversicherungs- und die Beitragsbemessungsgrenze sol- len angehoben werden!

Bei so vielen Gewinnern darf nicht unerwähnt bleiben, daß auch der Bundesfinanzminister mit 16 Prozent am Viagra-Geschäft beteiligt ist. Die GKV-Beitragszahler werden bis zu fünf Milliarden DM an Viagra-Um-

satzsteuer in die öffentlichen Kassen lenken. Allerdings: Dort werden sie wohl wiederum für Viagra dringend benötigt, da selbstverständlich auch Sozialhilfeempfänger von den sexuel- len Segnungen des Sozialstaates profi- tieren sollen.

Gesetzgeber ist gefordert

Angesichts dieses mit unerbittli- cher Schärfe auf uns zukommenden absurden Szenarios ist die Gesund- heitspolitik gefordert, dem leistungs- rechtlichen Spuk um Sexualität und Fortpflanzung als Pflichtleistungen ei- ner solidarischen Zwangsversicherung durch gesetzliche Klarstellungen ein Ende zu bereiten.

Für die im zermürbenden Partei- engezänk aufgeriebene Gesundheits- politik gilt jedoch gerade im Wahljahr:

Nie war sie so blockiert wie heute!

Deswegen ist fest damit zu rechnen, daß der Deutsche Bundestag dem Ab- driften der Gesetzlichen Krankenver- sicherung in den finanziellen Overkill tatenlos zusehen wird.

Noch hat die deutsche Sozialpoli- tik allerdings eine Galgenfrist, da Via- gra bislang noch nicht die europäische Zulassung besitzt und daher derzeit in Deutschland nur unter der Ausnah- mebestimmung des § 73 Abs. 3 Arz- neimittelgesetz in Verkehr gebracht werden kann. Die europäische Zulas- sung für Viagra wird etwa zeitgleich mit der Bundestagswahl am 27. Sep- tember erwartet. Der Umgang mit der Viagra-Thematik dürfte daher eine der ersten gesundheitspolitischen Na- gelproben für die neugewählte Bun- desregierung werden.

Natürlich ist Viagra nicht das ein- zige Problem in diesen Tagen. Aber es steht wie kein zweites Thema für die Psychopathologie dieser Gesellschaft und gleichzeitig für die Unaufrichtig- keit der aktuellen Debatte um Lei- stungsansprüche und Wirtschaftlich- keitsreserven in einem System, in dem sämtliche leistungsrechtlichen In- plausibilitäten und Fehlentscheidun- gen von Gesetzgebern und Gerichten auf den Kassenärzten abgeladen wer- den. Arzneimittelbudgets und Richt- größen geraten angesichts der Di- mension der Viagra-Thematik zur Farce. Und: Viagra wird nicht allein bleiben. In den Entwicklungs-Pipe- lines der pharmazeutischen Industrie stecken bereits die nächsten finanziel- len Sprengsätze für eine solidarische Krankenversicherung.

Viagra wird den notwendigen Transformationsprozeß der Gesetzli- chen Krankenversicherung, für den auch „Leistungsventile“ wie Kosten- erstattung und individuelle Gesund- heitsleistungen stehen, stärker kata- lysieren als irgendeine andere medizi- nische Innovation in den vergange- nen Jahren. „In der Woche zwier schadet weder ihm noch ihr“, hatte Martin Luther vor rund 500 Jahren postuliert. Jetzt wird dies „ihr“ einen Schaden von vielleicht 15 Milliarden DM pro Jahr bescheren: „ihr“ – der GKV. Dr. med. Lothar Krimmel A-1513

P O L I T I K KOMMENTAR

Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 24, 12. Juni 1998 (29)

Zeichnung: Ralf Brunner

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