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Archiv "Ärztliche Leichenschau" (01.11.1990)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Ärztliche

Leichenschau

Hans-Joachim Wagner

v

on der im Sachsenspiegel im Jahre 1230 gesetzlich verankerten forensi- schen Leichenschau, über die Einfüh- rung der allgemeinen ärztlichen Lei- chenschau im preußischen Staatsge- biet im Jahre 1933, bis hin zu den jüngsten Bemü- hungen im Rahmen der Konferenz der Gesund- heitsminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1990 reicht der lange und problembeladene Weg der Leichenschau. Wahr- lich kein Grund für ein Jubiläum, aber Anlaß zur Bilanzierung und zum Ausblick, entlang der Leit- linie: Was war, was ist, was wird?

I Was war?

Nachdem über Jahrhunderte hinweg in Euro- pa eine Leichenschau nur aus forensischen Grün- den stattfand, wurde in Wien 1754 der Anfang mit einer allgemein verordneten Totenschau gemacht, die von den Wundärzten der damaligen Zeit zu gewährleisten war. Auf deutschem Boden erfolgte erst 1806 eine vergleichbare Regelung in Stettin, bis schließlich im Jahr 1835 in Berlin durch den dortigen Polizeipräsidenten die Anordnung der obligatorischen ärztlichen Leichenschau erlassen wurde. Trotz dieser Vorbilder und trotz der be- reits im Jahre 1900 gefaßten Beschlüsse des Reichstages, der einen Gesetzentwurf mit dem Ziel der obligatorischen Leichenschau im ganzen Reichsgebiet vorlegte, und des 28. Deutschen Ärztetages, wonach „die gesetzliche Einführung der obligatorischen Leichenschau durch appro- bierte Ärzte im Interesse der Volkswohlfahrt eine Notwendigkeit ist" (8), hat es dann bis zum

18. April 1933 gedauert, bevor durch Polizeiver- ordnung die ärztliche Leichenschau wenigstens im gesamten preußischen Staatsgebiet einge- führt wurde (10).

Daneben gab es auch nach 1933 unter ande- rem in Bayern, Württemberg und Teilen von Thüringen neben einer ärztlichen auch eine nichtärztliche und in ländlichen Gebieten von Baden und Sachsen nur eine nichtärztliche Lei- chenschau, wohingegen in Lippe und Mecklen- burg-Strelitz überhaupt kein Leichenschauzwang bestand (8).

Ungeachtet der Uneinheitlichkeit der Todes- ursachenfeststellung hat dennoch die Reichsre- gierung bereits 1904 „Verzeichnisse der Todes- ursachen" erstellen lassen, deren Mängel ver- ständlicherweise von vielen Seiten beklagt wur- den. Nachdem durch Obduktionen die nicht un- beträchtliche Zahl an Fehldiagnosen im Rahmen der Leichenschau durch Veröffentlichungen be- legt werden konnte, mehrten sich die Stimmen derer, die eine Verbesserung der Qualität der Leichenschau forderten.

Das Wissen um die Grenzen der Todesur- sachen- und Todesart-Feststellung einer auch noch so sorgfältig durchgeführten ärztlichen Lei- chenschau hat Pathologen und Gerichtsmedizi- ner immer wieder zu der Forderung veranlaßt, zumindest bei den plötzlich und unerwartet ein- getretenen Todesfällen oder bei denen mit ohne- hin nicht feststellbarer Todesursache eine soge- nannte Verwaltungssektion zu fordern, die es in vorbildlicher Weise in Österreich bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt. Erstmals wurde eine solche Forderung 1895 von dem damaligen Kieler Pathologen Heller erhoben und von dem Berliner Gerichtsmediziner Straßmann 1920 er- A-3428 (64) Dt. Ärztebl. 87, Heft 44, 1. November 1990

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neuert. Seitdem verging kaum eine Tagung der Pathologen und Gerichtsmediziner, ohne daß diese Forderung ständig erneut auf der Tages- ordnung stand (5,9).

Als Resümee all dieser Bestrebungen hat schließlich die Deutsche Gesellschaft für Ge- richtliche und Soziale Medizin auf ihrer 25. Ta- gung im Jahre 1937 der Reichsregierung nicht nur die Einführung einer reichseinheitlich gere- gelten und nur noch von approbierten Ärzten durchzuführenden Leichenschau bei allen Ver- storbenen, sondern auch die reichsgesetzliche Einführung von Verwaltungssektionen in allen Fällen empfohlen, bei denen der zuständige Lei- chenschauer keine „einwandfreie Todesursache"

feststellen konnte (5).

Dies alles war weit vor dem Zweiten Welt- krieg! Und wo stehen wir heute? Welche Konse- quenzen sind aus den Erfahrungen der Genera- tionen vor uns gezogen worden?

Was ist ?

Das Leichenschauwesen fällt in der Bundes- republik Deutschland nach wie vor in die Ge- setzgebungskompetenz der Länder. Erreicht ist aber, daß in allen Ländern die Leichenschau nur durch approbierte Ärzte vorgenommen werden darf, mit einer in Schleswig-Holstein für schwer erreichbare Inseln gültigen Ausnahme (2).

In allen Bundesländern trägt der mit der Leichenschau betraute Arzt allein die Verant- wortung für die ordnungsgemäße Durchführung und dokumentiert dies letzlich mit seiner Unter- schrift. Der besonderen Verantwortung und der begrenzten Diagnostik muß sich der Arzt vor al- lem bei unerwartet und plötzlich eingetretenen Todesfällen bewußt sein. Insbesondere dann, wenn Befunde für eine Todesursache oder für ei- ne Todesart nicht erhoben werden können (1).

Das Ausmaß der nachweisbaren Fehldiagno- sen ist erschreckend, wie Überprüfungen der Leichenschaubefunde im Vergleich zu denen bei Obduktionen ergeben haben (11). Beispielhaft sei nur auf eine Statistik mit 13 551 Fällen ver- wiesen (7) mit 62 Prozent Anteil an Fehldiagno- sen bei der Leichenschau, darunter 6 Prozent Fälle mit verkanntem Fremdverschulden!

Allein diese zitierten Beispiele belegen, daß der Arzt bei dem Versuch der Todesursachen- feststellung zu einer Art fataler Hellseherei ver- anlaßt wird, die nicht mit der Treffsicherheit von über 60 Prozent bei wissenschaftlichen Hellseh- versuchen konkurrieren kann (4).

Hat ein Arzt den Mut zu bekennen, daß we- der Todesursache noch Todesart feststellbar

sind, dann darf er sicher sein, daß damit sein Be- liebtheitsgrad sowohl bei den Angehörigen des Toten als auch bei den Ermittlungsbehörden ra- pide sinkt. Die Praxis zeigt, daß es schwerfällt, den Überredungsversuchen der an Komplikatio- nen und Mehrarbeit nicht Interessierten stand- zuhalten. Fällt der Arzt darauf herein, beweisen aber die Ermittlungen später einen unnatürli- chen Tod, noch dazu mit Fremdverschulden, dann kann dies zu einem Ordnungswidrigkeits- verfahren führen, was in Berlin in den Jahren

1980 bis 1984 immerhin in 174 Fällen (10) ge- schah, an deren Ende Geldbußen bis zu 3000,- DM stehen können. Nach dieser unbehaglichen Bilanz stellt sich die Frage, was sich an Verbesse- rungsmöglichkeiten bei der Leichenschau ab- zeichnet.

Was wird?

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter for- dert unter anderem den „amtlich bestellten Lei- chenschauarzt mit qualifizierten gerichtsmedizini- schen Kenntnissen" (10). Eine vergleichbare For- derung haben 1983 die Generalstaatsanwälte der Länder und der Generalbundesanwalt erhoben.

Demgegenüber raten die zuständigen Ländermi- nisterien von einer solchen Regelung ab und emp- fehlen stattdessen eine Verbesserung der ärztli- chen Ausbildung in der Leichenschau. Dies wird seit 1970 im Rahmen des ökologischen Kurses im Fach Rechtsmedizin versucht, scheitert aber an vielen Universitäten an der zu großen Zahl an Stu- denten, so daß sich die Leichenschau vielfach auf die Unterweisung per Dia, Film und andere Lehr- möglichkeiten beschränken muß.

Von den in allen Universitätsstädten und von vielen Ärztekammern angebotenen Fortbildungs- veranstaltungen zur Verbesserung der Kenntnisse in der Leichenschau wird nur wenig Gebrauch ge- macht, wie eine Umfrage unter den Fachvertre- tern für Rechtsmedizin ergab.

Auf dem 93. Deutschen Ärztetag in Würzburg im Mai 1990 haben die Delegierten zwar jegliche Reglementierung der ärztlichen Fortbildung, ins- besondere förmliche Nachweise abgelehnt, aber zugleich „Qualitätssicherungsmaßnahmen als Fortbildungskontrolle" befürwortet (2). Wie dies jedoch bei Nichtteilnahme an Fortbildungsveran- staltungen, die der Verbesserung der praktischen und theoretischen Kenntnisse bei der Leichen- schau dienen, realisiert werden soll, erscheint rät- selhaft.

Inzwischen versucht eine Arbeitsgruppe der Gesundheitsministerkonferenz durch Erarbeitung eines ländereinheitlichen Leichenschauscheines ei- Dt. Ärztebl. 87, Heft 44, 1. November 1990 (65) A-3429

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ne „Verbesserung der ärztlichen Leichenschau", wie es in einem Schreiben vom 26. März 1990 des federführenden Ministeriums des Landes Schleswig-Holstein an die Ärztekammern heißt, die um ihre Stellungnahme gebeten wurden. Neu ist an dem Entwurf dieses bundeseinheitlichen Leichenschauscheines unter anderem, daß der Todeszeitpunkt nicht zwingend festgestellt oder angegeben werden muß und der Arzt bezüglich der Todesart ankreuzen muß, „ob es Anhalts- punkte für ein nicht natürliches Geschehen im

Zusammenhang mit dem Todeseintritt (nicht na- türlicher Tod) gibt". Es sind drei Antwortmög- lichkeiten vorgesehen: Nein; Nein, Todesart un- geklärt; Ja (welche) . . .

Unstreitig ist, daß die geplante Vereinheitli- chung begrüßt wird. Eine „Verbesserung der Leichenschau" ist aber mit einer Formularände- rung allein nicht in Sicht. Wie soll der Arzt bei- spielsweise beim Auffinden eines für ihn unbe- kannten Toten mit fehlenden Verletzungen An- haltspunke für ein nichtnatürliches Geschehen"

(zum Beispiel Vergiftung) durch seine Untersu- chungen gewinnen? Kreuzt er aber die Rubrik:

„Nein, Todesart ungeklärt" an, was geschieht dann? Eine bundeseinheitliche Regelung ist dann noch lange nicht in Sicht.

Eine Verbesserung der Leichenschau kann folglich nur durch eine Intensivierung der Aus- bildungsmöglichkeiten in der praktischen Lei- chenschau im Studium und in der ärztlichen Fortbildung einerseits sowie durch eine bundes- einheitliche Einführung einer Verwaltungssekti- on andererseits, zumindest in allen Fällen eines plötzlichen unerwarteten Todes, erreicht wer- den, sofern die Todesart durch eine ärztliche Leichenschau nicht zu klären ist.

Die für das Territorium der Länder der bis- herigen DDR einheitlich geregelte ärztliche Lei- chenschau mit der großzügigen Inanspruchnah- me und Durchführungsmöglichkeit von Verwal- tungssektionen bei allen zuvor erwähnten Fällen sollte in Gesamtdeutschland übernommen und bundeseinheitlich gesetzlich verankert werden, nachdem in Artikel 8 und 9 im Kapitel III über die Rechtsangleichung im Vertrag zur deutschen Einheit hierfür kein Regelungsspielraum vor- handen ist. Nur so kann eine Verbesserung der Leichenschau und eine realistischere Gestaltung der Todesursachenstatistik gewährleistet wer- den, mit der nicht zuletzt auch maßgeblicher Einfluß auf die Gesundheits- und Sozialpolitik sowie auf die wirtschaftlichen Maßnahmen der Versicherungsträger gewonnen wird.

Welche Kurskorrekturen an der sich nur auf Leichenschaubefunde stützenden Todesursa- chenstatistik bei einer fast 100prozentigen Ob-

duktionsfrequenz erfolgen müssen, hat die 1986 durchgeführte und jetzt veröffentlichte Görlitzer Studie (6) gezeigt, bei der von 1354 in einem Jahr Verstorbenen in 1327 Fällen eine Obduktion er- folgte mit dem Ergebnis, daß sich bei 37,8 Pro- zent der überprüften Todesfälle keine Überein- stimmung im Grundleiden (!) zwischen Leichen- schau-Diagnose und Obduktionsbefund ergab.

Angesichts dieser Fakten sollte der Gesetz- geber eine Kosten-Nutzenanalyse erstellen mit der Frage, was teurer ist: die falschen Maßnah- men, die aufgrund einer unzuverlässigen Todes- ursachenstatistik ergriffen werden, oder die mit der bundeseinheitlich einzuführenden Verwal- tungssektion verbundenen Mehrkosten? Nimmt man den Gewinn an Rechtssicherheit durch die Verwaltungssektion noch hinzu, dann fällt die Antwort auf diese Frage wahrlich nicht schwer!

Wir sind gespannt, ob der nach gesamtdeut- schen Wahlen ermächtigte Gesetzgeber die seit Beginn dieses Jahrhunderts permanent erhobe- nen Forderungen der Pathologie und Rechtsme- dizin nach Einführung von Verwaltungssektio- nen in allen Teilen Deutschlands wenigstens noch am Ende dieses Jahrhunderts erfüllt! Viel- leicht wirkt die zumindest für klinische Sektio- nen so positive Entscheidung des Bundesge- richtshofes (Az IX ZR 257/89, veröffentlicht am 8. Juni 1990) wie ein Schrittmacher auf den Ge- setzgeber.

Literatur

1. Brettel, H.-Fr. und Wagner H.-J.: Die Todesursachenfeststel- lung bei der Leichenschau, Dt. Ärztebl. 79 (1982) 51-57 2. Deutscher Ärztetag 1990: Entschließungen zum Tagesordnungs-

punkt II, Dt. Ärzteblatt 87, Heft 22 (1990)

3. Glaeser, J.: Das Leichenschauwesen in der Bundesrepublik, Ärztl. Mitteilungen 44 (1959) 731-733 und 768-774

4. Gubisch, W.: Hellseher, Scharlatane, Demagogen; Reinhardt — München 1961

5. Merkel, H.: Über die Notwendigkeit der Einführung von Ver- waltungssektionen und deren Durchführbarkeit, Dt. Zschr. ges.

gerichtl. Med. 28 (1937) 1-21

6. Modelmog, D.; Goertchen, R. u. a.: Der gegenwärtige Stellen- wert einer annähernd hundertprozentigen Obduktionsquote (Görlitzer Studie), Z. Klin Med. 44 (1989) 2163-2173 7. Schleyer, F.: Aktuelle Fragen der Leichenschau und der Lei-

chenöffnung, Dt. Zschr. ges. gerichtl. Med. 62 (1968) 55-65 8. Schmitz, W.: Leichenschau und ärztliches Berufsgeheimnis Dt.

Ärztebl. 60 (1933) 125-127

9. Schneider, St.: Themen der bei den wiss. Tagungen der Deut- schen Gesellschaft für Rechtsmedizin in den Jahren 1951-1980 gehaltenen Vorträge, Med. In. Diss. Berlin FU 1982

10. Schneider, V.: Die Leichenschau, Fischer-Stuttgart 1987 11. Wagner, H.-J.: Das Verhalten des Arztes bei tödlichen Ver-

kehrsunfällen, Dt. Ärztebl. 66 (1969) 2748-2752

Prof. Dr. med. Hans-Joachim Wagner Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität des Sarlandes

W-6650 Homburg/Saar A-3430 (66) Dt. Ärztebl. 87, Heft 44, 1. November 1990

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