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Archiv "Viktor von Weizsäcker: Arzt und Denker gegen den Strom" (17.03.2006)

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ragte man heutige Mediziner, dann dürfte die Kenntnis von und die Er- innerung an den großen Arzt, den scharfsinnigen Vor- und Nachdenker des Faches und den Vertreter einer Hu- manmedizin im Wortsinne eher be- grenzt sein. Fast scheint Viktor von Weizsäcker am bekanntesten als Onkel eines Bundespräsidenten und eines be- kannten Physikers, Friedensforschers und Philosophen. Carl Friedrich von Weizsäcker zeichnet auch als Mither- ausgeber der Gesammelten Schriften:

Nach 20 Jahren wurde die Werke-Her- ausgabe Viktor von Weizsäckers in zehn Bänden abgeschlossen (1).

Viktor von Weizsäcker (1886–1957) vereinte in seiner Person Vielfalt und Exzellenz: Er begann als Physiologe, habilitierte sich als Internist, wurde 1930 Professor für Neurologie in Hei- delberg, 1941 Ordinarius für dieses Fach in Breslau und 1946 Ordinarius für All- gemeine klinische Medizin in Heidel- berg. Richard Siebeck, der Nachfolger Ludolf von Krehls, hatte sich dafür ein- gesetzt. Von Weizsäcker war aber mehr.

Er wurde zum Hauptvertreter einer vor ihm kaum bestehenden Medizinischen Anthropologie, zum Vater der Psycho- somatischen Medizin in Deutschland und zu einem respektierten Philoso- phen mit Beiträgen vor allem zur Phä- nomenologie, zur Erkenntnistheorie und zur Naturphilosophie. Aber die Medizin, ihre Funktion in der Gesell- schaft, die Rolle des Arztes, die Bezie-

hung von Arzt und Patient, und – immer mit reflektiert – die Stellung des Patien- ten in der Medizin blieben sein ganzes Leben Gegenstände vorrangigen Inter- esses.

Obwohl aus einer angesehenen schwäbischen Familie von Theologen und Juristen stammend, in der die Anre- gung zu kritischem und eigenständigem Denken ihm sicher in die Wiege gelegt wurde, musste sich von Weizsäcker vie- les auch erkämpfen. Er blieb auch vor Schicksalsschlägen nicht bewahrt: Er verlor zu Lebzeiten drei seiner vier Kin- der (zwei Söhne fielen im Krieg), wor- unter er schwer litt, und er verlor beim Zusammenbruch Deutschlands 1945 nicht nur sein universitäres Amt, son- dern auch den größten Teil seines Breslauer Besitzes und seiner wissen- schaftlichen Unterlagen. Die erwähnte Unterstützung von Siebeck, der alles tat, um von Weizsäcker wieder an Hei- delberg zu binden, muss gewürdigt werden.

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Tätigkeit von Weizsäckers in Bres- lau während der NS-Zeit auch kritisch gesehen wurde. Tatsache ist, dass in der unter der Leitung von Scherer stehen- den Abteilung für Neuropathologie Hirne untersucht wurden, die aus den so genannten „T4-Aktionen“ (Euthana- sie) stammten. Diese Abteilung unter- stand von Weizsäcker als Direktor der Neurologischen Universitätsklinik. Es ist unbekannt geblieben, ob von Weiz-

säcker davon wusste, ob er die kriminel- le Bedeutung der Vorgänge erkannte, ob er die Sektionen nicht verhindern konnte oder gar nicht verhindern woll- te. Letzteres erscheint nach allem Be- kannten unwahrscheinlich.

Von Weizsäckers Anliegen war nicht die Einführung eines neuen Spezialfa- ches „Psychosomatische Medizin“ – zu dem es dann letztlich doch kam –, son- dern eine Reform der Medizin. Um ihre zentrale Aufgabe nicht zu verfehlen, sah er die Fokussierung des Interesses der Medizin auf die Person des Patienten für unerlässlich an. Das ist das Ziel, für das er sich ein Leben lang einsetzte.

„Als Vorstufen der ‚neuen Medizin‘

können deshalb nur solche Formen gel- ten, in denen das Subjektive, Innerliche der Person oder des Geistes zugelassen, eingeführt und als real genommen wird.“ Nur eine anthropologische Psy- chosomatik (im Gegensatz zur natur- wissenschaftlichen), die „das Subjekt einlässt, Motiv und Ziel erwägt, den Umgang des Menschen mit sich selbst, der Menschen untereinander kulti- viert“, sei in der Lage, die Reform der Medizin hin zu einer nicht mechanisti- schen, nicht materialistischen voranzu- treiben. Im Zeitalter von managed care sind dies fast Worte aus einer anderen Welt.

Biografik als Verstehen des Kranken und der Krankheit

Der geeignetste Zugang zur Subjekti- vität des Patienten ist die biografische Methode. Zugleich eröffnet dieser Zu- gang die Herausarbeitung einer inneren Schlüssigkeit, mit der sich Krankheit aus dem Leben ergibt. In Teilen wird so die hermeneutische Methode Hans- Georg Gadamers vorweggenommen.

Wiederholt wird betont, dass es weniger die äußeren Ereignisse als die inneren Belastungen und Konflikte, das Nicht- ausgeführte mehr als das Ausgeführte sei, dem die pathogene Potenz zukom- me. „Wenn man aber die Einbettung or- ganischer Erkrankungen in die äußere und innere Lebensgeschichte erkundet, T H E M E N D E R Z E I T

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A672 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 11⏐⏐17. März 2006

Viktor von Weizsäcker

Arzt und

Denker gegen den Strom

Eine Würdigung des „Vaters der Psychosomatischen Medizin“

anlässlich des Erscheinens der Gesammelten Schriften

Von Weizsäcker erkennt „. . . die Lenkung der seelischen Beziehungen zwischen Arzt und Patient als hochwichtig . . .“

Foto:picture-alliance/akg

Sven Olaf Hoffmann

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so ist man erstaunt, wie oft Krankheit auf dem Gipfel einer dramatischen Zu- spitzung auftritt, wie oft sie eine Kata- strophe aufhält oder besiegelt, wie re- gelmäßig sie dem biografischen Verlauf eine neue Wendung gibt.“ Bei aller Ak- zeptanz des Subjektiven behält der Au- tor den klaren Blick: „Wir meinten nicht alle Krankheiten psychologisch erklären zu können. Auch eine Angina bleibt eine Angina.“

Leicht nachvollziehbar ergibt sich bei so viel ärztlicher Einlassung in die Person des Patienten eine dichte Bezie- hung von Arzt und Patient, die von Weizsäcker seit den 20er-Jahren be- schäftigt. Ist es anfangs noch die richtige

„Menschenführung“, nach der er sucht, so vermittelt ihm das Aufgreifen des Übertragungs-Konzepts aus der Psy- choanalyse ab den 30er-Jahren eine stringentere Fassung seines Anliegens.

Mit einer Reverenz gegenüber Freud formuliert er, „dass die Lenkung der seelischen Beziehung zwischen Arzt und Patient als hochwichtig, die richtige Entwicklung derselben als entschei- dend für den Verlauf der Krankheit er- kannt wurde“. In der heutigen Medizin meint man gerade diese – im Sinne von Weizsäckers heilende – Beziehung ent- weder als Wirtschaftsfaktor pervertiert („Patientenorientierung zur Klienten- bindung“), als kumpeligen Umgang fehlinterpretiert oder, bis vor kurzem noch in der Mehrzahl, als objektivieren- den Umgang mit dem Befundträger missachtet zu sehen.

Soziale Determinierung von Krankheit

Lebensgeschichte ist Sozialgeschichte.

Krankheit aus der Biografie zu verste- hen, heißt, Krankheit auch als gesell- schaftliches Phänomen zu begreifen.

Die Gesellschaft kränkt im echten Sin- ne des Wortes auf vielfältige Weise, in- dem sie etwa Zwänge (zum Beispiel sol- che zum Konsum) ausübt, Werte vor- gibt oder nivelliert, Idole aufrichtet oder Ideale verwirft. Hier war von Weizsäcker ausgesprochen sensibel, was ihn nicht an apodiktischen Formu- lierungen hindert: „Es ist ganz sicher, dass die Entstehung und der Verlauf ei- ner Lungentuberkulose von psychi-

schen Faktoren abhängt. Es ist ganz si- cher, dass die psychischen Verläufe im Individuum von denen in ihrer Gesell- schaft und ihrer Kultur, vom geschicht- lichen Prozess abhängen. Es ist ganz si- cher, dass die einseitig naturwissen- schaftlichen Erklärungen nicht richtig waren“ (GS VII, 285). Herbert Weiner (1998) sprach in diesem Zusammen- hang von der fatalen Tendenz zum Re- duktionismus in der medizinischen Theorie, dem Bedürfnis, sich mit der scheinbar einfachsten Erklärung (das ist immer die naturwissenschaftliche) zufrieden zu geben, um dem Problem der Komplexität in der Pathogenese zu entgehen.

Ansatz der Psychoanalyse unverzichtbar

Von Weizsäcker greift immer wieder auf zwei Denksysteme erklärend zu- rück. Sein originäres ist der phänome- nologisch-anthropologische Ansatz, sein erst in den 30er-Jahren übernom- menes ist die Psychoanalyse. Da die Psychoanalyse mit dem Übertragungs- konzept, dem biografischen Ansatz und der Theorie der inneren Konflikte sei- nem Anliegen über weite Strecken ent- gegenkam, erklärte er ihren Ansatz für unverzichtbar.

In der „Pathosophie“ (das Pathische, Leidenschaftliche im Menschen), sei- nem opus magnum, das er selbst nicht mehr zur Druckreife brachte, ist der an- thropologisch-phänomenologische An- satz aber wieder an die erste Stelle gerückt. So werden die pathischen Ka- tegorien des Will, des Kann, des Darf, des Soll und des Muss zur entscheiden- den Referenz, über die die Phänomene

„dekliniert“ werden. Gerade dieser an- spruchsvolle Band enthält auch klini- sche Perlen seiner Methode wie etwa die phänomenologische Analyse eines selbst erlebten Anfalls von Menière- schem Schwindel.

Friedrich Nietzsche schrieb in einem Epigramm über Schopenhauer „Was er lehrte, ist abgetan/was er lebte, wird bleiben stahn . . .“ Es könnte sich mit Viktor von Weizsäcker ähnlich verhal- ten. Weder der anthropologische An- satz noch der psychoanalytische er- scheinen heute die Mittel der Wahl für

eine Theorie der gesamten Medizin – was nichts über ihren sonstigen Wert aussagt. Gleiches gilt auch für Kon- strukte wie „Funktionswandel“ und

„Gestaltkreis“, die von Weizsäcker aus anderer Quelle entnahm und viel ein- setzte. Aber für eine andere, nichtme- chanistische und nichtmerkantile Sicht des Patienten, für einen anderen Um- gang mit ihm, bei dem Krankheit (zu- mindest in Ansätzen) aus seinem Le- ben heraus zu verstehen versucht und ihm geholfen wird, sie in seinem Leben sinnhaft einzuordnen, – für ein solches Medizinverständnis können die Ge- sammelten Schriften von Weizsäckers Fundgrube brillanter Gedanken, For- mulierungen und Quelle von Anstößen sein. Von Weizsäcker schreibt hellsich- tig, dass der Patient mit seinem unge- brochenen Reparaturanspruch („Hier tut es weh, mach das weg, aber cito et iucunde!“) eigentlich zutiefst eine sol- che Medizin nicht will. Eine Medizin al- lerdings, die dem Mensch-Maschine- Modell (Thure von Uexküll) folgt, wird diesen Anspruch nicht relativieren oder gar aufklären, sondern verstärken. Das sah von Weizsäcker hellsichtig und zutreffend.

So sind es drei innere Engramme, die für mich persönlich von Viktor von Weizsäcker bleiben. Sie haben mein ei- genes Handeln als Arzt bestimmt: 1. Ei- ne beispielhafte, in jedem Sinne nicht profitliche, ärztliche Haltung, 2. eine bleibende Mahnung, dass der Patient in der Medizin Subjekt und nicht Objekt sein soll, sowie 3. die Gewissheit, dass die Medizin Agentur der jeweiligen Ge- sellschaft (Wilhelm Reich) ist, wie der Patient selbst und seine Krankheit auch Ausdruck und Reflex der wirkenden so- zialen Verhältnisse sind.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2006; 103(11): A 672–674 Literatur

1. von Weizsäcker V (1986–2005): Gesammelte Schrif- ten, 10 Bände (Hrsg.: P. Achilles, D. Janz, M. Schrenk †, C. F. von Weizsäcker), Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

2. Weiner H (1998): Immer wieder der Reduktionismus.

Psychth Psychosom med Psychol 48: 425.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Sven Olaf Hoffmann Sierichstraße 175, 22299 Hamburg E-Mail: s.o.hoffmann@hamburg.de T H E M E N D E R Z E I T

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A674 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 11⏐⏐17. März 2006

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