A2226 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 42⏐⏐17. Oktober 2008
M E D I E N
VIKTOR VON WEIZSÄCKER
Widersprüchliches Verhalten
Viktor von Weizsäcker (1886–1957) gilt als Begründer der „medizini- schen Anthropologie“, die sich vor allem in der „Heidelberger Schule“
der psychosomatischen Medizin entfalten konnte. Genauer besehen haben jedoch von Weizsäckers Werk und Wirkung selbst nicht den Cha- rakter einer dogmatisch klar ab- grenzbaren „Schule“ angenommen.
Von Weizsäcker offenbarte eine wis- senschafts- und medizinkritische Einstellung, Ausdruck seines tiefen Unbeha- gens in der naturwis- senschaftlichen Medi- zin seiner Zeit. Er ge- wann seine Einsichten aus unterschiedlichen Quellen: sinnesphysio- logischen Experimen- ten und neurologischen Befunden, naturphilo- sophischen Spekulatio- nen und wissenschafts- theoretischen Reflexio- nen, sozialmedizini- schen Utopien und ar- beitstherapeutischen Konzepten so- wie last but not least psychoanalyti- scher Theoriebildung und – ent- scheidend – seinem ärztlichen Um- gang mit dem kranken Menschen.
In seiner Einleitung greift Ben- zenhöfer von Weizsäckers Parole von der „Einführung des Subjekts“
auf und erklärt, wie sehr ihn bereits zu Beginn seines Medizinstudiums der Anfang des Hauptwerks „Der Gestaltkreis“ beeindruckt habe:
„Um Lebendes zu erforschen, muß man sich am Leben beteiligen. Man kann zwar den Versuch machen, Le- bendes aus Nichtlebendem abzulei- ten, aber dieses Unternehmen ist bisher mißlungen.“ Mit seiner 20 Kapitel umfassenden Studie möchte der Autor erklärtermaßen drei Ziele verfolgen: einen Überblick über Le- ben und Werk geben, die richtungs- weisenden Gedanken zur medizini- schen Anthropologie herausstellen und sein Verhalten in der NS-Zeit detailliert analysieren.
Aufgrund seiner medizinhistori- schen Vorarbeiten liegt es nahe, dass
er sich vor allem für die letztgenann- te Zielsetzung interessiert und seine Analyse hierauf fokussiert hat. In akribischer Detailarbeit präpariert er von Weizsäckers widersprüchliches Verhalten gegenüber dem NS-Regime und dessen Ideologie. Es entzieht sich der eindeutigen Einordnung:
Anhänger versus Gegner des Natio- nalsozialismus (übrigens typisch für das Verhalten vieler zeitgenössischer Universitätsprofessoren). So war von Weizsäckers manifeste ideolo- gische Anpassung 1933 bis 1935 durchsetzt von theoretischen Distan- zierungen. Diese spezielle Analyse, die alle verfügbaren Quellen heran- zieht, ist besonders wichtig, da Vik- tor von Weizsäcker verschiedentlich als ein Exponent der NS-Medizin ge- brandmarkt worden ist. Die Studie ergibt ein anderes, komplexeres Bild.
Wir begegnen einem eigenwillig phi- losophierenden Arzt, einem deut- schen Gelehrten, dessen Lebensweg durch vier politische Systeme führte, und der sich in der dunkelsten Phase
„dem Unabänderlichen fügte“ – und am Leben blieb. Von Weizsäckers
„neurologische Emigration“ sei „aus heutiger Sicht sicher kein Ruhmes- titel“, stellt Benzenhöfer in diesem Zusammenhang fest.
Seine Biografie gibt erstmals ei- nen fundierten Überblick über Le- ben und Werk dieses oft schwer ver- ständlichen Arztes – nicht mehr und nicht weniger. Die detaillierte Re- konstruktion der weizsäckerschen Medizinphilosophie in ihrer Wech- selwirkung mit seiner persönlichen Entwicklung bleibt weiterführen- den Forschungen vorbehalten. Der (werk)biografische Überblick ist jedenfalls für Außenstehende wie Experten als Orientierungshilfe äußerst hilfreich. Es wäre wün- schenswert, wenn die verdienstvol- le Studie so manchen Leser zu ei- ner eigenen Auseinandersetzung mit der weizsäckerschen medizini- schen Anthropologie anregen könn- te, deren Thematik auch für die gegenwärtige Medizin hochaktuell
ist. Heinz Schott
Udo Benzenhöfer: Der Arztphilosoph Viktor von Weizsäcker.Leben und Werk im Überblick. Van- denhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2007, 222 Sei- ten, kartoniert, 26,90 Euro