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chnöde Börsenwelt. Wer alles hatte sich nicht Tage vor dem Infineon Börsengang in den schönsten Farben ausgemalt, was mit dem sicher zu erwartenden saftigen Kursgewinn zu tun sei. Weltreise, schickes Auto, Schulden abzahlen . . .Die Realität, die böse, hielt den Erwartungen nicht stand und das gleich in dop- pelter Art und Weise. Wer die Aktie nicht bekam – das war bekanntlich die krass überwiegende Mehrzahl der Zeichner – war sauer, dass er leer ausging. Wer zu den wirklich wenigen Glückli- chen zählte, knurrte dann auch über enttäuschte Kurs- hoffnungen. Kursierten noch im Vorfeld Kursprognosen um die 100 Euro für die erste amtliche Notiz, so fiel der In- fineon-Start mit Kursen um 75 Euro für viele doch sehr bescheiden aus.
Nicht nur an diesem – gleichwohl besonders drasti- schen – Beispiel zeigt sich, dass die Börsenwelt ziemlich aus den Fugen geraten ist.
Das hat vor allem aber mit dem verrückten Erwartungs- horizont vieler Anleger zu tun – mit maßloser Gier so- wieso. Wie weit sind wir ei- gentlich gekommen, Glück bei der Zuteilung vorausge- setzt, mit einem Gewinn von fast 100 Prozent wie bei In- fineon nicht zufrieden zu sein?
Bei genauer Betrachtung gibt es auch keinen Grund, durch einen bloßen Zeich- nungswunsch einen realen Anspruch auf die Zuteilung
von Aktien geltend zu ma- chen. Außer einem Anruf (und dem Eröffnen weiterer Konten bei anderen Banken) bringt der Anleger ja zunächst keine großen Leistungen.
Investoren- Lotterie
Es ist halt eine Art Inve- storen-Lotterie, und genau so sollte das Zeichnungsunwe- sen auch betrachtet werden.
Und im Übrigen ist es auch nicht ungefährlich. Es wer- den, jede Wette, auch Emis- sionen kommen, wo sich die Zeichner später wünschten, bloß nicht zum Zuge gekom- men zu sein.
Es gibt zur Zeit auch noch genügend Szenarios, die den Börsianern Angst und Schrek- ken einjagen. Am dreizehn- ten März kam es am so ge- nannten „Neuen Markt“ zu einem veritablen Kurssturz von fast acht Prozent. Beson- ders Internetaktien und Bio- technologiewerte mussten ziemlich Federn lassen.
Selbst bei den Blue Chips verlieren die Börsianer so langsam die Fassung. Sie- mens sind in den letzten zwei Wochen um mehr als 30 Pro- zent gefallen, Telekom von 100 auf 80 Euro ebenfalls drastisch. Beide verloren übri- gens zu Recht, und sie wer- den meiner Meinung nach noch mehr abgeben. Auf der anderen Seite kamen erstklassige Werte wie RWE und Degussa-Hüls genauso unter die Räder. Es geht drunter und drüber. Besin- nung tut not. Börsebius
[64] Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 12, 24. März 2000
S C H L U S S P U N K T
Post Scriptum
Kürzlich las ich eine er- schütternde Rückschau des sowjetischen Filmregisseurs Sergei Eisenstein („Panzer- kreuzer Potemkin“, „Iwan
der Schreckliche“ unter an- derem), die mich in ihrer ge- gen die Verzweiflung aufbe- gehrenden Hoffnung an den
verstorbenen holländischen Großmeister Jan Hein Don- ner denken ließ.
„Ich bin mir über nichts klar geworden. Weder über das Leben, noch über mich selbst, noch über meine 48 Jahre. Über nichts, außer vielleicht über eins: dass es ein Leben im Galopp war, ohne Umschauen, mit ständigem Umsteigen, wie wenn man von einem Zug abspringt und dem andern nachjagt . . . A ls stünde man am Fenster eines fahren- den Zuges, fliegen Fetzen von Kindheitserinnerungen, Bruchstücke von Jugender- lebnissen, Episoden aus dem Mannesalter vorüber. Grell, bunt, wirbelnd, farbenpräch- tig. Und plötzlich die ent- setzliche Erkenntnis, dass all
das entglitten war, nichts festgehalten ist.“
Dies schrieb Eisenstein, als er wegen eines schweren Herzinfarkts für mehrere Monate ans Bett gefesselt war. Ruhelos hatte er gear- beitet, oft bis spät in die Nacht, immer gehetzt. Ei- nem Freund, der ihn im Krankenhaus besuchte, sag- te er: „Das Leben ist zu En- de, es bleibt nur noch das Postscriptum.“ Und fragt sich: „War das überhaupt das Leben?“ Um sich selbst diese Antwort zu geben:
„Doch, es war Leben. Ein an Empfindungen, Freu- den, Schmerzen reiches Le- ben . . . Ein Leben, das ich wohl gegen kein anderes eintauschen würde“, und dann, so schreibt sein Mo- nograph, „packt ihn das un- bändige Verlangen, diese Augenblicke der verlore- nen Zeit“ zu erhaschen, festzuhalten, und er beginnt mit der Aufzeichnung sei- ner Memoiren (zitiert aus
„Die Zeit“ 6/2000). Zwei Jahre später ist er tot.
Conditio humana. Con- ditio auch des Schachspie- lers, der allerdings das Glück hat, seine flüchtigen Eingebungen und Gedan- kenblitze auf dem Partiefor- mular festgehalten zu ha- ben. So wie bei der letzten Deutschen Ärztemeister- schaft in Bad Homburg (in einer Woche beginnt dort schon die diesjährige) der herrliche Einfall des Kolle- gen Dr. Trebbin als Weißem am Zug gegen Dr. Nitescu, dem mit seiner kompakten Stellung vermutlich nichts Böses schwante.
Wie erzielte Weiß au- genblicklich entscheiden- den Vorteil?
Lösung:
Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit
DR. MED. HELMUT PFLEGER
Börsebius zum Aktienmarkt
Drunter und drüber
Nach dem Springereinschlag
1.Sxf7!
war Schwarz verloren.
Die Springergabel bedroht Dame
g5 und Turm d8 zugleich, nach
1..
..
Txf7 entscheidet 2.Txd8+,
wonach W eiß neben Qualität und
Bauern mehr auch noch
eine
überlegene Stellung hat.