themas in kaum einem Referat zum.
Tragen komme. Emotionale Bewälti- gung der Trennung, aber auch der Vereinigung dürften nicht nur das Problem der Ostdeutschen bleiben — Vereinigung sei noch längst nicht Einheit. Die massive Identitätskrise vieler Menschen in den neuen Bun- desländern berge die Gefahr in sich, Vorbildinstanzen zu wechseln wie
„ein defektes Teil". Denkbar sei auch bei Westdeutschen Enttäu- schung über die beginnende „Ab- klatschgesellschaft" in den neuen Bundesländern, statt „Energie für Änderungen des Systems der alten Bundesrepublik in den Bürgern dort zu entfachen".
Aus Patientensicht
Während bei Röder mehr die Sicht des Therapeuten dominierte, behandelte Margit Venner (Jena) in ihrem Vortrag „Erkrankungen im so- zialen Kontext der aktuellen gesell- schaftlichen Veränderungen" den Umbruch — emotional stark enga- giert — eher aus der Sicht der Patien- ten. Bürger aus der ehemaligen DDR seien einfach „mit dem Über- leben beschäftigt". Vielen gelinge dies nicht, was die Steigerung der Suizidrate (besonders unter den Al- teren) belege — noch mehr werden krank. Der befürchtete Verlust an Ehre und die Furcht vor sozialer Dis- kriminierung hätten auch Ärzte aus ihrem unmittelbaren Kollegenkreis zum Suizid getrieben. So fordere die
„unblutige Revolution" jetzt nach- träglich ihre Opfer. Psychosomatisch Kranke, die die Klinik aufsuchen, seien gegenwärtig besonders schwer krank. Trotz der erfolgreichen fried- lichen Revolution in der ehemaligen DDR stehe der Frieden für die Men- schen noch aus.
Dazwischen berichtete Uwe Koch (Freiburg) über den Weg in die Fachbehandlung für den psychoso- matisch Kranken. Er kritisierte den fehlenden Einfluß der Fachleute auf Strukturmodelle und die Ansiedlung der meisten Betten für psychosoma- tisch Kranke vorwiegend im Rehabi- litations- statt im Akutbereich (was zu unverantwortlich langer Verzöge- rung der Behandlungsaufnahme bei-
trage) ebenso wie das System der Rehabilitation insgesamt (besonders das Fehlen der präventiven Orientie- rung und der ambulanten Nachsor- ge, die Defizite in der psychosozialen Rehabilitation). Hier würden Chan- cen der Veränderung in Zusammen- hang mit der möglichen Übernahme rehabilitativer Systeme der ehemali- gen DDR nicht genutzt.
Begleitend fanden jeweils acht Symposien zu verschiedenen Aspek- ten der Psychosomatik, eines zur deutschen Beteiligung an der Golf- krise statt. Erwähnt, weil bisher auch in Therapeutenkreisen ungenügend beachtet, sei das von Manfred Zielke (Bad Dürkheim) geleitete und von ihm und seinen Mitarbeitern gestal- tete Thema „Grenzverletzungen: Se- xueller Mißbrauch und Vergewalti- gung in ihrer Bedeutung für die sta- tionäre Psychotherapie".
In erwartet brillanter Weise stellte Thure v. Uexkuell (Freiburg)
„Theorien-Entwicklung unter dem Aspekt des Paradigma-Wechsels in den Naturwissenschaften und deren Konsequenz für die psychosomati- sche Medizin" dar und vertrat die Auffassung, daß es nur zwei grund- sätzliche Paradigmen gebe: das des Indizienbeweises (aus wahrnehmba- ren Zeichen auf die nicht wahrnehm- bare Realität zu schließen, „Jäger- wissen") und das der „neuen Wissen- schaften" (Naturwissenschaften — Galilei, Newton). Auch zur Zeit gel- te kein neues Paradigma, sondern es werde lediglich das ältere der Worte und Zeichen wiederentdeckt. Damit sei die „Biosemiotik" die Wissen- schaft der Zukunft.
In dem abschließenden Vortrag
„Die Wiedervereinigung der Schuld"
(dessen Kern schon vor etwa einem Jahr entstanden ist) analysierte S.
Becker (Frankfurt/Main) die unter- schiedliche Bewältigung (bezie- hungsweise Nichtbewältigung) der NS-Vergangenheit in (alter) Bun- desrepublik und DDR im Span- nungsfeld zwischen Antisemitismus und Antikommunismus und die sich durch die Vereinigung ergebenden neuen Aspekte.
Dr. med. Gerhard di Pol Seeburgstraße 7-9 0-7010 Leipzig
Chronische funktionelle gastrointestinale
Symptome
bei Überlebenden des Holocaust
Die Autoren untersuchten bei 623 konsekutiven Patienten osteuro- päischer Abstammung die Häufig- keit funktioneller abdomineller Be- schwerden unter Berücksichtigung von Verfolgungsmaßnahmen. Nach folgenden Symptomen wurde ge- fahndet: Bauchschmerzen, Stuhlun- regelmäßigkeiten, Diarrhoe, Obsti- pation, Völlegefühl, Sodbrennen, Flatulenz, Inappetenz, Übelkeit, Er- brechen, Schleim im Stuhl, Tenes- men und Aerophagie. Diese Sympto- me mußten mindestens seit fünf Jah- ren bestehen, eine organische Ursa- che war ausgeschlossen worden. 337 Überlebende des Holocaust, von de- nen 95 mindestens sechs Monate in einem Konzentrations- oder Ver- nichtungslager, 65 in einem Ghetto oder im Untergrund gelebt hatten, und 79 Personen aus Arbeitslagern, die nicht direkt von Deutschen über- wacht worden waren, wurden mit 384 Personen mit identischem demo- graphischem Hintergrund vergli- chen, die keinen Naziverfolgungen ausgesetzt waren. Prävalenz, Lei- densdauer und Häufigkeit des Auf- tretens der meisten Symptome waren signifikant häufiger in der Gruppe, die den Holocaust überlebt hatte.
Die Studie unterstreicht die klini- sche Beobachtung, daß schweres und anhaltendes Leiden zur Entwicklung chronischer funktioneller Beschwer- den des Verdauungstrakts beitragen kann.
Stermer, E., H. Bar, N. Levy: Chronic Functional Gastrointestinal Symptoms in Holocaust Survivors. Am. J. of Gastroent- erol. 86: 417-422, 1991
Gastroenterology Service, Bnei-Zion Me- dical Center, Faculty of Medicine, Techni- on, Haifa, Israel.
A-4598 (66) Dt. Ärztebl. 88, Heft 51/52, 23. Dezember 1991