• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Menschenrechtsverletzungen in Waisenhäusern: Chinas vergessene Kinder" (08.03.1996)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Menschenrechtsverletzungen in Waisenhäusern: Chinas vergessene Kinder" (08.03.1996)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

DÄ: Dr. Zhang, was war Ihre Aufgabe im Waisenhaus?

Zhang: Ich habe dort als Ärztin gearbeitet. Zwei- bis dreimal im Mo- nat mußte ich die Kinder im Waisen- haus untersuchen und medizinisch versorgen. Außerdem war ich zustän- dig für andere medizinische Einrich- tungen wie das Labor.

DÄ: Wie viele Ärzte gab es im Waisenhaus, und wie war das Verhält- nis Kinder/Mitarbeiter?

Zhang: Wir waren ungefähr 20 Ärzte und 20 Krankenschwestern.

Neben Ärzten und Schwestern gab es noch die Pfleger sowie die Verwal- tungskräfte, Putzpersonal usw. Die Pfleger haben keinerlei Ausbildung.

Die meisten von ihnen sind Freunde oder Verwandte der Funktionäre des Waisenhauses, weil sie für ihre Arbeit dort sehr gut bezahlt werden. Die Krankenschwestern sind alle aus- gebildet. Sie haben alle die Schwe- sternschule absolviert.

DÄ: Wie viele Kinder gab es im Waisenhaus?

Zhang: Wir hatten ungefähr 360 Waisenkinder und 60 Kinder, die zwar noch Eltern hatten, aber behindert waren. Sie sollten im Heim therapeu- tisch betreut werden. Die gesamte Belegschaft des Waisenhauses, Ärzte, Schwestern, Pfleger, Funktionäre, Verwaltung betrug ungefähr 360.

DÄ: Ist der Anteil der Mädchen im Waisenhoch besonders hoch?

Zhang: Ja, absolut. Sie stellen die Mehrheit der Kinder. Als Beispiel: Im

Monat Januar 1993 wurden 26 Kinder aufgenommen, davon waren nur zwei Jungen, alle anderen waren Mädchen.

Oder im nächsten Monat, im Februar, gab es 29 Neuaufnahmen, von denen nur sechs Jungen waren und 23 Mädchen. Als sie im Heim ankamen, waren sie gesundheitlich wohlauf.

Aber nur wenige Wochen oder Mona- te später wurden sie krank, und inner- halb eines Jahres waren sie tot.

DÄ: Das ist einer der Hauptvor- würfe gegen das Waisenhaus, das be- wußte Sterbenlassen der Kinder. Was sind Ihrer Ansicht nach die Gründe für ein solches Verhalten?

Zhang: Die Kinder waren Säug- linge, als sie zu uns kamen. Sie beka- men weder genug zu essen noch zu trinken. Daraufhin wurden sie krank und wieder nicht ausreichend ver- sorgt. Sie erhielten keine ausreichen- de medizinische Versorgung, keine Medikamente oder Injektionen. Ihr Zustand verschlimmerte sich immer mehr, und sie starben.

DÄ: Was ist der Grund dafür, daß sie keine Medikamente erhielten? Sind sie in China nicht verfügbar?

Zhang: Nun, Shanghai ist die zweitgrößte Stadt in China. Deshalb haben wir dort weder einen Mangel an Ärzten noch an medizinischer Ver- sorgung oder Medikamenten. Es gibt diese Dinge. Sie werden den Kindern nur vorenthalten. Es ist dasselbe mit dem Essen. Milch und Porridge wer- den eher in die Toilette gekippt, als sie den Kindern zu geben.

DÄ: Wer ist denn verantwortlich für ein solches Vorgehen? Ist es den Pflegern, die die Kinder füttern und sie leiden sehen, egal, was mit ihnen ge- schieht?

Zhang: In erster Linie sind natür- lich die Waisenhaus-Funktionäre dafür verantwortlich. Und die Pfleger sind nicht ausgebildet für ihre Tätig- keit. Außerdem sehen sie mit an, wie Funktionäre die Kinder mißhandeln, sie schlagen, mit ihnen machen, was sie wollen, sie sogar vergewaltigen.

Das bringt sie dazu zu denken, nun, diese Leute werden auch nicht be- straft. Sie tun folglich, was sie wollen, und machen sich das Leben einfach:

sie füttern die Kinder nicht, pflegen sie nicht, nehmen sie nie in den Arm.

Der ehemalige Direktor des Waisen- hauses, Han Weicheng, hat mehrere weibliche Teenager vergewaltigt und wurde nicht dafür belangt. Das beein- flußt die Haltung des Pflegepersonals.

DÄ: Wie konnte das Waisenhaus die Zustände so lange vertuschen?

Zhang: Die Stadtverwaltung in Shanghai, der Bürgermeister, die Funktionäre sind korrupt. Ihnen sind die Waisen egal, außerdem arbeiten viele ihrer Verwandten dort. Sie haben einfach versucht, die ganze Geschichte zu vertuschen. Mittlerweile ist das Waisenhaus eine Vorzeige-Institution.

Es ist geöffnet für ausländische Besu- cher, und dadurch ergeben sich für das Personal hervorragende Möglichkei- ten. Sie können ins Ausland reisen, sich im Ausland weiterbilden und er- halten viele Spenden aus dem In- und Ausland. Von diesen Möglichkei- ten profitieren die Funktionäre und wollen dementsprechend nicht, daß irgend etwas nach außen dringt.

DÄ: Dr. Zhang, halten Sie diese Kinder für Opfer der chinesischen Ein-Kind-Politik?

Zhang: In gewisser Weise schon.

Viele Eltern setzen ihre Kinder deswe- gen aus, oft nur, weil sie wollen, daß ihr Kind ein Junge ist. Sie suchen jeman- den, der sich um die Kinder kümmert, und sind der Auffassung, daß das der Staat tun kann. Also setzen sie die Kin- der an öffentlichen Plätzen aus, von wo aus sie ins Waisenhaus kommen.

DÄ: Was halten Sie persönlich von der Ein-Kind-Politik?

Zhang: Aufgrund unserer hohen Bevölkerungszahlen halte ich eine A-590 (26) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 10, 8. März 1996

P O L I T I K DAS INTERVIEW

Menschenrechtsverletzungen in Waisenhäusern

Chinas vergessene Kinder

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch/Asia hat im Januar einen 350 Sei-

ten starken Bericht veröffentlicht. Er belegt, daß jedes Jahr Tausende von Kindern in chi-

nesischen Waisenhäusern sterben, weil sie weder ausreichend ernährt noch medizinisch

versorgt werden. Dem Bericht liegen sowohl offizielle Statistiken und Dokumente als auch

Augenzeugenberichte zugrunde. Dr. Zhang Shu-Yun hat fünf Jahre lang als Ärztin am

Shanghai Children's Welfare Institute gearbeitet. Ihr ist es gelungen, Human Rights Watch

eine Fülle von Material zur Verfügung zu stellen, das exemplarisch die katastrophalen Zu-

stände im Shanghaier Waisenhaus belegt. Sie wurde wegen ihrer offenen Kritik 1993 aus

dem Dienst entlassen und floh im März vergangenen Jahres aus China. Dem Deutschen

Ärzteblatt gegenüber wiederholte sie ihre Vorwürfe gegen die Verantwortlichen des

Waisenhauses, das inzwischen der chinesischen Führung als „Vorzeige-Institution“ dient.

(2)

Kontrollpolitik für notwendig. Auf der anderen Seite kritisiere ich die El- tern, die ihre Mädchen aufgrund der Ein-Kind-Politik aussetzen. Den- noch, als Staat, als Gesellschaft haben wir die öffentlichen Mittel, um uns um diese ausgesetzten Kinder, zum Bei- spiel in Waisenhäusern, zu kümmern.

DÄ: Sie haben es durchgesetzt, daß die städtischen Behörden die Si- tuation im Waisenhaus offiziell unter- suchen. Sind Sie dabei unterstützt wor- den von Angestellten oder Behörden?

Was kam dabei heraus?

Zhang: Von 1988 bis 1991 haben zehn Angestellte des Waisenhauses und ich einen Appell unterzeichnet.

Meine Kollegen und einige andere Mitarbeiter haben mich dabei unter- stützt. Die örtlichen Behörden waren nicht begeistert von unserem Appell.

DÄ: Und er hatte keinen Effekt?

Zhang: Doch, es wurde eine Un- tersuchung in unserem Waisenhaus gestartet, die jedoch den Zweck hatte, unsere Behauptungen zu widerlegen und uns als Lügner darzustellen. Sie haben den Rest der Belegschaft dazu gebracht, falsche Aussagen zu ma- chen. Diejenigen, die den Appell mit- getragen und mich unterstützt haben, sind in andere Institutionen zwangs- versetzt oder entlassen worden.

DÄ: Sie wurden 1993 entlassen.

Was waren die Gründe?

Zhang: Ende 1989 wurde ich zum

„vorbildlichen Arbeiter“ in unserem Waisenhaus gewählt und war außer- dem Kandidatin für den städtischen Volkskongreß. Die städtischen Be- hörden waren damit jedoch nicht ein- verstanden und zwangen den Bürger- meister, die Wahlergebnisse zu än- dern. Ich habe allerdings das Waisen- haus nicht verlassen. Weil ich wußte, daß die Kinder mißhandelt werden, war ich entschlossen, das zu doku- mentieren und die wahre Geschichte zu erzählen.

Ich habe noch bis Juni 1993 im Waisenhaus gearbeitet, und dann wur- de ich gezwungen zu gehen. Als ich das Gefühl hatte, daß es zu gefährlich ist, in China zu bleiben, und ich außerdem dort nichts tun konnte, um die Situa- tion der Kinder zu verbessern, habe ich mich entschlossen, China zu verlassen.

Das war im März 1995.

DÄ: Welches Material haben Sie aus China herausgeschmuggelt?

Zhang: Ich habe mehr als zehn Kilo an Dokumenten mitgenommen.

Darunter Photos von sterbenden Kin- dern, Krankenakten, sogar offizielle Dokumente der Stadtverwaltung.

DÄ: Die britischen Journalisten Kate Blewett und Brian Woods haben einen Dokumentarfilm gedreht, der die Situation in sechs Waisenhäusern in verschiedenen chinesischen Provin- zen schildert. Der Film hat den Titel

„Todeszimmer“. Können Sie die Behauptungen des Films bestätigen?

Zhang: Die beiden Journalisten haben ihren Film gemacht, bevor ich die Zustände in Shanghai geschildert habe. Sie haben andere Waisenhäuser besucht und waren nicht in unserer Institution. Ich würde dennoch sagen, die Ergebnisse ihrer Nachforschun- gen sind korrekt und wahr.

DÄ: Welche Änderungen erhof- fen Sie sich dadurch, daß Sie die Miß- stände öffentlich angeprangert haben?

Zhang: Zunächst hoffe ich, daß all die, die über Jahre hinweg die Kin- der mißhandelt haben, bestraft wer- den. Außerdem hoffe ich, daß die Menschenrechte der Waisenkinder anerkannt werden.

DÄ: Was müßte Ihrer Ansicht nach getan werden, um die Situation der Kinder zu verbessern?

Zhang: Zunächst muß Druck ausgeübt werden auf die chinesische Regierung. Sie muß zugeben, daß es Mißstände gibt, daß die Menschen- rechte der Waisen nicht geachtet wer-

den. Außerdem müssen die Mitarbei- ter eine ausreichende Ausbildung er- halten. Außerdem fände ich es besser, wenn das Waisenhaus in Shanghai von einer karitativen Organisation geleitet würde.

DÄ: Wissen Sie etwas Neues über staatlichen Druck auf Freunde oder Familie?

Zhang: Wir wurden alle als Lüg- ner bezeichnet. Freunde, Verwandte,

mein Bruder sind festgenommen wor- den. Sie wurden nach drei Tagen wie- der freigelassen, sind aber immer noch unter Aufsicht gestellt. Die Journalisten und Juristen, die mich bei meinem Bericht unterstützt ha- ben, sind alle von den Behörden ge- warnt worden, fremden Journalisten Interviews zu geben.

DÄ: Dr. Zhang, was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Zhang: Ich versuche immer noch, mit internationaler Unterstützung die Situation der Kinder in den Waisen- häusern zu verbessern. Wenn mög- lich, würde ich gerne einen Fonds ein- richten, aus dessen Mitteln wir Hilfe für die Waisenhäuser leisten können.

Außerdem versuche ich, ausländische Regierungen dazu zu bewegen, das Verhalten der chinesischen Regie- rung zu verurteilen, sie daran zu hin- dern, diese Kinder zu verfolgen.

Das Interview mit Dr. Zhang führte Heike Korzilius. Die chinesische Dolmetscherin war Xiao Yan Jin.

A-593

P O L I T I K DAS INTERVIEW

Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 10, 8. März 1996 (29)

Das Funkbild zeigt den sterbenden elfjährigen Waisen Jian Xun in dem Waisenhaus in Shanghai. Foto: ap

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Dabei beschränkt der Autor seine Analyse nicht auf eine bestimmte Res- source, eine Region oder ein Land, sondern bietet einen Überblick über gegenwärtige

Oder mein Kind trinkt Kräuter-Tee ohne Zucker.. Mein Kind trinkt aus

Ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur ei- ner von uns durch die Privat- liquidation eines Kollegen oder dessen Angehörigen zum Wohlstand kommt oder in Armut sein Dasein

phil.“ in Göteborg, da- nach folgten eine Promotion in Soziolo- gie, der Erwerb der Professoren-Reife in Oslo, sie bekam 1992 eine Dozentin- nenstelle für Pflegewissenschaft in

Das Finanzergebnis der Gesetzli- chen Krankenversicherung für das Jahr 1996 ist nämlich besser ausge- fallen als erwartet.. Aber gut ausge- fallen ist es

– Eine Information für Ärztinnen und Ärzte“ soll Hilfe geben für Gespräche mit Eltern.. Sie ist kostenlos erhältlich bei der Bundesvereinigung Le- benshilfe für geistig

Die Schule wurde im letzten Jahr eröffnet und stellt als Schule für alle Kinder ein neues Angebot in der Bildungslandschaft der Stadt Sankt Augustin dar.. Besonderes Lob

Das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärme- dizin äußerte jedoch „erhebliche Be- denken”, dass das Melatonin auch über die Haut ins Blut