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Archiv "Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie: Anwendungsbereiche von Psychotherapie bei Erwachsenen" (10.01.2000)

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Die wissenschaftliche Anerkennung psychotherapeutischer Verfahren muss auch die Breite oder Enge der Anwen- dungsbereiche dieser Verfahren berück- sichtigen. Dabei kann nicht einfach von Befunden für ein Störungsbild auf Wir- kungen bei einer anderen Störung gefol- gert werden. So kann beispielsweise aus einer wissenschaftlich einwandfrei nach- gewiesenen Wirkung eines Therapiever- fahrens bei spezifischen Phobien nicht auf eine Wirksamkeit bei Depressionen oder Alkoholabhängigkeit geschlossen werden.

Da die Gesamtzahl aller Störungsbil- der im Indikationsbereich der Psychothe- rapie zu groß ist, um jeweils Einzelnach- weise zu verlangen, kann nicht auf der Ebene einzelner Störungen über die wis- senschaftliche Anerkennung entschieden werden. Es muss eine Kategorisierung in größere Klassen von Störungen erfolgen, wobei sinnvollerweise neben der mögli- chen nosologischen und phänomenologi- schen Nähe auch die Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung, ihr Vorkommen in der psychotherapeutischen Praxis und ihre Bedeutung als Gegenstand der Psychotherapieforschung berücksichtigt werden sollten.

Eine vollständige Gleichwertigkeit der Klassen kann dabei nicht erreicht werden.

Auf dieser Basis hat der Wissenschaft- liche Beirat Psychotherapie die folgende Zusammenfassung der wesentlichen An- wendungsbereiche von Psychotherapie in Anlehnung an den ICD-10-Schlüssel er- stellt. Sie sind nicht als Alternative zu gel- tenden Diagnoseschlüsseln wie der ICD- 10 oder zur nosologischen Klassifikation zu verstehen, die anderen, sehr viel weite- ren Aufgabenstellungen dienen.

Der Wissenschaftliche Beirat über- prüft die Wirksamkeitsnachweise – unbe- schadet der Prüfung weiterer Kriterien der wissenschaftlichen Fundierung – für jeden Anwendungsbereich der vorliegenden Li- ste getrennt und gibt an, für welche An- wendungsbereiche ein Verfahren gegebe- nenfalls als „wissenschaftlich anerkannt“

gelten kann. Studien, die eine Übertra- gung der Wirksamkeitsnachweise auf die

Versorgungspraxis erlauben, werden bei der Bewertung besonders gewichtet.

Dabei gelten folgende Grundsätze:

1. Der Wirksamkeitsnachweis für ei- nen Anwendungsbereich kann in der Re- gel dann als gegeben gelten, wenn in min- destens drei unabhängigen, methodisch adäquaten Studien die Wirksamkeit für Störungen aus diesem Bereich nachge- wiesen ist.

2. Die Anzahl von drei erforderlichen Studien für einen einzelnen Anwendungs- bereich kann teilweise reduziert werden, wenn – in der Regel ältere – methodisch adäquate Wirksamkeitsstudien ohne An- gabe eines spezifischen Störungsbereichs oder mit mehreren klar definierten Stö- rungsgruppen vorliegen. Dies gilt aller- dings nur für die Anwendungsbereiche 1 bis 8 der aufgeführten Liste. Liegen in der Regel mindestens acht solche allge- meinen, ansonsten methodisch adäquate Studien vor, kann die Wirksamkeit für ei- nen Anwendungsbereich aus dieser Grup- pe bereits dann als hinreichend nachge- wiesen gelten, wenn lediglich zwei für die- sen Anwendungsbereich spezifische Stu- dien vorliegen. Die Wirksamkeit für die Anwendungsbereiche 9 bis 12 der Anwen- dungsbereichsliste kann lediglich durch spezielle Wirksamkeitsnachweise im Sin- ne von 1. nachgewiesen werden.

Empfehlungen für die Ausbildung und für die Anerkennung von Ausbil- dungsstätten durch die Landesbehörden*

Grundsätzlich sollten alle 12 Anwen- dungsbereiche in der Ausbildung berück- sichtigt werden. Übergangsweise wird für die Anerkennung von Ausbildungsstät- ten vorgeschlagen:

1. Nur solche Therapieverfahren, die für mindestens fünf Anwendungsberei- che der Psychotherapie (1 bis 12 der An- wendungsbereichsliste) oder mindestens vier der „klassischen“ Anwendungsbe- reiche (1 bis 8) als wissenschaftlich aner- kannt gelten können, sollen als Verfahren für die vertiefte Ausbildung zum Psycho-

logischen Psychotherapeuten entspre- chend § 1 Abs. 1 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Psychologische Psychotherapeuten zugelassen werden.

2. Therapieverfahren, die für eine ge- ringere Anzahl von Anwendungsberei- chen, als unter 1. genannt, als wissen- schaftlich anerkannt gelten können, kön- nen im Rahmen der vertieften Ausbil- dung als Zusatzverfahren gelehrt werden.

Wesentliche Anwendungsbereiche der Psychotherapie bei Erwachsenen 1. Affektive Störungen (F 3) 2. Angststörungen

phobische Störungen (F 40) andere Angststörungen ( F 41) Zwangsstörungen (F 42) 3. Belastungsstörungen (F 43)

Belastungsreaktionen posttraumatische Belastungs- störungen

Anpassungsstörungen

4. Dissoziative, Konversions- und somatoforme Störungen dissoziative Störungen (F 44) somatoforme Störungen (F 45) Neurasthenie (F 48)

5. Essstörungen (F 50)

6. Andere Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F 5) nicht-organische Schlafstörungen (F 51)

nicht-organische sexuelle Funktionsstörungen (F 52) 7. Anpassungsstörungen, somatische

Krankheiten (F 54)

8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen (F 6)

Persönlichkeitsstörungen (F 60–62) Verhaltensstörungen (F 63–69) 9. Abhängigkeiten und Missbrauch

(F 1, F 55)

10. Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F 2)

11. Anpassungsstörungen,

psychische und soziale Faktoren bei Intelligenzminderung (F 7)

12. Hirnorganische Störungen

Anwendungsbereiche von Psychotherapie bei Erwachsenen

* Diese Empfehlungen sollten auch in der anste- henden Novellierung der (Muster-)Weiterbil- dungsordnung für Ärzte berücksichtigt werden.

(2)

Das Gutachten beruht auf der Doku- mentation der Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie (AGST) vom De- zember 1998 (Eingang beim Wissen- schaftlichen Beirat am 19. Februar 1999) und den mit Schreiben vom 16. April 1999 angeforderten Unterlagen (Eingang beim Wissenschaftlichen Beirat am 11.

Mai 1999).

In der übersichtlichen Dokumentati- on werden zu allen im Leitfaden aufge- führten Punkten Angaben gemacht; die Qualität der Dokumentation hat die Er- arbeitung der Stellungnahme sehr er- leichtert.

1. Systemische Therapie definiert sich als „Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit selbstorganisierter Ord- nungsübergänge in komplexen bio-psy- cho-sozialen Systemen unter professio- nellen Bedingungen“. Entsprechend liegt der Schwerpunkt der Interventionen im familientherapeutischen Bereich. Das Menschenbild der Systemischen Therapie orientiert sich an existenzialphilosophi- schen und phänomenologischen Entwür- fen des Menschen (zum Beispiel Buber, Jaspers, Marcel), dem Konzept der Sa- lutogenese und der anthropologischen Medizin (V. v. Weizsäcker) und bean- sprucht, sich von anderen Psychotherapie- Verfahren wesentlich zu unterscheiden.

Auf der theoretischen Ebene wird der Anspruch auf ein originäres Therapiever- fahren (die Systemische Therapie) erho- ben, das sich von anderen Verfahren un- terscheidet und unter Berufung auf eine Reihe sehr heterogener Grundpositionen begründet, die von philosophischen, an- thropologischen und wissenschaftstheo- retischen Klassikern über die Chaostheo- rie bis hin zu klinisch-psychologischen Theorien reichen. Ohne die notwendigen Vermittlungsschritte zwischen den an- thropologischen Vorannahmen und einer Theorie der Technik zu beschreiben, wer- den auf der konkreten Handlungsebene dann Techniken und Methoden beschrie- ben, die etwa aus den psychoanalytisch orientierten oder den verhaltensthera- peutischen Verfahren bereits bekannt sind. Es fehlt somit eine nachvollziehbare Beziehung zwischen Theorie und Praxis im Kontext einer übergeordneten Kon- zeption.

2. Die Ausführungen zu spezifischen ätiologischen Konzepten und Modellen

derjenigen Erkrankungen, deren Be- handlung in den Wirksamkeitsstudien untersucht wurde, sind unzureichend, zum Teil unzutreffend (zum Beispiel zum Hyperkinetischen Syndrom).

Von der AGST wurden zum Beleg der Wirksamkeit der Systemischen Therapie insgesamt 26 als kontrollierte Studien be- zeichnete Untersuchungen zusammenge- stellt. Zahlreiche dieser vorgelegten Stu- dien konnten nicht berücksichtigt wer- den, da es sich entweder nicht um kontrollierte Therapiestudien handelte, schwere methodische Mängel eine Inter- pretation der Ergebnisse verhinderten oder aus den Veröffentlichungen nicht hervorging, ob und in welchem Umfang die behandelten Probanden behand- lungsbedürftige psychische Störungen aufwiesen.

– In fast allen der verbleibenden Stu- dien waren ausschließlich Kinder und Ju- gendliche die Indexpatienten.

– Alle berücksichtigten Untersu- chungen sind Familientherapie-Studien.

– In nur wenigen Studien konnte die Wirksamkeit in solchen Ergebnis-Varia- blen gesichert werden, die eine gewisse Relevanz für die behandelte Störung auf- wiesen.

– Nur eine dieser Studien wurde im deutschen Sprachraum, alle anderen wur- den in einem anderen kulturellen Kon- text durchgeführt (überwiegend in den USA, darunter mehrere Studien mit lati- no-amerikanischen Familien). Die Frage, inwieweit die Untersuchungsergebnisse kulturspezifisch sind, und damit das Pro- blem der Generalisierbarkeit werden nicht diskutiert.

Aussagen über die Wirksamkeit der Systemischen Therapie können sich so- mit – unabhängig von der noch zu beur- teilenden Qualität der Studien – nur auf die systemische Familientherapie, vor al- lem bei Kindern und Jugendlichen als In- dexpatienten und mit der Einschränkung einer fraglichen Generalisierbarkeit be- ziehen.

Alle berücksichtigten Studien weisen nun aber in unterschiedlichem Ausmaß zum Teil erhebliche methodische Mängel auf, die hier nur summarisch erwähnt werden:

– ungenügende Beschreibung der behandelten Patienten (fehlende be- ziehungsweise ungenaue Angaben zu

Diagnose, Medikation, Vorbehandlung, Schweregrad, Abbrecherquote), wo- durch die Vergleichbarkeit der behandel- ten Gruppen schwierig beziehungsweise unmöglich ist

– geringe Fallzahlen in den Gruppen bei gleichzeitigem Fehlen von Powerana- lysen

– ungenügende Angaben zu Thera- peutenvariablen

– unzureichende Beschreibung der Zuweisungsmodi; keine randomisierte Zuweisung in den meisten Studien

– geringe Effekte (keine Effekt- stärke-Berechnungen), in der Regel keine signifikanten Unterschiede zu Vergleichs-Psychotherapie-Gruppen (so überhaupt vorhanden)

– fehlende beziehungsweise unzurei- chende Katamnesen.

Schlussendlich bleibt eine unzurei- chende Anzahl von Studien, deren Er- gebnisse unter methodischen und klini- schen Gesichtspunkten relevant er- scheinen: In diesen Studien wurden Kinder und Jugendliche mit Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstörungen in ei- nem familientherapeutischen Setting erfolgreich behandelt. Auch in diesen Studien bleibt die Übertragbarkeit auf die deutsche Versorgungspraxis frag- lich.

Auf Grundlage der vorgelegten Un- tersuchungen können keine Aussagen zu Kontraindikationen und unerwünschten Wirkungen gemacht werden.

3. Systemische Behandlungen sind typischerweise Kurzzeit-Behandlungen, sie dauern in der Regel nur wenige Sitzungen. Möglicherweise kommt der Systemischen Therapie damit eher eine Screening-Funktion in Bezug auf wei- teren Behandlungsbedarf zu. Aufgrund fehlender Angaben zur Validität ist eine Beurteilung der Eignung als Screening- Instrument jedoch nicht möglich.

Zusammenfassende Stellungnahme

Bei der Systemischen Therapie ist die konzeptionelle Verbindung von (anthro- pologischer und ätiologischer) Theorie und therapeutischer Praxis unzurei- chend. Entscheidend für die Bewertung jedoch ist, daß die Wirksamkeit der Sy- stemischen Therapie auch für einen ein-

Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie

Gutachten zur Systemischen Therapie als

wissenschaftliches Psychotherapieverfahren

(3)

sollten, zumal angesichts der kurzen Be- handlungszeiträume, bei Patienten aus dem deutschen Sprachraum in Studien mit angemessener Methodik weiter ver- folgt werden.

Köln, den 29. September 1999 Prof. Dr. J. Margraf (Vorsitzender) Prof. Dr. S. O. Hoffmann

(Stellvertretender Vorsitzender)

Minderheitsvotum

Abweichend vom Mehrheitsbeschluss des Wissenschaftlichen Beirats, ist festzu- stellen:

Die Systemische Therapie ist eine Gruppe von Verfahren mit weitgehend eigenständigen theoretischen Positionen im Vergleich zu den theoretischen An- nahmen der Psychoanalyse und der tie- fenpsychologisch fundierten Psychothe- rapie wie auch von den theoretischen Konstrukten der verhaltenstherapeuti- schen Verfahren.

Die Vermittlungsschritte zwischen den theoretischen Voraussetzungen und der Begründung diagnostischen wie the-

ne wissenschaftliche Anerkennung der Systemischen Therapie sein, wie sie mit deren theoretischen Positionen in einem tatsächlichen oder auch hypothetischen operationalen, finalen oder kausalen Zu- sammenhang gesehen werden können.

Insoweit sind in der Systemischen Thera- pie die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis durchaus nachvollziehbar. Die Ausführungen zur Ätiologie der Krank- heitsbilder, die in den vorgelegten Studi- en behandelt werden, enthalten psycho- logische Annahmen. Wenn diese von bio- logischen Annahmen abweichen, ist dies jedoch kein gerechtfertigtes Argument der Kritik angesichts der allgemein aner- kannten multiätiologischen Krankheits- modelle im Bereich der psychischen und Verhaltensstörungen.

Damit bleibt von den Ablehnungs- gründen der Mehrheitsentscheidung al- lein die Frage übrig, ob die vorgelegten 26 empirischen Untersuchungen eine wissenschaftliche Anerkennung der Sy- stemischen Therapie aufgrund der in ih- nen enthaltenen Wirksamkeitsnachweise zulassen oder nicht. Für den Wirksam- keitsnachweis hat der Wissenschaftliche Beirat in seinem „Leitfaden für die Er- stellung von Gutachtenanträgen zu Psy-

ten zugelassen, sofern diese multimodale Erfolgsnachweise, Angaben über die Störungen der PatientInnen, Dauerhaf- tigkeit der Therapieerfolge und deren Bezüge zum in Frage stehenden Behand- lungsverfahren enthalten.

Ergänzend hat er durch Beschluss vom 29. September 1999 zur Anerkennung von Psychotherapieverfahren als wissen- schaftlich eine Überprüfung der Wirk- samkeitsnachweise für jeden einzelnen von 12 Anwendungsbereichen der Psy- chotherapie bei erwachsenen Personen eingeführt. Das Vorhandensein von min- destens zwei Kontrollgruppenuntersu- chungen für jeden dieser 12 Anwen- dungsbereiche ist dabei letztlich entschei- dungsbegründend.

Das Ergebnis der Begutachtung der Systemischen Therapie durch den Wis- senschaftlichen Beirat kann damit allein durch die nach den dargelegten Kriterien derzeit zu geringe Anzahl kontrollierter Wirksamkeitsstudien in den einzelnen Anwendungsbereichen der Psychothera- pie begründet werden.

Regensburg, 14. Oktober 1999 Prof. Dr. G.-W. Speierer

Das Gutachten beruht auf der von der Gesellschaft für wissenschaftliche Ge- sprächspsychotherapie vorgelegten Do- kumentation zur Anerkennung der Ge- sprächspsychotherapie von Prof. Sachse sowie auf eingehenden Beratungen im Wissenschaftlichen Beirat Psychothera- pie. Aufgrund der wiederholten Bitte des Wissenschaftlichen Beirats, zusätzlich Kopien der Originalarbeiten zur Effekti- vität der Gesprächspsychotherapie vor- zulegen, sandte die GwG am 2. August 1999 und am 24. September 1999 als wei- tere Unterlagen

– eine Übersicht über „Effekti- vitätsstudien über Gesprächspsycho-

therapie von 1962–1999“ von Prof.

Sachse,

– siebzehn Kopien von „Originalar- beiten zur Effektivität der Gesprächs- psychotherapie“, von denen sich jedoch lediglich wenige als Effektivitätsstudien herausstellten,

– achtundzwanzig Kopien von „Ef- fektivitätsstudien über Kinder- und Ju- gendlichenpsychotherapien“, von denen sich lediglich wenige als Effektivitätsstu- dien herausstellten.

Eine fundierte Beurteilung alleine aufgrund der schematischen Kurz- darstellungen der vorgelegten Über- sicht von Prof. Sachse war nicht

möglich. Der größte Teil der in der Übersicht aufgelisteten Studien wur- de jedoch nicht als Originalarbeit vor- gelegt. Der Wissenschaftliche Beirat hat von sich aus weitere Originalar- beiten zur Beurteilung herangezogen.

Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass aufgrund der unzurei- chenden Unterlagen Arbeiten über- sehen wurden, die die Beurteilung der Gesprächspsychotherapie beeinflussen könnten.

Die ansonsten vom Wissenschaftli- chen Beirat erbetenen Informationen wurden in der eingereichten Dokumenta-

tion dargestellt. !

Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie

Gutachten zur Gesprächspsychotherapie als

wissenschaftliches Psychotherapieverfahren

(4)

1. Definition

Die Gesprächspsychotherapie geht zurück auf die Arbeiten von Carl R. Ro- gers, der ein allgemeines psychothera- peutisches Konzept im Sinne einer An- leitung zur besonderen Gestaltung der psychotherapeutischen Beziehung oder des psychotherapeutischen Gesprächs entwickelte. Im Laufe der Jahre ist dieses therapeutische Konzept weiterentwickelt und differenziert worden. Neben dem klassischen Vorgehen entstanden Ansät- ze, bei denen der Therapeut stärker den therapeutischen Prozeß steuert, um spe- zifische Therapieziele zu fördern bezie- hungsweise um den Besonderheiten ein- zelner Störungen oder einzelner Patien- ten gerecht zu werden. Dazu werden zum Teil auch zusätzliche therapeutische Me- thoden zur Erweiterung der „Selbstex- ploration“ oder der Erlebnisfähigkeit des Patienten eingesetzt, die zum Teil aus ei- ner Weiterentwicklung der Gesprächs- psychotherapie resultieren (zum Beispiel

„experiencing“), zum Teil aus anderen Therapierichtungen, vor allem der Ge- stalttherapie, übernommen wurden. Die Gesprächspsychotherapie ist demnach heute zwar im Wesentlichen ein einheitli- cher therapeutischer Ansatz, aber mit un- terschiedlichen Ausprägungsformen. Ei- ne Differenzierung der Beurteilung nach den einzelnen Formen oder Ansätzen der Gesprächspsychotherapie wird vom wis- senschaftlichen Beirat nicht vorgenom- men. Ansonsten spiegeln diese Differen- zierungen die Weiterentwicklung der Ge- sprächspsychotherapie wider, wie sie auch bei anderen Therapieformen zu fin- den ist.

Gesprächspsychotherapie wird vor- wiegend in Form von Einzeltherapie, aber auch in Form von Gruppentherapie durchgeführt. Für beide Formen liegen Effektivitätsstudien vor.

2. Indikationsbereich

Die Gesprächspsychotherapie ist im gesamten Spektrum psychischer und psy- chosomatischer Störungen eingesetzt worden. Nach den Regeln der klassischen Gesprächspsychotherapie ist die Vorge- hensweise bei den einzelnen Störungen nicht unterschiedlich. In den stärker di- rektiv orientierten Weiterentwicklungen der Gesprächspsychotherapie werden je- doch bei der Gestaltung der Therapie zunehmend Besonderheiten einzelner Störungen berücksichtigt. Die Tatsache, dass unterschiedliche Störungen nicht oder nur bedingt zu einer jeweils spezifi- schen Therapiegestaltung führen, kann grundsätzlich akzeptiert werden, befreit jedoch nicht von der Notwendigkeit, die

Wirksamkeit dieses relativ einheitlichen Vorgehens für jeden Indikationsbereich getrennt nachzuweisen. Dazu Näheres un- ter Punkt 5. Auf Grundlage der vorgeleg- ten Untersuchungen können keine Aussa- gen zu Kontraindikationen und uner- wünschten Wirkungen gemacht werden.

3. Theorie

Im Mittelpunkt der Störungstheorie der Gesprächspsychotherapie steht die psychische Entwicklung des Menschen, die durch subjektive Erfahrungen, die ge- gebenenfalls mit dem eigenen Selbstbild oder mit Normen konfligieren, beein- trächtigt wird, sodass es zu „Inkongruen- zen“ kommt. Diese Inkongruenzen kön- nen die „Selbstregulation“ des Menschen in unterschiedlichem Ausmaß und in un- terschiedlichen Funktionsbereichen be- einträchtigen.

Die zentrale Annahme einer Inkon- gruenz zwischen einem idealen Selbst- bild und realen (Selbst-)Erfahrungen ist in verschiedenen Studien überprüft und bestätigt worden.

Die Störungstheorie ist unterschied- lich weiterentwickelt worden. In den letzten Jahren wurde vor allem versucht, spezifische Bedingungen und Entwick- lungslinien für einzelne Störungen auf- zuzeigen.

Psychologische und psychiatrische Forschungsergebnisse, vor allem zu den Besonderheiten einzelner psychischer Störungen, die „außerhalb“ der Ge- sprächspsychotherapie gewonnen wur- den, sind in die Störungstheorie der Ge- sprächspsychotherapie nicht ausreichend integriert worden. Dies ist jedoch nicht eine Besonderheit der Gesprächspsycho- therapie, sondern eine Folge der Schulen- bildung im Bereich der Psychotherapie insgesamt, die für fast alle Therapierich- tungen jeweils bevorzugte und insofern einseitige Theorienbildungen nahelegt.

Nach der Therapietheorie der Ge- sprächspsychotherapie wirkt das Verfah- ren vor allem dadurch, dass es beim Pati- enten eine Klärung der konfligierenden, weitgehend vermiedenen Aspekte des Selbst fördert und damit eine Integration dieser abgelehnten Aspekte ermöglicht.

Vor allem durch die Entwicklung der so genannten „zielorientierten Gesprächs- psychotherapie“ sind die theoretischen Grundlagen des therapeutischen Ände- rungsprozesses unter Berücksichtigung der Ergebnisse psychologischer Grundla- genforschung, vor allem aus dem Be- reich der Sprachpsychologie und der Ko- gnitionspsychologie, wesentlich erweitert und differenziert worden.

Die Relevanz der theoretisch postu- lierten Wirkvariablen, in erster Linie die

Therapeutenvariablen Empathie, Wert- schätzung und Echtheit, aber auch weiter- führende Annahmen über die „Explizie- rung“, die Verdeutlichung und Bewusst- machung psychischer Inhalte, konnte in verschiedenen Studien bestätigt werden.

Auch für die Therapietheorie ist fest- zustellen, dass für die verschiedenen Störungen ein weitgehend einheitlicher Änderungsprozess unterstellt wird. Auch dies teilt allerdings die Gesprächspsycho- therapie mit anderen Psychotherapie- richtungen.

4. Diagnostik

In der gesprächspsychotherapeuti- schen Forschung wird Diagnostik zur Messung des Therapieerfolgs und zur Untersuchung des therapeutischen Pro- zesses eingesetzt. Bei der Erfolgsmessung werden vorwiegend Instrumente einge- setzt, die zum einen die speziellen, von der Theorie postulierten Veränderungen überprüfen (zum Beispiel Q-Sort-Tech- nik zur Messung von Ideal-Selbst-Diskre- panzen), zum andern vorwiegend allge- meine Persönlichkeitsfragebögen oder Fragebögen zu einzelnen Persönlich- keitskonstrukten. Instrumente zur Ver- änderung der Symptomatik werden selte- ner benutzt.

In der praktischen Anwendung der Gesprächspsychotherapie spielt die (Ein- gangs-)Diagnostik eine untergeordnete Rolle. Dies entspricht der theoretischen Position der Gesprächspsychotherapie, nach der eine Differenzierung des thera- peutischen Vorgehens aufgrund unter- schiedlicher Diagnosen nicht oder kaum erforderlich ist. In neueren Entwicklun- gen der so genannten „differentiellen Ge- sprächspsychotherapie“ werden hinge- gen im Rahmen der Eingangsdiagnostik die vorliegenden Störungen diagnosti- ziert.

Die von der Gesprächspsychothera- pie selber theoretisch geforderte Dia- gnostik ist Bestandteil der Therapie sel- ber: Die inhaltlichen Äußerungen des Pa- tienten werden fortlaufend vom Thera- peuten hinsichtlich der theorierelevanten Aspekte analysiert, und die unmittelbare Antwort des Therapeuten wird darauf abgestimmt.

Inwieweit in der Praxis eine Differen- zialdiagnostik durchgeführt wird, um Kontraindikationen von Psychotherapie oder speziell von Gesprächspsychothera- pie auszuschließen, ist anhand der vorge- legten Studien nicht beurteilbar.

5. Nachweis der Wirksamkeit Unter Berücksichtigung der kontrol- lierten Studien mit gemischter Klientel

(5)

6. Versorgungsrelevanz

Gesprächspsychotherapie wird seit langem in erheblichem Umfang zur sta- tionären und zur ambulanten psychothe- rapeutischen Behandlung eingesetzt. Das gilt in besonderem Ausmaß für die neuen Bundesländer. Über die heilkundliche Anwendung hinaus spielt die Gesprächs- psychotherapie auch in verschiedenen anderen psychosozialen Dienstleistungen eine wesentliche Rolle.

7. Ausbildung

Von der Gesellschaft für wissenschaft- liche Gesprächspsychotherapie (GwG) ist seit Jahren ein differenziertes Ausbil- dungskonzept entwickelt worden, nach dem sowohl die theoretischen Grundla- gen als auch das praktische therapeuti- sche Vorgehen umfassend vermittelt wer- den. Dabei kann auf eine Großzahl von inzwischen erfahrenen Dozenten und Su- pervisoren zurückgegriffen werden.

8. Zusammenfassende Stellungnahme Insgesamt kann demnach festgestellt werden, dass es sich bei der Gesprächspsy- chotherapie um ein theoretisch hinrei- chend fundiertes Therapieverfahren han- delt, das für die Bereiche Affektive Störun- gen, Angststörungen sowie Anpassungs- störungen und somatische Krankheiten als wissenschaftlich anerkannt gelten kann.

Die Gesprächspsychotherapie kann jedoch nicht als Verfahren für die vertief- te Ausbildung zum Psychologischen Psy- chotherapeuten entsprechend § 1 Abs. 1 der Ausbildungs- und Prüfungsverord- nung für Psychologische Psychothera- peuten empfohlen werden, da dieses The- rapieverfahren nicht für die Mindestzahl von fünf der zwölf Anwendungsbereiche der Psychotherapie des Wissenschaftli- chen Beirates Psychotherapie (siehe se- parate Veröffentlichung) beziehungswei- se für mindestens vier der klassischen Anwendungsbereiche als wissenschaft- lich anerkannt gelten kann.

Köln, den 30. 9. 1999

Prof. Dr. J. Margraf (Vorsitzender) Prof. Dr. S. O. Hoffmann

(Stellvertretender Vorsitzender)

kennung der Gesprächspsychotherapie abschließend zu beantworten:

Aus der Stellungnahme der beiden Berichterstatter, welche die von der GwG eingereichten Unterlagen, insbesondere die wissenschaftlichen Studien, im Detail überprüften, geht unter anderem hervor, dass die den Mitgliedern des Wissen- schaftlichen Beirats im Juli zur Verfü- gung gestellte Dokumentation der GwG unvollständig und unrichtig sei. Außer- dem konnten die Berichterstatter nicht ausschließen, dass aufgrund der unzurei- chenden Dokumentation andere relevan- te Studien nicht berücksichtigt worden seien. Diese Stellungnahme der beiden Berichterstatter wurde den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats erst in der Sitzung am 30. September 1999 als Tisch- vorlage zur Kenntnis gegeben.

Die Mitglieder des Wissenschaftli- chen Beirats hatten somit keine Gelegen- heit, die Unterlagen, insbesondere die

In der Stellungnahme der Berichter- statter (und wohl auch in der vorgelegten Dokumentation) werden zur Beurtei- lung ausschließlich kontrollierte Wirk- samkeitsstudien (im Sinne von efficacy) herangezogen. Dies steht nicht im Ein- klang mit den Kriterien des Wissen- schaftlichen Beirats, wonach bei der Be- urteilung der wissenschaftlichen Aner- kennung auch andere Studien (zum Bei- spiel Einzelfallstudien, insbesondere aber effectiveness-Studien) berücksich- tigt werden können.

Das Mitglied Prof. Richter sah sich daher nicht in der Lage, die Anfrage nach der wissenschaftlichen Anerkennung der Gesprächspsychotherapie abschlägig zu beantworten; ein Antrag auf Vertagung wurde mit großer Mehrheit abgelehnt.

Hamburg, den 4. Oktober 1999 Prof. Dr. Rainer Richter

1. Aufgrund eines Antrages der Firma Bristol-Myers Squibb GmbH ist es der Kassenärztlichen Bundes- vereinigung durch einstweilige Verfü- gung des Landgerichtes Hamburg unter- sagt, im Kapitel 7 des Aktionspro- gramms bei der Auflistung von umsatz- starken Wirkstoffen „Verordnungsemp- fehlungen hinsichtlich der Arzneimittel- gruppe der HMG-CoA-Reduktasehem- mer zu verbreiten und/oder weiterzuver- breiten, insbesondere Listen, Aufstel- lungen oder Publikationen mit einer Verordnungsempfehlung hinsichtlich

preisgünstigerer Präparate“ (AZ: 315 O 849/99).

2. Aufgrund eines Antrages der Fir- ma Hermal Kurt Herrmann GmbH &

Co. ist es der Kassenärztlichen Bundesver- einigung durch einstweilige Verfügung des Landgerichtes Hamburg untersagt, im Kapitel 6 bei der Auflistung der „Arz- neimittelgruppen mit umstrittener Wirk- samkeit“ die Rubrik „Dermatika (sonsti- ge)“ zu verbreiten/oder verbreiten zu las- sen, wenn nicht angegeben wird, welche Dermatika unter diese Rubrik fallen

(AZ: 315 O 839/99). N

K A S S E N Ä R Z T L I C H E B U N D E S V E R E I N I G U N G

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Kassenärztliche Bundesvereinigung mit:

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