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Archiv "Bekanntmachungen: Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie Gutachten zur Neuropsychologie als wissenschaftlichem Psychotherapieverfahren" (18.08.2000)

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1. Grundlagen der Begutachtung

Das Gutachten stützt sich auf folgende Unterlagen:

a) „Antrag auf Anerkennung der Neu- ropsychologischen Therapie als wissen- schaftliches Psychotherapieverfahren“, vorgelegt von der Gemeinsamen Kommis- sion Klinische Neuropsychologie (GKKN), die durch folgende Fachgesellschaften ge- bildet wird: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), Föderation Deut- scher Psychologenvereinigungen (Deut- sche Gesellschaft für Psychologie, DGPs, und Berufsverband Deutscher Psycholo- ginnen und Psychologen, BDP) und Ge- sellschaft für Neuropsychologie (GNP).

Der Antrag wurde dem Wissenschaftli- chen Beirat am 31. 5. 1999 vorgelegt.

b) Die Diskussion zu diesem An- trag im Wissenschaftlichen Beirat am 5. 7. 1999 (7. Sitzung).

c) Die zur 11. Sitzung des Wissen- schaftlichen Beirats eingegangenen schriftlichen Antworten auf 13 ergänzen- de Fragen, die der Wissenschaftliche Bei- rat mit Schreiben vom 29. 7. 1999 an die Fachvertreter der Neuropsychologischen Therapie gerichtet hatte (Anl. 1 der 11.

Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats am 16. 12. 1999 – eingegangen am 29. 11. 1999).

d) Eine der Geschäftsstelle des Wis- senschaftlichen Beirats am 5. 8. 1999 von der GKKN vorgelegte Sammlung von 58 Publikationen.

e) Die mündlichen Ausführungen der Fachvertreter der Neuropsychologischen Therapie anlässlich der Anhörung in der 11. Sitzung des Wissenschaftlichen Bei- rats am 16. 12. 1999.

f) Eine Dokumentation „Neuropsy- chologische Therapie bei Kindern und Jugendlichen“, bestehend aus fünf Pu- blikationen und zusätzlich zwei Poster- Handouts, die der Geschäftsstelle am 31. 1. 2000 zugingen.

2. Gutachtenauftrag/Fragestellung

Es soll geprüft werden, ob die Neuropsy- chologische Therapie als wissenschaftlich

anerkanntes Psychotherapieverfahren gelten kann und für welche Anwendungs- bereiche dies zutrifft.

3. Definition des Verfahrens

„Bei der Neuropsychologischen Thera- pie handelt es sich um Psychologische Interventionen, die auf der Grundlage neurowissenschaftlicher und psycholo- gischer Erkenntnisse gewonnen wur- den und zur Behandlung von Patienten mit organisch bedingten psychischen Störungen eingesetzt werden“ (Antrag der GKKN, S. 5). Die Anwendung Neu- ropsychologischer Behandlungsverfah- ren setzt eine ausführliche Diagnostik voraus, bei der nicht nur Art und Um- fang der Störung, sondern auch die ver- bliebenen Ressourcen, die Behand- lungsmotivation, die Einsicht in die vor- handenen Probleme und das soziale Umfeld der Patienten festgestellt und bewertet werden (s. Antrag der GKKN, S. 8).

Nach Antrag der GKKN gehören zur Neuropsychologischen Therapie:

a) Funktionstherapien, in deren Rah- men umschriebene Funktionsstörungen z. B. durch direktes Üben behandelt wer- den.

b) Kompensationstherapien, in deren Rahmen Bewältigungsfähigkeiten aufge- baut werden.

c) Integrative Therapien, in deren Rahmen übergreifende psychologische Aspekte aufgegriffen und behandelt wer- den. Dazu gehört die Unterstützung des Patienten oder seiner Angehörigen bei der Krankheitsverarbeitung oder die Be- handlung von Anpassungs- und Entwick- lungsstörungen im Kontext zerebraler Schädigungen.

4. Indikationsbereiche

Entsprechend der Definition des Verfah- rens werden von den Fachvertretern der Neuropsychologischen Therapie die fol- genden Indikationsbereiche geltend ge- macht:

a) Es sollen Zustände nach zerebra- len Insulten und Traumata behandelt werden (z. B. Neglect) (ICD-10 G 46, I 69).

b) Es sollen „hirnorganisch bedingte psychische Störungen“ generell behan- delt werden (ICD-10 F 0).

5. Theorie

Die Neuropsychologische Therapie geht von Befunden aus, nach denen „norma- les“ Verhalten und Erleben ein intaktes Zentralnervensystem voraussetzt. Eine weitere wesentliche empirisch gesicher- te Grundlage sind Forschungen, nach denen alle Formen des Lernens ein strukturelles oder biochemisches Äqui- valent aufweisen. Lernprozesse erfor- dern zudem intakte neuronale Systeme.

Im Hinblick auf therapeutische Hilfs- möglichkeiten ist die heute umfänglich nachgewiesene große Plastizität des Ge- hirns eine weitere wichtige Grundvor- aussetzung. Die Plastizität des Gehirns ermöglicht neuropsychologische Maß- nahmen mit dem Ziel, die mögliche funktionelle Restitution zu unterstützen oder die Entwicklung von Kompensati- onsmöglichkeiten zu fördern.

Zur Erklärung der Funktionsverbesse- rung nach Läsion gibt es verschiedene Theorien bzw. Modelle. Unterschieden werden physiologische Modelle, wie das Modell der neuronalen Regeneration, von Reorganisationsmodellen, z. B. dem Modell einer funktionellen Kompensati- on.

Die vorliegenden Theorien gehen da- von aus, dass sich die verschiedenen psychischen Funktionen, z. B. Aufmerk- samkeit, Wachheit, Gedächtnis, Spra- che, Handlungsplanung/-steuerung etc., wechselseitig beeinflussen bzw. steuern und dass dabei unterschiedliche neurona- le Systeme angesprochen werden. Wei- terhin wird eine hierarchische Beziehung zwischen elementaren sensorischen Pro- zessen und den komplexeren psychischen Funktionen, z. B. die Fähigkeit zur Anti- zipation, zur Zielsetzung, zur Planung etc., angenommen.

B E K A N N T G A B E N D E R H E R A U S G E B E R

A

A2188 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 33½½½½18. August 2000

B U N D E S Ä R Z T E K A M M E R

Bekanntmachungen

Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie

Gutachten zur Neuropsychologie als

wissenschaftlichem Psychotherapieverfahren

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Die neuropsychologische Theoriebil- dung erhofft sich weitere Erkenntnisse durch die rasche Entwicklung bildgeben- der Verfahren in den Neurowissenschaf- ten.

Die Neuropsychologische Therapie beansprucht keine eigenständige oder spezifische Theorie zur Veränderung von Behandlungsmotivation, Einsicht in vor- handene Probleme, Bewältigung von An- passungsstörungen oder zur Unterstüt- zung des sozialen Umfelds.

6. Diagnostik

Die Diagnostik ist ein zentraler Bestand- teil der Neuropsychologischen Therapie.

Sie dient in erster Linie der Therapiepla- nung und der Therapiekontrolle. Ent- sprechend der jeweiligen Zielsetzung wird zwischen Statusdiagnostik, Verlaufs- diagnostik und interventioneller Dia- gnostik unterschieden.

Zur Prüfung der psychischen Funk- tionen ist eine große Bandbreite von speziellen neuropsychologischen Test- verfahren entwickelt worden. Eine wichtige Rolle bei der Diagnostik spielt die Unterscheidung zwischen kausalen und reaktiven Störungen, vor allem im affektiven Bereich und im Persönlichkeitsbereich („Entdifferen- zierung“). Hier kommen neben den spe- ziellen Untersuchungsmethoden auch Persönlichkeitstests, Klinische Inter- views und Verhaltensbeobachtung zum Einsatz.

7. Wirksamkeitsnachweise bei Erwachsenen

Von den vorgelegten 58 Publikationen zur Neuropsychologischen Therapie sind etwa ein Drittel Evaluationsstudien, die nur zum Teil über Kontrollbedingungen verfügen.

Eine Publikation berichtet über die Behandlung von Anpassungsstörungen nach Schädelhirntrauma, wobei neben neuropsychologischen Interventionen auch eine Reihe unterschiedlicher und nicht näher spezifizierter Psychothera- piemethoden zum Einsatz kamen. Eine Studie berichtet über die Behandlung von Demenzerkrankungen und eine über ein Gedächtnistraining bei Senio- ren. Die übrigen Studien berichten über verschiedene Formen des Trainings ge- störter Funktionen wie Neglect, Auf- merksamkeitsstörung, Lähmungen oder Gedächtnisausfälle nach Schädelhirn- traumata.

Nach den vorliegenden Untersuchun- gen gibt es für die neuropsychologische

Therapie in mehr als drei Studien Wirk- samkeitsnachweise für das Training ba- saler kognitiver Leistungen (Visuelles Scanning, Aufmerksamkeit, Problemlö- sung) im Sinne einer Funktionstherapie bei Zuständen nach zerebralen Insulten (ICD-10 G 46). Es gibt keine ausrei- chenden Wirksamkeitsbelege für Kom- pensationstherapien oder Integrative Therapien. Es werden keine hinreichen- den Wirksamkeitsbelege vorgelegt für den Anspruch, dass Neuropsychologi- sche Therapie über gezielte Funkti- onstrainings hinausgehend den gesam- ten psychosozialen Raum eines Men- schen nach Hirnschädigung therapeu- tisch abdeckt.

Unerwünschte Wirkungen und spezi- elle Risiken sind bei sachgerechter An- wendung Neuropsychologischer Thera- pie nicht geprüft, Überforderungen von Patienten aber denkbar.

8. Wirksamkeitsnachweise bei Kindern und Jugendlichen

Insgesamt wurden 59 Kinder im Schulal- ter bis zum Alter von 18 Jahren unter- sucht. Dabei entfallen 37 Kinder auf zwei Studien, in einem Fall handelt es sich um eine Kasuistik, im einer 2. Studie sind es zwei Versuchspersonen. Kontrollgrup- penvergleiche liegen nicht vor. Bei einer Studie handelt es sich um eine Counter- Balanced Crossover-Studie.

Das diagnostische Spektrum ist ex- trem variabel. So werden „Verhaltens- auffälligkeiten“ gleichgesetzt mit Tou- rette-Syndrom, Epilepsie, Meningitis, Schädel-Hirn-Trauma, autistische Stö- rung, Legasthenie, geistige Behinde- rung, HKS usw. Ein umschriebener dia- gnostischer Bereich ist nicht erkennbar.

In Einzelfällen ist nicht auszuschließen, dass gesunde Kinder oder Kinder ohne neuropsychologische Störung behandelt wurden.

Zusammenfassung:

Weder die Anzahl der Studien noch ihre Qualität entsprechen den vom Beirat er- stellten Kriterien für die Wissenschaft- lichkeit eines psychotherapeutischen Verfahrens. Insgesamt lässt die Doku- mentation nicht erkennen, dass die

„neuropsychologische Therapie“ in ei- ner Weise dokumentiert ist, dass sie als wissenschaftliches Psychotherapiever- fahren für Kinder und Jugendliche An- erkennung finden könnte. Es wäre drin- gend zu empfehlen, die Forschung und die Dokumentation in diesem Bereich voranzutreiben.

9. Versorgungsrelevanz

Neuropsychologische Therapie stellt für das Funktionstraining bei zerebralen In- sulten und Traumata eine wichtige und nicht durch andere Maßnahmen zu er- setzende Therapieoption dar.

Der Bedarf an Neuropsychologischer Therapie, insbesondere im Bereich der Rehabilitation, ist unstrittig.

10. Ausbildung

Es gibt seit 1994 ein Curriculum für eine postgraduierte Weiterbildung in Klini- scher Neuropsychologie. Seit 1997 gibt es eine von Psychologen (BDP, DGPs und GNP) und Neurologen (DGN) ge- meinsam getragene Aus- bzw. Weiterbil- dung in Klinischer Neuropsychologie.

Die derzeitig geltenden Ausbildungs- richtlinien erfüllen nicht die Anforde- rungen nach dem PsychThG und der PsychTh-APrV.

11. Zusammenfassende Stellungnahme

Die nachgewiesene Wirksamkeit von Neuropsychologischer Therapie er- streckt sich auf das Funktionstraining basaler kognitiver Funktionen, wie Wahrnehmung, räumliche Orientie- rung, Gedächtnis, Informationsverar- beitung, Handlungssteuerung oder Auf- merksamkeit, und auf komplexe kogni- tive Prozesse, z. B. geteilte Aufmerk- samkeit, Vigilanz, Problemlösen oder Planen.

Zusammenfassend wird festgestellt, dass die Neuropsychologische Therapie für den Anwendungsbereich „Hirnorga- nische Störungen“ bei Erwachsenen als ein theoretisch und empirisch hinrei- chend fundiertes und damit wissenschaft- lich anerkanntes Therapieverfahren an- zusehen ist.

Die Neuropsychologische Therapie kann jedoch nicht als Verfahren für die vertiefte Ausbildung entsprechend § 1 (1) der PsychThG-APrV als wissen- schaftlich anerkannt gelten, da es keine Belege für ihre Wirksamkeit bei minde- stens fünf der 12 Anwendungsbereiche der Psychotherapie bei Erwachsenen gibt.

Köln, den 8. 6. 2000

Prof. Dr. S. O. Hoffmann (Vorsitzender)

Prof. Dr. J. Margraf (Stellv. Vorsitzender)

B E K A N N T G A B E N D E R H E R A U S G E B E R

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 33½½½½18. August 2000 AA2189

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