Drei Worte
Ehrlicher als der Tag ist die Nacht: das Gewissen pocht, das Fieber steigt, die Träume über- fallen auch den, der sonst sorg- los in den Tag hineinlebt. Wie gut, aus unerträglichen Träu- men wacht man auf, fühlt sich befeit, behält Fetzen. Nur weni- ge Träume bewahrt man als Bild, als Szene, als Erzählung sogar. Jenen Traum zum Bei- spiel, im Studentenzimmer zu
Erlangen, im ersten Kriegswin- ter, der schon Jahrzehnte zu-
rückliegt.
Am Morgen war das Wasser im Krug gefroren. Früher als sonst ging ich zu Bett, um mich zu wärmen, zu lesen, zu schreiben.
Da tritt er durch die Tür: der Be- sucher, im schwarzen Gewand, einer Sutane ähnlich, deren Halsausschnitt oben ein weißes Tuch umknotet. Ein Greis mit grauem, strähnigen Haar, mit hellen Augen jedoch, aus denen ein Leuchten in die Dunkelheit strahlt. Er nimmt das Glas vom Waschtisch und, siehe, es ist schon halb gefüllt mit Wasser.
Er nimmt ein Fläschchen aus der Tasche seines Gewandes und läßt aus seiner Öffnung ei- nen Tropfen ins Glas fallen. „Er-
„Chimäre" — Collage des Wiener Künstlers Wilhelm Traeger
fahrung", sagt er dazu, fast fei- erlich, und ich verstehe: das Wort ist symbolisiert im Trop- fen, der eben im Glas sich auf- löst und ihm eine hellblaue Fär- bung verleiht. „Wahrheit", sagt der Besucher. Ein zweiter Trop- fen fällt ins Glas, und auch er löst sich auf im Wasser in oran- gefarbenen Wolken. Ein dritter Tropfen perlt aus dem Fläsch- chen — aber diesmal verstehe ich das Wort nicht, das der Be- sucher dazu sagt, weil mir die Ohren rauschen, weil ich hinauf- sehe zu ihm und ihn jetzt zu er- kennen glaube. Gleicht er nicht jenem Porträt in der Literaturge- schichte, das ich schon oft be- trachtet habe? Ist es nicht Cle- mens Brentano, der Romanti- ker? Nur älter erscheint er, freundlicher, gütiger. Sein Lä-
cheln macht mir Mut zu fragen:
wie lautete das dritte Wort? Er hält mir schweigend das Glas an die Lippen, und ich richte mich auf und trinke das Wasser in lan- gen Schlucken. Es stillt meinen Durst, und das Aroma, welches die drei Tropfen wohl verursa- chen, versüßt das Wasser wie das Aroma von Früchten, die ich nicht kenne. Ich werde leicht und glücklich, und ich wäre es noch mehr, hätte ich auch das letzte Wort verstanden. Und wieder will ich fragen, da geht der Besucher, nein, er ver- schwindet, wie eine Erschei- nung, als erlösche ein Licht, und ich erwache in der Dunkelheit des kalten Zimmers.
Ich habe verstanden, was der Trank und die zwei Worte be- deutet haben, und das dritte Wort, das unverständliche, be- unruhigte mich noch lang. Kein anderer Traum war so nah den Vorstellungen, die mich erfüll- ten; damals, als ich jung war, als ich zu schreiben anfing und mehr ahnte als wußte, wohin diese Wünsche mich zogen.
Hans Bender Aus: Dichter erzählen ihre Träume — Selbstzeugnisse deutscher Dichter aus zwei Jahrhunderten, herausgege- ben von Martin Kiessig; Verlag Urach- haus, Stuttgart, 400 Seiten, 32 DM POST SCRIPTUM
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158 (144) Heft 3 vom 20. Januar 1984 81. Jahrgang Ausgabe A
