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er Schock sitzt immer noch tief:Im November vergangenen Jah- res sind die Kassenärztlichen Ver- einigungen Rheinhessen und Koblenz mit massiven staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen überzogen worden. In beiden Fällen durchsuchte ein Groß- aufgebot der Polizei unangekündigt die Amtsräume der betroffenen KVen und zum Teil auch die Privatwohnungen von Vorständen und Mitgliedern der Geschäftsführungen. Sowohl in Ko- blenz als auch in Rheinhessen ging es nicht nur um angenommenen Abrech- nungsbetrug von Ärzten. Erstmals richtete sich der Verdacht auch gegen die KV-Verantwortli- chen. Ihnen wirft die Staatsan- waltschaft vor, nicht angemes- sen und ausreichend gegen Be- trugsfälle vorgegangen zu sein.
Zwei Monate zuvor, am 6./7. September 2000, hatte das Bundeskriminalamt (BKA) Ver- treter der Krankenkassen, der Ärzte, der Justiz und Experten der Polizei zu einer Tagung nach Wiesbaden eingeladen (DÄ, Heft 37/2000). Leo Schuster, Leiter der BKA-Abteilung „Organisierte Wirt- schaftskriminalität“, wollte dabei unter anderem der Frage nachgehen, inwie- weit ein „Netzwerk von Abhängigkei- ten“ im selbst verwalteten Gesundheits- wesen besteht, das möglicherweise Ab- rechnungsbetrug begünstigt.
Diese drei Ereignisse, deren Zusam- menhänge offenkundig erscheinen, aber nicht belegt sind, haben die Kassenärzt- liche Bundesvereinigung (KBV) alar- miert. Die staatlichen Ermittlungsbe- hörden setzen offenkundig kein Ver- trauen mehr in die Funktionsfähigkeit der ärztlichen Selbstverwaltung als Kon- trollorgan gegenüber den niedergelasse- nen Ärzten.
Selbst wenn der Vorwurf, die Kas- senärztlichen Vereinigungen würden Abrechnungsbetrug bewusst „unter der Decke halten“, nach Auswertung des beschlagnahmten Beweismaterials in Rheinhessen und Koblenz nicht mehr aufrechterhalten werden sollte, bleibt ein grundsätzlicher Dissens zwischen Staatsanwaltschaft und KVen bestehen:
Wie lässt sich eine irrtümliche Falschab- rechnung von einer betrügerischen Ma- nipulation zweifelsfrei abgrenzen, und
von welchem Zeitpunkt an ist die Kas- senärztliche Vereinigung verpflichtet, die Staatsanwaltschaft einzuschalten?
Die Ermittlungsbehörden wollen überzeugende Antworten auf diese Fragen – doch das ist nicht einfach. Ei- nen ersten Schritt hat die KBV jetzt un- ternommen, indem sie einheitliche Ver- fahrensgrundsätze für Plausibilitätsprü- fungen durch die Kassenärztlichen Ver- einigungen erarbeitet hat. Das Konzept ist zwar noch nicht im Detail abge- stimmt, es lässt aber den Willen erken- nen, einen nachvollziehbaren Aus- gleich zwischen den sachlichen Erfor- dernissen der ärztlichen Selbstverwal- tung und den Interessen der Staatsan- waltschaft herzustellen.
Das KBV-Konzept will mit einheitli- chen Grundlagen für alle KVen ein ord- nungsgemäßes Prüfverfahren gewähr- leisten, das transparent ist, Rechtssicher- heit für die Vorstände und Geschäfts- führungen der KVen schafft und zudem die Grundlage für die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen und der Justiz bei der Aufklärung und Bestrafung von Abrechnungsmanipulationen bildet.
Die Plausibilitätsprüfung ist Teil der sachlich-rechnerischen Prüfung der Abrechnungen durch die Kassenärztli- chen Vereinigungen. Die von der KBV erarbeiteten Verfahrensgrundsätze sehen verschiedene „Aufgreifkri- terien“ vor, die neben den bisherigen Verfahren zu einer gezielten Plausibilitätsprüfung führen sollen. So sollen peri- odisch mit den Krankenkassen nach einer Zufallsauswahl Stichproben gezogen werden, bei denen die Abrechnungen von Ärzten aus den jeweils letzten vier Quartalen näher in Augenschein genommen wer- den. Bei diesen Stichproben, aber auch bei auffälligen Häufungen von Leistungen an bestimmten Tagen sollen Tagesprofile zu Hilfe genommen werden. Die Profile geben bundesein- heitliche Anhaltspunkte dafür, wie viel Zeit die sachgemäße Erbringung einer EBM-Position in Anspruch nimmt. Der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm hat die dahinter stehende Proble- matik einmal so beschrieben: „Manche Abrechnungen lassen den Schluss zu, dass der ärztliche Arbeitstag 48 Stun- den dauert.“
Neben den Stichproben und den Ta- gesprofilen soll ein Katalog mit Auffäl- ligkeiten, die auf Ungereimtheiten in der Abrechnung schließen lassen, die KVen in die Lage versetzen, vor allem im Zuge P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 16½½½½20. April 2001 AA1027
Kassenärztliche Abrechnungen
Ordnung im eigenen Stall
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat Verfahrensgrundsätze
für Plausibilitätsprüfungen von ärztlichen Abrechnungen erarbeitet. Sie reagiert damit auf die zunehmenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen.
Zeichnung: Ralf Brunner
der Wirtschaftlichkeits- und Qualitäts- prüfung ergänzende Plausibilitätsprü- fungen zu veranlassen. Anonyme Anzei- gen gegen Ärzte sollen nach Auffassung der KBV nicht automatisch zu einer Prü- fung führen. Um Denunziationen vorzu- beugen, heißt es in dem Konzept: „Sie sind nur dann aufzugreifen, wenn der er- hobene Vorwurf einer Verletzung ver- tragsärztlicher Pflichten hinreichend konkretisiert ist.“
Mit den Verfahrensgrundsätzen sol- len jedoch nicht nur einzelne falsch abrechnende Ärzte aufgespürt werden.
Gemeinsam mit der Bun- desärztekammer will die Kassenärztliche Bundes- vereinigung eine Clearing- stelle einrichten, die dann tätig wird, wenn „Auffäl- ligkeiten beziehungsweise Veränderungen im Abrech- nungsverhalten einer Arzt- gruppe zu erkennen sind, die auf eine entsprechende Schulung schließen lassen“.
Derartige Phänomene tre- ten vorzugsweise nach EBM-Reformen oder nach Änderungen von Abrech- nungsbestimmungen auf.
Doch auch hier ist die Abgrenzung schwierig:
Dient die „Schulung“ ei- ner Arztgruppe der sach-
gerechten Anwendung der neuen Be- stimmungen, oder geht es darum, die ver- schiedenen EBM-Positionen nach öko- nomischer Bedeutung zu vermitteln?
Bei der Durchführung der Prüfung, der Aufbereitung der Unterlagen und der anschließenden Entscheidung sehen die Verfahrensgrundsätze getrennte Zu- ständigkeiten vor. Die Aufbereitung der Prüfunterlagen bei Auffälligkeiten oder nach Stichproben soll einem Prüfgremi- um obliegen, das von der Vertreterver- sammlung oder dem Vorstand eingesetzt wird. Ihm gehören hauptamtliche und ehrenamtliche Prüfärzte, Mitarbeiter der Geschäftsführung und nach Mög- lichkeit auch ein Jurist an.
Da der Vorstand eventuell über Kon- sequenzen aus einer Prüfung entschei- den muss, wirkt er selbst nicht an dem Verfahren mit. Er soll allerdings einen Ansprechpartner benennen, den das Prüfgremium in Zweifelsfällen konsul-
tieren kann. Dem Prüfgremium sind alle notwendigen Unterlagen auszuhändi- gen, der betroffene Arzt erhält keinen Einblick in den Prüfvorgang.
Wenn die Vorprüfung Auffälligkei- ten ergeben hat, muss dem Arzt die Ge- legenheit zu einer Stellungnahme gege- ben werden. Dies kann in einem per- sönlichen Gespräch erfolgen, bei dem neben dem Vorstandsbeauftragten ein
„in der Sache erfahrener Arzt“, ein Ju- rist und ein Vertreter des betreffenden Fachgebiets anwesend sein sollen. Stellt sich heraus, dass die Auffälligkeiten auf
einem Abrechnungsfehler beruhen, ist die daraus resultierende Honorarbe- richtigung zu klären. Verbleiben jedoch Zweifel, können weitere Maßnahmen veranlasst werden: Einsicht in die Pati- entenkartei, Einholung eines Sachver- ständigengutachtens, eine Praxisbege- hung, eine Patientenbefragung – oder auch die Abgabe an die Staatsanwalt- schaft, wenn der Verdacht auf ein krimi- nelles Verhalten nicht entkräftet ist und der Arzt sich weigert, an der Auf- klärung der belastenden Umstände mit- zuwirken.
Gelangt das Prüfgremium in Abstim- mung mit dem Vorstandsbeauftragten einvernehmlich zu der Überzeugung, dass keine Anhaltspunkte für ein schuldhaftes Verhalten des Arztes (etwa grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz) be- stehen, wird der Vorstand in anonymi- sierter Form über das Prüfergebnis und die maßgebenden Gründe für die
Prüfung mit einem Abschlussprotokoll informiert. Erhebt er keinen Einspruch, gilt der Vorgang als abgeschlossen.
Wenn das Prüfgremium und der Vor- standsbeauftragte die Sachlage unter- schiedlich bewerten oder wenn ein schuldhaftes Verhalten des Arztes nach- gewiesen ist, muss der Vorstand in je- dem Fall entscheiden. Von diesem Zeit- punkt an bleibt der betroffene Arzt nicht mehr anonym. Das Prüfgremium legt den festgestellten Sachverhalt vor, benennt unstrittige oder strittig geblie- bene Vorgänge und unterbreitet dem Vorstand Entscheidungsvorschläge zum weiteren Vorgehen. Dabei kommen in- frage: eine Honorarkorrektur, der An- trag auf Einleitung eines Disziplinarver- fahrens, eine Mitteilung an die Ärzte- kammer zur Einleitung eines berufsge- richtlichen Verfahrens, die Einleitung eines Verfahrens zur Entziehung der Kassenzulassung oder gar der Approba- tion und eine Mitteilung an die Staats- anwaltschaft. Das gesamte Verfahren – von der Vorprüfung bis hin zur Vor- standsentscheidung – soll ausführlich dokumentiert werden.
Die Vorteile der Verfahrensgrundsät- ze liegen einerseits in der Einheitlichkeit und Transparenz der Prüfungen und ih- rer Kriterien. Andererseits kann durch die Trennung der Zuständigkeiten in- nerhalb der ärztlichen Selbstverwaltung der Vorwurf des Bundeskriminalamtes entkräftet werden, dass „niemand die Kontrolleure kontrolliert“.
Ob dies dem BKA und den Staatsan- wälten reicht, werden die weiteren Ge- spräche ergeben. Ende April will man sich erneut in Wiesbaden zusammen- setzen. Die Ermittlungsbehörden müs- sen dabei sorgfältig abwägen: Wollen sie die KVen zwingen, jede einzelne Auffälligkeit umgehend zu melden, dürften sie in einem Wust von Ermitt- lungen ersticken. Nach den bisherigen Erfahrungen stünde am Ende überwie- gend die Erkenntnis, dass keine betrü- gerischen Absichten im Spiel waren.
Zugleich würde ein solches Vorgehen die ärztliche Selbstverwaltung de facto weitgehend entmündigen.
Wollen das BKA und die Staatsan- waltschaft das nicht, ist eine Einigung mit den Ärzten anzustreben. Die Ver- fahrensgrundsätze der KBV könnten die Basis dafür bilden. Josef Maus P O L I T I K
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A1028 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 16½½½½20. April 2001
Protestaktion in Mainz: Am 20. Januar demonstrierten mehre- re Hundert Ärzte gegen die harte Gangart der Justiz.
Foto: Johannes Aevermann