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Archiv "Ausbildung zum Arzt: Im Korsett des Zulassungsrechts" (12.11.2004)

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T H E M E N D E R Z E I T

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A3082 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 101⏐⏐Heft 46⏐⏐12. November 2004

W

ie in fast allen westlichen Industriestaaten übersteigt in Deutschland die Zahl der Be- werberinnen und Bewerber um einen Studienplatz im Medizinstudium erheb- lich die Zahl der vorhandenen Plätze.

Nach Auskunft der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätze gingen zum Wintersemester 2003/2004 für

das erste Fachsemester Medizin knapp 29 000 Bewerbungen ein. Dem stand eine Gesamtka- pazität von 8 320 Plätzen ge- genüber. Es konnten also nur etwa 29 Prozent der Bewerber zugelassen werden.

Die Diskussion um die Aus- bildungskapazität der Hoch- schulen erhitzt seit Jahren die Gemüter. Je nachdem, ob gera- de ein Ärztemangel oder eine Ärzteschwemme prognostiziert ist, werden die Universitäten gescholten, zu wenige oder zu viele Mediziner auszubilden.

Dabei wird häufig davon ausge- gangen, dass es in der Hand der Fakultäten liegt, wie viele Stu-

dierende sie ausbilden wollen. Die eigen- artige Rechtslage, nach der in Deutsch- land die Ausbildungskapazitäten der Hochschulen bestimmt werden, ist weit- gehend unbekannt.

Zahl und Qualifikation der zuzulas- senden Studierenden stehen in einem en- gen Bezug zur Ausbildungsqualität. An den renommierten ausländischen Uni- versitäten, mit denen die deutschen gern verglichen werden, hat die Auswahl der geeigneten Bewerber höchste Priorität.

Die Zulassungszahl richtet sich danach, wie viele Studierende man bei gegebener Größe des Lehrkörpers in einem als gut befundenen Curriculum sinnvoll ausbil-

den zu können glaubt. Für die Auswahl der geeigneten Bewerber wurden in ver- schiedenen westlichen Industrieländern ausgefeilte Systeme entwickelt, die meist aus einer Kombination von Schulnoten, Tests und Interviews bestehen, da neben der Lernfähigkeit auch Problemlösungs- kompetenz, Motivation und soziale

Kompetenz der Bewerber beim Aus- wahlverfahren berücksichtigt werden sollen. In Deutschland ist das Auswahl- kriterium eher schlicht: die durchschnitt- liche, auf mehrere Stellen hinter dem Komma berechnete Abiturnote. Dieses mangelnde Interesse an der Auswahl der Besten hängt eng mit dem deutschen Zulassungsrecht zusammen, das nur vor dem Hintergrund der Verfassungsge- schichte zu verstehen ist.

Die Grundlage des deutschen Zulas- sungsrechtes bildet die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1972. Dieses Recht wurde seitdem vor al- lem durch Gerichtsentscheidungen ausge-

staltet. Die Gesetzgebung von Bund und Ländern, immer wieder novellierte Staatsverträge und Bundesrahmengeset- ze hinken regelmäßig hinter richterlichen Festlegungen her. In dem Urteil von 1972 legt das Bundesverfassungsgericht fest, dass jeder Staatsbürger Anspruch auf Zu- tritt zu einer staatlichen Bildungseinrich- tung seiner Wahl hat, wenn er das formale Kriterium der Hochschulreife erfüllt. Dieser Anspruch wird abgeleitet aus ei- nem Recht auf Teilhabe an den vom Staat zur Verfügung ge- stellten Ressourcen – ein Grundsatz, den das Bundesver- fassungsgericht einerseits aus dem faktischen Monopol des Staates bei der Medizinerausbil- dung und andererseits aus Arti- kel 12 GG, „Freiheit der Berufs- wahl“, ableitet. Wenn diese Freiheit aus Gründen von Res- sourcenknappheit eingeschränkt werden muss, erfordert das eine Entscheidung nach einem Ge- setz, dessen Einhaltung gericht- lich überprüft werden kann. Das Zulassungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland war von Anfang an ein

„Richterrecht“. Es ist ausschließlich ge- tragen vom Gesichtspunkt der sozialen Teilhabe. Der Staatsbürger hat Anspruch auf staatliche Leistungen, die seine Le- benschancen in Form des Zugangs zu ei- nem attraktiven, sozial geachteten und einkommensträchtigen Beruf erhöhen.

Über die Jahr für Jahr wiederkehren- den Numerus-clausus-Prozesse, in denen Studienplatzanwärter immer wieder Stu- dienplätze an deutschen Hochschulen er- stritten haben, behielten die Gerichte die Entwicklung des Zulassungsrechts seit

1972 fest in der Hand.

Ausbildung zum Arzt

Im Korsett des Zulassungsrechts

Seit Jahrzehnten haben die Gerichte die Entwicklung des Zulassungsrechts fest in ihrer Hand. Die Politik hat es

versäumt, den Universitäten Rechtssicherheit bei der einfachen Frage der zuzulassenden Medizinstudierenden zu geben.

Hermann O. Handwerker

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A3084 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 101⏐⏐Heft 46⏐⏐12. November 2004

Die wichtigsten Eckpunkte der Ge- richtsentscheidungen:

1. Verpflichtung der Fakultäten zur er- schöpfenden Nutzung der Ausbildungs- kapazität (diese Forderung ging wörtlich in die gültige Kapazitätsverordnung ein);

2. Verbot der Kapazitätsvernichtung durch „unerlaubte Niveaupflege“;

3. Schaffung eines eigenständigen Stu- diengangs „vorklinische Medizin“.

Der dritte Punkt war entscheidend für die gerichtliche Kontrolle der beiden er- sten Punkte: Dadurch, dass die Erstzulas- sung zum Medizinstudium ausschließlich auf die Personalkapazität der vorklini- schen Institute bezogen wurde, war ein einfaches Kriterium geschaffen worden, nach dem Erstzulassungszahlen festge- legt werden können, ohne auf die Ent- wicklung der Medizin und der medizini- schen Lehre oder die nach Stand der Din- ge schwankende und problematische Zahl der für die Lehre verfügbaren Pati- enten eingehen zu müssen. Dabei zählen auch der Vorklinik zugeordnete, aber nicht besetzte Stellen. Selbst eingezogene Stellen, die es gar nicht mehr gibt, können kapazitätswirksam sein, wenn den Ge- richten der Stelleneinzug – zum Beispiel im Rahmen von Sparmaßnahmen – als Willkür erscheint.

Die Zahl der zuzulassenden Studie- renden ergibt sich für eine Fakultät aus dem „Lehrangebot“, das heißt der Zahl der Unterrichtsstunden, die vom akade- mischen Personal der Vorklinik erbracht

werden müssen. Diese Unterrichtsstun- den sind durch die Lehrdeputate der Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeiter bestimmt. Es ist kürzlich Mode geworden, diese Lehrdeputate einfach durch Verordnung anzuheben, wie das jetzt gerade in

Bayern geschieht. Da- durch steigt die Kapa- zität automatisch an.

Diesem quantitativen

„Unterrichtsangebot“

entspricht die Zahl der zuzulassenden Studie- renden; berechnet wird diese nach dem Curri- cularnormwert (CNW) – einem Rechenwerk, in das genormte Werte für

Gruppengrößen und Gewichtungsfakto- ren für verschiedene Veranstaltungsty- pen eingehen. Dieses formale Rechen- werk setzt einen bestimmten Typ Studi- enplan voraus mit streng genormten Un- terrichtsveranstaltungen, zum Beispiel Seminaren mit 20 und Praktika mit 15 Teilnehmern. Der CNW ist eine globale Größe; er nimmt keine Rücksicht darauf, dass die einzelnen Fächer nicht immer nach dem Lehrbedarf besetzt sind. Ana- tomen zählen wie Molekulargenetiker, Frischdiplomierte wie altgediente Profes- soren, wenn sie nur der „Lehreinheit vor- klinische Medizin“ zugerechnet werden können. Es gibt in der Hochschulwirk- lichkeit mannigfaltige Abweichungen

von der global nach Stellenplänen be- rechneten Lehrkapazität: So sind Stellen über viele Monate aus Haushaltsgründen gesperrt und können daher nicht besetzt werden, andere Stellen müssen in Er- wartung einer Neuberufung freigehalten werden, oder noch tri- vialer: Ein Professor wird krank.

Bei der Kapazitäts- festlegung haben sich die Verwaltungsge- richte in der Regel nicht auf diesen Wel- lengang der Univer- sitätsgeschäfte einge- lassen. Vielmehr wur- de der Einheitlichkeit halber bis zur Ein- führung der neuen Approbationsord- nung (ÄAppO) im Herbst 2003 nicht die Unterrichtswirklichkeit der Kapazitäts- festlegung zugrunde gelegt, vorsichtshal- ber auch nicht die von den Ländermini- sterien genehmigten Studienpläne, son- dern ein „Musterstudienplan ZVS“, der somit für ganz Deutschland die Ausbil- dungskapazität bestimmte.Wenn die Stu- dienpläne der Fakultäten über die An- forderung dieses „Musterstudienplans ZVS“ hinausgingen, war das nicht kapa- zitätswirksam, ja sogar gefährlich. Wurde damit doch belegt, dass die jeweilige Fa- kultät zur „unerlaubten Niveaupflege“ in der Lage ist und somit ihre Kapazität nicht „erschöpfend“ ausgenutzt hat.

Grafik

Angebot und Nachfrage nach Studienplätzen im Studiengang Medizin (Wintersemester 1980/81–2004/05)

35 000 30 000 25 000 20 000 15 000 10 000 5 000 0

80––

81 81––

82 82––

83 83––

84 84––

85 85––

86 86––

87 87––

88 88––

89 89––

90 90––

91 91––

92 92––

93 93––

94 94––

95 95––

96 96––

97 97––

98 98––

99 99––

00 00––

01 01––

02 02––

03 03––

04 04*––

05 Wintersemester

Bewerber Studienplätze

*vorläufige Zahlen

Letztlich ist die Misere der medizinischen Ausbildung

die Bankrotterklärung einer einfallslosen Politik,

die sich seit mindestens

drei Jahrzehnten damit

begnügt, das Bundes-

verfassungsgerichtsurteil

von 1972 fortzuschreiben.

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Die Klagen der Fakultäten über die starren Studienpläne waren eine wesent- liche Motivation für die Schaffung der neuen ÄAppO. Mit ihrem In-Kraft-Tre- ten zum Wintersemester 2003/2004 erga- ben sich neue Probleme, die bereits zu ei- ner neuen Welle von Prozessen um Zulas- sung zum Medizinstudium geführt haben.

(a) Die neue ÄAppO schließt Muster- studienpläne insofern aus, als sie von ei- ner höheren Eigenverantwortung der Fa- kultäten ausgeht, die mehr Gestaltungs- freiheit bei der Organisation des Unter- richts haben sollten. Außerdem fordert die neue ÄAppO „Längsvernetzung“.

Dabei war ursprünglich daran gedacht, dass ein Teil der Lehrdeputate des Lehr- personals der vorklini-

schen Medizin künftig zur wissenschaftlichen Vertiefung im klinischen Studienabschnitt einge- bracht wird, während kli- nische Lehrdeputate in den vorklinischen Studi- engang einfließen, um hier in Seminaren klini- sche Bezüge zu verdeutli- chen. Sofort kam es zu ei- nem Rechtsstreit, ob die- se Seminare im ersten Studienabschnitt (Vor- klinik) nun ausschließ- lich oder zumindest zu ei- nem größeren Teil von Klinikern durchgeführt werden müssen. Mittler-

weile wurde dieser Rechtsstreit von meh- reren Oberlandesgerichten in zweiter In- stanz zugunsten der beklagten Fakultäten entschieden: Nach ÄAppO müssen sie nicht. Ein „massenhafter“ Einsatz von Klinikern im ersten Studienabschnitt würde auch die Kernkliniken fast aller Fakultäten vor große Probleme stellen, denn gerade in der Vorklinik können nur erfahrene – auch in den theoretischen Grundlagen versierte – Kliniker be- stimmter Fächer eine echte Ergänzung bringen; diese stehen nicht einmal in aus- reichender Zahl für den Unterricht im zweiten Studienabschnitt zur Verfügung.

Außerdem würde die Durchführung vie- lerorts im Straßenverkehr ersticken, weil vorklinische Institute und Kliniken meist räumlich getrennt sind. Schließlich würde der Unterricht weitgehend vom künfti- gen ersten Staatsexamen (ersetzt das bis-

herige Physikum) abgekoppelt, da in die- sem Examen ausschließlich Professoren der Vorklinik die vorklinischen Fächer Anatomie, Physiologie und Biochemie

„mit klinischen Bezügen“ prüfen werden.

Die Fakultäten werden – je nach den örtlichen Gegebenheiten – Kliniker zum vorklinischen Unterricht hinzuziehen, um die klinischen Bezüge zu vertiefen.

Durch das Kapazitätsrecht und die drohenden Verwaltungsgerichtsprozesse werden sie aber eher davon abgeschreckt, weil die Teilnahme von Klinikern im vor- klinischen Unterricht zu einem unkalku- lierbaren Risiko werden kann, wenn da- durch zusätzliche gerichtsverwertbare

„Lehrkapazität“ erzeugt wird. Die vorkli-

nische Kapazität ist eine globale Summe, auf Engpässe in einzelnen Praktika und Seminaren wird bei der Zulassung keine Rücksicht genommen. Ein unerwartetes Kontingent von gerichtlich zugelassenen Studierenden, vulgo „Gerichtsmedizi- nern“, kann die Durchführbarkeit von Praktika und Seminaren, selbst von Vor- lesungen gefährden, wenn zum Beispiel die Zahl der zugelassenen Studierenden die Hörsaalkapazität sprengt. Bisher ist noch nicht gerichtlich geklärt, ob dieses Risiko dadurch neutralisiert werden kann, dass klinischer Lehrimport durch einen Export von vorklinischer Lehrlei- stung in den zweiten, klinischen Studien- abschnitt kompensiert wird. Es muss be- fürchtet werden, dass die Verwaltungsge- richte dieses Unterfangen als „kapazitäts- vernichtende Niveaupflege“ versagen werden.

Ein Beispiel dafür, dass dies nicht un- begründet ist, bietet die Universität Ulm, die nach Einführung eines mittlerweile aus rechtlichen Gründen wieder aufgege- benen Programms, nach dem vorher von den Professoren ausgebildete Tutoren Se- minare leiten sollten, eine Gerichtszulas- sung von zusätzlich 76 Studierenden er- lebte, was die Organisation eines sinnvol- len Unterrichts fast unmöglich machte.

Mittlerweile wurde das Urteil von der Revisionsinstanz aufgehoben; die 76

„Gerichtsmediziner“ sollen wieder ex- matrikuliert werden.

Eine Fakultät, die unter diesen Bedin- gungen innovative Reformen erproben will, läuft ein unkalkulierbares Risiko, und die betreffenden Studienkommissionen sind vermutlich mit Hasardeuren besetzt.

Das Zulassungs- recht und die rigide Gerichtspraxis samt Verbot der „Niveau- pflege“ fördern Steri- lität und Ineffizienz der Medizinerausbil- dung. Deutlich wird, dass vor allem über den viel gepriesenen

„Reformstudienplä- nen“, die dem „Har- vard-Modell“ und den Vorbildern von auslän- dischen Universitäten wie Maastricht folgen, ein Damoklesschwert schwebt. Bislang sind diese Reformstudiengänge, bei de- nen kleine Studentengruppen einen inte- grierten Unterricht erfahren, in dem die Fachgrenzen aufgelöst sind, noch nicht kapazitätsrelevant geworden. Möglicher- weise liegt das an der oft nur geringen Zahl Studierender in diesen Curricula, während die „Regelstudiengänge“ wei- terlaufen.

Die Tatsache, dass unter der derzeiti- gen Kapazitätsverordnung die Weiterent- wicklung der Lehre in der Medizin auf ganz enge Grenzen stößt, wird in der Dis- kussion über die Universitätsreform und die Reform des Medizinstudiums igno- riert. Der Wissenschaftsrat schlägt in sei- ner Denkschrift zum Hochschulzugang (2004) vollmundig, aber blauäugig vor, man solle doch einfach Reformklauseln benutzen, um Eliteausbildungen „in be- T H E M E N D E R Z E I T

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A3086 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 101⏐⏐Heft 46⏐⏐12. November 2004

Unter der derzeitigen Kapazitätsverordnung wird die Weiterentwicklung der Lehre, wird eine Reform des Medizinstudiums auf ganz enge Grenzen stoßen.

Foto:Peter Wirtz

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sonders engem Zusammenhang mit lei- stungsfähiger Forschung oder auch mit spezifischen Praxisbezügen“ zu gewähr- leisten. Angesichts der Rechtsprechung in Deutschland ist das wohl ein frommer Wunsch. Ebenso ungeeignet erscheint der Vorschlag, medizinische Fakultäten vollständig in Lehrfakultäten umzuwan- deln, während andere als Forschungsfa- kultäten eine geringere Studentenzahl aufnehmen dürften, möglicherweise nach anderen Auswahlkriterien. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte den Elitefakul- täten Sonderkonditionen machen wird.

In der Diskussion um „Elitestudiengän- ge“ wird man somit die Medizin verges- sen dürfen.

Es blieb allerdings nicht ganz verbor- gen, dass das derzeitige Zulassungsrecht ein Innovationshemmnis ist. Unter den Bundesländern wird daher seit Jahren erwogen, statt der vorklinischen Lehr- kapazität den „Kostennormwert“ (KNW) für die Kapazitätsberechnung in der Medizin heranzuziehen. Dabei handelt es sich um einen Pauschalbetrag, den die Länder den Universitäten für jede(n) auszubildende(n) Studierende(n) zu- weisen. Höhe der staatlichen Zuweisun- gen an die Fakultäten dividiert durch KNW ergibt die Lehrkapazität. Derzeit wird der KNW zwar in Baden-Württem- berg und in Hessen zur Verteilung der Mittel für Lehre verwendet. Es ist aber zu befürchten, dass er auf absehbare Zeit nicht zur Kapazitätsfestlegung her- angezogen werden kann. Zu groß ist die Angst, die Berechnung der Aufnahme- kapazität nach KNW-Wert würde zu ei- ner neuen Welle von Verwaltungsge- richtsprozessen führen, die sich wegen der derzeit meist höchst unklaren Ver- teilung der Landeszuschüsse innerhalb der Universitäten über Jahre hinziehen könnten.

Letztlich ist die Misere der medizini- schen Ausbildung die Bankrotterklärung einer einfallslosen Politik, die sich seit mindestens drei Jahrzehnten damit be- gnügt, das Bundesverfassungsgerichtsur- teil von 1972 fortzuschreiben, und die es versäumt hat, den Universitäten Rechts- sicherheit bei der einfachen Frage der Zahl der zuzulassenden Medizinstuden- ten zu geben. Dieser Zustand ist wohl ein Musterbeispiel für das, was man hierzu- lande „Reformstau“ nennt.

Eine Reform, die den Universitäten Rechtssicherheit gibt, erfordert mehr als nur eine Änderung der Kapazitätsver- ordnung. Zunächst müsste man die Ko- sten der Medizinerausbildung klar defi- nieren und von anderen Kosten der Uni- versitätskliniken und Institute abtrennen (so genannte Trennungsrechnung). Der Gedanke ist richtig, dass sich die Zulas- sungszahl nach den Landeszuschüssen an die Universitäten für diese Ausbildung richten muss (künftig eventuell ergänzt durch Einnahmen aus

Studiengebühren).

Der KNW-Wert darf aber nachvollziehbar nur die Zuwendung für die curriculare Lehre berücksichti- gen. Das bedeutet,

dass den Universitäten auch noch andere Mittel aus dem Staatshaushalt zufließen müssen, die der Finanzierung der For- schung und der forschungsbezogenen Lehre dienen. Das sind zum Beispiel Fortgeschrittenenseminare und -kurse, die der Ausbildung von Forschern dienen, also all dem, was sich Wilhelm von Hum- boldt einst als ausschließliche Lehraufga- be der Universitäten vorstellte. In der Ausstattung dieses „Küranteils“ der Mit- telzuweisungen können die Länder zei- gen,wie viel ihnen die Eliteförderung und die viel beschworene internationale Kon- kurrenzfähigkeit ihrer Universitäten wert ist. Erst wenn die Trennung der Kosten von Berufsausbildung und Forschung ge- lungen ist, macht es möglicherweise Sinn, von der Ausstattung von „Eliteuniversitä- ten“ oder „Elitestudiengängen“ zu reden.

Diese Kostentrennung wird allerdings nicht ohne eine Änderung des Besol- dungsrechts gelingen. Den Fakultäten muss zur Erfüllung ihrer Aufgaben größt- mögliche Flexibilität gegeben werden, in- dem ihnen nur global vorgeschrieben wird, wie viel des vom Staat finanzierten Personals in die curriculare Lehre ein- fließen muss. Die Arbeitsverträge der Hochschullehrer müssen dann individuell deren Anteil an der curricularen Lehre ausweisen. Wenn diese Arbeitsverträge flexibel gestaltet werden, wird es möglich sein, Hochschullehrer, die sich überwie- gend der Lehre widmen, von solchen zu unterscheiden, die sich überwiegend mit Forschung und/oder Krankenversorgung beschäftigen. Die Anteile sollten nicht ein

für alle Mal festgelegt werden, sondern sich nach Forschungs- und Lehrleistung verschieben können. Es kann nicht darum gehen, den früheren „Studienrat im Hochschuldienst“ als zweitklassigen Hochschullehrer wieder einzuführen, sondern man sollte den Fakultäten unter- halb einer Globalvorgabe größtmögliche Gestaltungsfreiheit für die kreative Orga- nisation der Lehre gewähren. Die Ände- rung des Dienstrechtes würde übrigens all diejenigen Verrenkungen und Ausreden beseitigen, die mit den derzeitigen ein- heitlichen Lehrde- putaten verbunden sind. Ein Professor, der zum Beispiel zur Ausgestaltung des Forschungsprofils einer Fakultät auf einen Lehrstuhl für

„Plasmidforschung“ berufen wird, kann auch bei gutem Willen keine acht oder neun Semesterwochenstunden curricula- re Lehre einbringen. Also wird er seine Forschungsseminare als Lehre ausgeben.

Ein Professor für Anatomie kann davon nicht einmal träumen. Er ist mit der curri- cularen Lehre meist weit über sein Depu- tat hinaus eingedeckt. Der Einwand, Pro- fessoren würden bei so viel Flexibilität al- lesamt nach reiner Forschung drängen, er- scheint unbegründet.Wenn es aber so wä- re, dann könnte man einen Schritt weiter gehen und den Lehranteil der Beschäfti- gung höher bezahlen als den Forschungs- anteil (das wäre eine Art Wiederkehr der früheren Lehrgelder,die es im Ausland oft noch gibt). Entscheidend ist aber, dass nur auf der Basis einer klaren Kostenrech- nung eine realistische Kapazitätsrech- nung gestaltet werden kann.

Derzeit erscheint die Verwirklichung dieser Vorschläge fast utopisch. Die Poli- tik kann es sich auf Dauer aber nicht lei- sten, in Untätigkeit das Gesetz des Han- delns den Gerichten allein zu überlassen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2004; 101: A 3082–3087 [Heft 46]

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Hermann O. Handwerker Studiendekan Medizin

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Physiologie & Experimentelle Pathophysiologie

Universitätsstraße 17 91054 Erlangen

E-Mail: handwerker@physiologie1.uni-erlangen.de T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 101⏐⏐Heft 46⏐⏐12. November 2004 AA3087

Die Politik kann es sich aber auf Dauer nicht leisten,

in Untätigkeit das Gesetz des Handelns den Gerichten

allein zu überlassen.

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