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Archiv "Roman: Eine Parabel über das Böse" (10.01.2011)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 108

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Heft 1–2

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10. Januar 2011 A 51 Nun ging der Literatur-Nobelpreis

wieder einmal nicht an ihn, und Pe- ter Handke wird sich vielleicht in seinem abschätzigen Urteil über den großen Philip Roth, „er sei letzten Endes nur ein Conferencier“ („Zeit“, Ausgabe 48/2010), bestätigt fühlen.

Aber die Roth-Gemeinde trauert zu Recht über eine vorenthaltene Eh- rung. Sie argwöhnt, dass Nemesis, die Göttin der Vergeltung, dem Ro- man, der ihren Namen trägt, entstie- gen sein könnte, um dem Autor Phi- lip Roth die Leviten zu lesen; hört er doch nicht auf, seinem gebeutelten Land eine Abfolge verstörender Ge- schichten zu erzählen, die alle im Mahlstrom von Verfall und existenzi - eller Sinnlosigkeit zu enden scheinen, während man sich sonst eifrig auf tea parties und in gläubigen Netzen um positive thinking und Erwe- ckung zum rechten Glauben bemüht.

Ein unwillkommener Bote der Düsternis

„Nemesis“ also – der neueste Ro- man von Philip Roth und der vierte in einer Reihe, die man jetzt als ein Quartett verstehen kann. Nemesis entfaltet sich hier aus der Handlung als eine absurde Schuldaneignung.

Zugleich hängt Nemesis wie ein Damoklesschwert über dem Roman und einem Autor, der dem Ameri- can dream nicht seine Reverenz er- weist und es in Kauf nimmt, als Bo- te der Düsternis nicht bejubelt und einem Komitee nicht vorgeschlagen zu werden. Nemesis mag schließ- lich auch als eine Parabel über das Böse gelesen werden: Wie aus dem Nichts tritt es in die Gesellschaft ein und verbreitet sich nach heim - tückischen Gesetzen, in seiner Ver- nichtungskraft unberechenbar.

Die Handlung spielt im Sommer 1944 im tropenheißen Newark und in den kühlen Hügeln der Poconos, USA. Bucky Cantor ist 23 Jahre alt, Sportlehrer, doch mit dem human stain schlechter Augen versehen, weshalb er zu seinem Leidwesen am Krieg nicht teilnehmen darf. So ist er in seinem Beruf nun ganz be-

sonders engagiert: immer hilfsbe- reit, kraftvoll, mutig, diszipliniert – perfektes Produkt der großväterli- chen Erziehung zur Härte. Als eine Polioepidemie ausbricht und schließ - lich auch die ihm anvertrauten Schüler erfasst, stellt er sich der Herausforderung wie ein Held.

Seiner Freundin Marcia gelingt es jedoch, ihm einen Job in ihrer Nähe in einem Ferienlager zu ver- schaffen – in den Hügeln der ver- meintlich poliosicheren Poconos, aber er folgt dieser Verlockung nur zaudernd und voller Schuldgefühle.

Doch macht die Krankheit auch vor dieser Fluchtburg nicht halt, und schließlich infiziert sich auch Bu- cky. Zum Schuldgefühl des Deser- teurs tritt nun das Schuldgefühl des Überträgers, und diese Schuldge- fühle lasten schwer auf ihm – und sind doch gänzlich unbegründet.

Mehr als 25 Jahre später begeg- net der Ich-Erzähler des Romans, ein ehemaliger Schüler von Bucky, seinem playground director zufällig

auf einer Straße in Newark. Er trifft auf einen körperlich und see- lisch ruinierten, zutiefst verbitterten Menschen, not just crippled physi- cally by polio but no less demoraliz - ed by persistent shame und umgeben von einer aura of ineradicable failure. Marcias Wunsch, sie trotz des schlim- men Krankheitsausgangs zu heiraten, hatte er damals hart zurückgewiesen, um der Zu- kunft seiner Freundin nicht die- se Last aufzubürden. Sein Le- ben ist jetzt zu einer einzigen Gottesanklage geronnen, sein Gott a sick fuck and an evil gen - ius. Gänzlich unvorstellbar ist ihm der Gedanke, die Epidemie sei nichts als eine Tragödie ge - wesen, desperately kann er ohne einen tieferen Grund, ohne eine Selbstbestrafung, ohne eine Schuld nicht leben; eine childish religious interpretation, wie der Erzähler anmerkt. Er kann es einfach nicht, es entspricht ihm nicht. Eine Leich- tigkeit des Seins ist ihm nicht möglich, Sorglosigkeit, Humor, Iro- nie etwa, sie sind ihm fremd, Pflichterfüllung hingegen ist ihm auf- erlegt, Schuld ihm unausweichlich zugewiesen, und sei ihre Herkunft noch so absurd. So könnte man auch sagen, in einer Umkehr von Camus’

Mythos: Man muss sich Bucky als einen Verdammten vorstellen.

Aus der Heiterkeit des Alltags

sickert Böses in die Welt

Der Roman schließt mit einer nos- talgischen Erinnerungspassage, in der uns Bucky in seinem Lebens- aufbruch noch einmal vor Augen tritt: der Athlet, Meister, Mentor.

Der unbesiegbare Held.

„Nemesis“ hat einen flüssigen, leichten Erzählduktus, der fast ein wenig plaudernd daherkommt. Hier könnte man tatsächlich an Handkes Conferencier denken. Es ist aber anders. Diese gelassene Erzählwei- se entspricht vollkommen dem In- halt. Aus der Heiterkeit eines All- tags sickert Böses in die Welt hin - ein und nimmt das Leben mit. Die Dramatik kauert hinter dem ruhigen Rapport. Wir erfahren von Hiob, im

Berichtmodus. ■

Walter-Friedrich Voss

ROMA N

Eine Parabel über das Böse

Philip Roth: Nemesis.

Hanser, München 2011, 224 Seiten, kartoniert, 18,90 Euro

K U L T U R

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