„Zehn Prozent mehr Studienplätze wären angebracht“
Das Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer über den Numerus clausus, die Landarztquote und die Zukunft des Medizinstudiums.
Das öffentliche Interesse am Medizinstudium ist groß. Aber bilden wir genügend Ärzte aus, und dann noch die richtigen?
Schulze: Derzeit bewerben sich vier bis fünf Abiturienten auf einen Studienplatz. Damit ist eine ge- rechte und zielgerichtete Auswahl natürlich nicht einfach. Der Arzt- beruf ist eine Mischung aus Natur- wissenschaft und heilkundlicher Aktivität. Dafür braucht man gute naturwissenschaftliche Kenntnis- se, aber auch sogenannte Soft Skills, wie Kommunikationsfähig- keit, soziale Kompetenz und emo- tionale Intelligenz. Und da liegt das Problem: Wie soll man die überprüfen? Noten hingegen sind reproduzierbar, man kann sie gut vergleichen und so die Besten aus- wählen.
Was bringen Auswahlgespräche, wie sie an einigen Fakultäten stattfinden?
Schulze: Sofern sie unstrukturiert er- folgen, handelt es sich um ein nicht gesichertes Vorgehen: aufwendig und nicht validiert. Ob die auf diese Weise ausgewählten Studierenden tatsächlich bessere Ärzte werden als die mit einem Abiturschnitt von 1,1 oder 1,0, ist nicht belegt.
Aber wie findet man die geeignetsten Bewerber?
Schulze: Wenn wir anerkennen, dass Soft Skills für den Arztberuf wichtig sind, dann brauchen wir auch eine verlässliche Erfassung dieser Faktoren. Das fällt enorm schwer, weil das Medizinstudium sowohl zum Theoretiker als auch zum Praktiker befähigt. Das ist ein breites Spektrum. Alle Bemühun-
gen, die bis jetzt dahin gehen, diese
„weichen“ Faktoren einzubeziehen, bilden eigentlich mehr Motivation und Leistungsbereitschaft ab. Wir haben aber dazu keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz. Diese ist aber dringend erforderlich, weil Auswahlverfahren einen großen Aufwand für die Fakultäten bedeu- ten. Wir sollten die Ergebnisse der über strukturierte Auswahlgesprä- che zugelassenen Kohorten abwar- ten, die zurzeit an einigen Fakultä- ten laufen. Heute steht lediglich fest: Eine gute Abiturnote befähigt zu einem guten Medizinabschluss.
Trotzdem gibt es Rufe, den Numerus clausus (NC) abzuschaffen.
Schulze: Das ist absolut abzuleh- nen. Wir würden damit die einzige metrische und bundesweit vergleich- bare Auswahlmethode aus der Hand geben.
Dass sich Studenten mit sehr gutem Abitur besonders häufig gegen eine kurative ärztliche Tätigkeit entscheiden, ist nicht erwiesen. Werden hier Themen vermischt, die nichts miteinander zu tun haben?
Schulze: Besonders im Rahmen der Diskussionen um den Ärztemangel auf dem Lande wird oft gesagt, dass wir Leute auswählen sollen, die pri- mär Landarzt oder Allgemeinarzt werden wollen, auch wenn sie sich mit schlechteren Ergebnissen im Abitur bewerben. Ob ein solches Vorgehen erfolgversprechend wäre, ist nicht belegt. Das sind vorschnel- le Vorschläge von Politikern, die
INTERVIEW
mit Prof. Dr. med. habil. Jan Schulze, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer
Fotos: Svea Pietschmann
A 1966 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 41|
15. Oktober 2010P O L I T I K
A 1968 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 41|
15. Oktober 2010 Prof. Dr. med. habil. Jan Schulze(67) ist Präsident der Sächsischen Landesärztekammer und Vor - sitzender des Ausschusses „Aus - bildung zum Arzt/Hochschule und Medizinische Fakultäten“ der Bundesärztekammer. Mit der Hoch- schulmedizin ist der Internist und Endokrinologe bestens vertraut:
Viele Jahre arbeitete er am Univer- sitätsklinikum in Dresden.
ZUR PERSON
die Gesamtverhältnisse nicht aus- reichend einschätzen können. Sie sollten uns nicht veranlassen, klare Erkenntnisse fallenzulassen.
Eine Landarztquote halten Sie also nicht für zielführend?
Schulze: Nein, eine so weitreichen- de Festlegung des gesamten späteren Berufs- und Lebenswegs überfor- dert junge Menschen schlichtweg.
Das zeigen auch die Erfahrungen in Sachsen, wo junge Kollegen in der Allgemeinmedizin in einem um- fangreichen Programm über mehre- re Jahre mit Stipendien gefördert werden. Die Beteiligung ist immer weiter zurückgegangen, weil sich die Studenten im Studienverlauf noch nicht für eine Berufsqualifika- tion festlegen wollen.
Sollte man die Zahl der Studienplätze erhöhen?
Schulze: Ja, wenn man die Diskus- sion um den Ärztemangel ernst nimmt, und die Ärzteschaft nimmt ihn ernst. Die Krankenkassen spre- chen zwar immer von Zahlentrick- sereien: Es seien zu viele Ärzte an den falschen Stellen. Aber ich glau- be, das kann man nicht sagen. Wir müssen feststellen, dass etwa zehn Prozent unserer Absolventen in nichtkurative Bereiche gehen. Eine moderate Anhebung der Medizin- studienplätze um eben diese zehn Prozent wäre deshalb angebracht.
Allerdings müssen die teuren Medi- zinstudienplätze auch realisiert werden. Es bedarf dazu definitiver finanzieller Mittelzuführung der Länder an die medizinischen Fakul- täten. Auf jeden Fall müssen alle deutschen Fakultäten erhalten wer- den – alle 36.
Die Fakultät in Lübeck wäre fast dem Sparpaket des Landes Schleswig- Holstein zum Opfer gefallen. Inwieweit ist der Bund bei der Finanzierung des Medizinstudiums gefragt?
Schulze: Für die traditionsreiche und qualitativ gut beleumundete Medizinische Fakultät Lübeck ist letztendlich der Bund indirekt ein- gesprungen. Das kann auch noch in anderen Fällen nötig werden, und ja – eine Bundesverantwortlichkeit ist da durchaus gegeben.
Als ein Grund für den Ärztemangel wird manchmal eine hohe Abbrecherquote beim Medizinstudium angeführt. Ist diese Zahl tatsächlich so hoch?
Schulze: Die Quote liegt zwischen drei und fünf Prozent. Diese Zahl ist gut gesichert und über die deut- schen Fakultäten gemittelt. Leipzig hat zum Beispiel nur 1,8 Prozent Abbrecher. Das ist fantastisch.
Auch im Vergleich zu anderen Stu- dienfächern ist die Quote bei der Medizin eher niedrig.
Viele Studierende wünschen sich eine stärkere Verzahnung von Klinik und Vorklinik. Die Approbationsordnung aus dem Jahr 2002 geht in diese Richtung.
Wie steht es mit der Umsetzung?
Schulze: Bis ein solcher Wechsel an allen Fakultäten realisiert ist, dauert es. Die neue Approbationsordnung ist noch nicht hundertprozentig um- gesetzt, aber man ist auf einem guten Weg. Für die Zukunft brauchen wir außerdem einen nationalen kompe- tenzbasierten Lernzielkatalog. Dar - an wird zurzeit gearbeitet, auch die Bundesärztekammer ist beteiligt.
Während der studentischen Ausbildung steht immer noch der stationäre Be- reich im Vordergrund. Wie kann man die Studierenden frühzeitig für die am- bulante Versorgung interessieren?
Schulze: Wir brauchen an allen 36 Fakultäten einen Lehrbeauftragten oder eine Professur für Allgemein- medizin. Diese haben dann die Auf- gabe, Lehrpraxen im Umfeld der Fakultäten zu koordinieren und die akademische Lehrpraxentätigkeit auf ein hohes Niveau zu führen. Die Hauptverantwortung müssen jedoch die medizinischen Fakultäten haben.
Sie müssen überblicken, wer wo was macht. Weitere Möglichkeiten, sich im Studium im Rahmen von Fa- mulaturen, Praktika oder im prakti- schen Jahr im ambulanten Sektor zu betätigen, sind breit gegeben.
Stichwort PJ – sollte die Allgemein - medizin ein Pflichtfach werden?
Schulze: Nein. Die PJ-Tertiale ent- halten ein Wahltertial Allgemein- medizin. Bestrebungen, das PJ zu vierteln und einen Pflichtteil All - gemeinmedizin festzuschreiben, hat der Deutsche Ärztetag abgelehnt.
Sollte man die Hochschulambulanzen für die ambulante Versorgung öffnen?
Schulze: Ein ganz klares Ja. Ich denke, es kann nicht sein, dass nur die Problemfälle in die Universi- tätspoliklinik gehen dürfen. Lehre braucht auch einfache Fälle. Der Wissenschaftsrat hat das gerade deutlich unterstrichen.
Was halten Sie vom Bachelor-Master- System in der Medizin?
Schulze: Der Druck, auch die Me- dizin umzustellen, ist nach wie vor da, obwohl es schon eine gewisse
„Bologna-Ernüchterung“ gibt. Al- lerdings brauchen wir keinen Ba- chelor und Master in der Medizin.
Die Anerkennung der Abschlüsse ist bereits durch eine EU-Richtlinie gewährleistet. Wenn wir jungen Kollegen die Möglichkeit bieten wollen, modifizierte Bachelorwege zwischen Biologie, Soziologie und Medizin zu gehen, darf das nur au- ßerhalb des Kontingents für die Medizin realisiert werden. ■ Das Interview führten Dr. med. Birgit Hibbeler und Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann.