• Keine Ergebnisse gefunden

U Sonst war’s ruhig

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "U Sonst war’s ruhig"

Copied!
1
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

nbegreiflich, dass etwas so Irrelevantes und Ärgerliches wie Statistik unser Leben derart beherrscht. Dass eine Wissenschaft, die Er- gebnisse, die ihr nicht passen, löscht, «Ausreisser» ein- fach streicht, als seriös angesehen wird. Obwohl wir ständig miterleben, dass sich die Auguren irren (der Wald ist nicht gestorben, die Gletscher sind nicht ge- schmolzen), beeinflussen ihre nicht zutreffenden Orakel die Budgetmacher und damit unser aller Schicksal auf das Übelste. Falls sie sich aber einmal nicht irren, sondern wichtige und richtige Vorraussagen machen, ziehen die Gemeinde-, Stadt- und Landesväter und -mütter nicht die nötigen Konsequenzen daraus. So geschehen in unserer Agglo. Zwar liessen die demo- grafischen Zahlen klar erkennen, dass die Alten expo- nentiell zunehmen und die Kinder immer weniger werden. Doch die Gemeinde baute ein riesiges Primarschulhaus statt ein zweites Altersheim … Die zuständigen Politiker liessen sich dann in der Lokal- presse loben, dass sie im einen Flügel des leer stehenden Schulgebäudes eine Alterstagesklinik improvisierten. Demente Oldies müssen dort unter liebevoller geriatriepflegerischer Aufsicht Flechtblätter und Traumringe basteln, zusammen singen und essen, bevor sie ein Spezialbus abends nach Hause bringt.

Dort sorgen Benzodiazepine dafür, dass nur jede(r) Dritte seine Tag-Nacht-Umkehr auslebt, stürzt, einnässt oder herumirrt. Wir Hausärzte wissen sehr genau, was statistische Berechnungen mit unserem Einkommen und Zukunftschancen gemacht haben. Obwohl die Statistik warnt, dass jeder zweite Hausarzt über 50 ist (was beim Schreibenden zutrifft) und ganzen Land - strichen Grundversorgerlosigkeit droht, wird der Beruf immer unattraktiver gemacht, wie unter anderem die Managed-Care-Initiative beweist. Mediziner sind sta- tistikgläubig. Nur Psychologen sind noch schlimmer.

Bei ihnen wird das Abschneiden in Statistikprüfungen als Numerus clausus eingesetzt. Ganze Jahrgänge werden so von empathischen, feinfühligen jungen

Studienanfängern «gereinigt», die es nicht so mit Zahlen, Bruchrechnen und Käslidiagrammen haben.

Eiskaltes Kalkül! Keine Medizinerfortbildung ohne Epidemiologieblock am Anfang. In der Praxis sitzt man dann aber Menschen gegenüber. «Und wenn ich zu den 10 Prozent gehören sollte?», fragt der Patient, dem man gerade die 90-prozentige Heilungschance der Operation verkündet hat, die bei ihm gemacht werden muss. Tja. Hmmm. Auch die Frau mit Spon- dylitis ankylosans und der Mann mit der Borderline- Störung tröstet es nicht, dass sie genderbedingt eigentlich gar nicht an diesen Leiden hätten erkranken dürfen. Tapfer wehren sich wenigstens die Apotheker gegen die Statistisierung. Wer zu ihren Fortbildungen als Referent eingeladen werden will, muss vorher zu - sichern, sich ausschliesslich auf die Themen Sympto- matik, Indikation der Medikation, Kontraindikationen, Wirkungen, unerwünschte Wirkungen, Galenik und Verabreichung zu beschränken. «So haben wir es geschafft, dass die Ärzte nur noch 3 Epidemiologie- dias bringen statt 20!», schmunzelt Matthias, einer der Briefing-Apotheker von Pharma Suisse. Meisterhaft geht mein Kollege Johannes mit Zahlengräueln um.

Kürzlich frühstückte ich mit ihm. Nach einem Horror- nachtdienst voller Zwangsmedikationen, fürsorge - rischen Freiheitsentziehungen und Notfallhospitali - sationen. Noch immer geschockt, klagte ich ihm die grässlichen Ereignisse der Nacht. Er hörte aufmerksam zu, nickte, fragte nach, lobte meine diagnostischen und therapeutischen Heldentaten. Strahlte eine wunder- bare Ruhe aus. Nur schon wie er behaglich seinen Kaf- fee genoss, sein Gipfeli mit Anke und Gonfi bestrich, entspannte mich besser als jedes Benzo oder Jacob- son Himself. Als ich – erschöpft von der eigenen kasuistischen Logorrhö – zur Kaffeetasse griff, sagte er mit samtigem Bariton, gütigem Lächeln und strahlen- den vergissmeinnichtblauen Augen: «Und sonst war es ruhig?» Ja. Tatsächlich. Sonst war die Nacht ruhig ge- wesen. Mindestens 35 bis 67 Minuten von 12 Stunden.

Wir brüllten gleichzeitig los vor Lachen.

Sonst war’s ruhig

ARSENICUM

U

MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

360

ARS MEDICI 8 2012

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Die treuesten Anhänger Großbritanniens finden sich bei den Wählern der Grünen: Ganze 85 Prozent wollen das Land in der EU halten.. Die Anhänger der CDU/CSU und der SPD liegen mit

Weil heute immer mehr Menschen im Internet einkaufen, wird man solche Orte in Zukunft weniger oder vielleicht auch gar nicht mehr benö- tigen?. Das hat gravierende Folgen für

Allerdings sollte man nicht übersehen, dass Katar, die VAE oder die Arabi- sche Liga zwar so manche arabische Revolution unterstützen, in anderen Fäl- len aber weit weniger bereit

Poli tische Blockaden, Abstimmungen in letzter Minute, Unsicherheiten über zukünftige Regulierungen oder gar die Aussicht, dass große Reformen nach einer Wahl wieder

Selbst wenn der Iran sich zur Es- kalation entscheiden sollte, sind sich die Befürworter eines Militärschlags sicher, dass der Westen iranische Ge- genangriffe abwehren

Koffein ist nicht nur in Kaffee, sondern auch in Tee enthalten, allerdings ist es dort an Poly- phenole gebunden und wird da- durch erst im Darm aus den Blättern gelöst.. Im

Formen der Alopezie Nach ihrer Ursache, beziehungsweise nach ih- rem Erscheinungsbild werden der erblich bedingte (androgenetische Alopezie), der kreisrunde und der diffuse

September 2019 jeden dritten Freitag im Monat von 16 bis 18 Uhr die Möglichkeit in dem Kurs „Geht nicht- Gibt’s