• Keine Ergebnisse gefunden

Kern- und Teilchenphysik in Osterreich ¨

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Kern- und Teilchenphysik in Osterreich ¨"

Copied!
52
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Kern- und Teilchenphysik in Osterreich ¨

Fachausschuss Kern- und Teilchenphysik der Osterreichischen Physikalischen Gesellschaft ¨

M¨ arz 2011

(2)
(3)

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 3

1.1 Was ist der Ursprung der Masse? . . . 5

1.2 Warum gibt es mehr Materie als Antimaterie? . . . 6

1.3 Gibt es eine vereinheitlichte Beschreibung aller Fundamentalkr¨afte? . . . 6

1.4 Was ist die dunkle Materie im Universum? . . . 7

1.5 Gibt es mehr als drei Raumdimensionen? . . . 7

2 Status von Astro-, Kern- und Teilchenphysik 8 2.1 Standardmodell . . . 8

2.2 Neutrinophysik . . . 10

2.3 Flavourphysik . . . 11

2.4 Quantenchromodynamik und Confinement . . . 12

2.5 Hadronphysik . . . 13

2.6 Nukleare Astrophysik . . . 15

2.7 Gravitation . . . 16

2.8 Suche nach dunkler Materie . . . 17

2.9 Kosmische Strahlung . . . 18

2.10 Kosmologie . . . 19

3 Osterreichische Arbeitsgruppen¨ 20 3.1 Institut f¨ur Hochenergiephysik, ¨Osterreichische Akademie der Wissenschaften, Wien 20 3.1.1 Das CMS-Experiment am CERN . . . 20

3.1.2 Belle am KEK . . . 21

3.1.3 Theorie . . . 21

3.1.4 Experimentelle Methodik . . . 22

3.1.5 Industrie-Kooperationen . . . 22

3.1.6 Offentlichkeitsarbeit . . . .¨ 22

3.1.7 Zentrum f¨ur Atomare und Subatomare Physik . . . 22

3.2 Arbeitsgruppe Teilchenphysik, Fakult¨at f¨ur Physik, Universit¨at Wien . . . 23

3.2.1 Beschleuniger- und Jet-Physik . . . 23

3.2.2 Chirale St¨orungstheorie . . . 23

3.2.3 Neutrinophysik . . . 24

3.2.4 Supersymmetrie . . . 24

3.2.5 Quantenfeldtheorie . . . 24

3.2.6 Pr¨azisionsmessungen . . . 24

3.2.7 Tests quantenmechanischer Grundlagen in der Teilchenphysik . . . 25

3.3 Arbeitsgruppe Mathematische Physik, Fakult¨at f¨ur Physik, Universit¨at Wien . . . 25

3.3.1 Deformationen von Quantenfeldtheorien . . . 25

3.3.2 Quantenfeldtheorie auf nichtkommutativen Raumzeiten . . . 25

3.3.3 Renormierungsfragen . . . 26

3.3.4 Eichtheorien und Gravitation . . . 26

3.4 Arbeitsgruppe Fundamentale Wechselwirkungen, Institut f¨ur Theoretische Physik, Technische Universit¨at Wien . . . 26

3.4.1 Stringtheorie . . . 27

3.4.2 Quantenfeldtheorie bei extremen Bedingungen . . . 27

(4)

3.4.3 Gravitation . . . 28

3.4.4 Nichtkommutative Feldtheorien . . . 28

3.4.5 Offentlichkeitsarbeit . . . .¨ 28

3.5 Atominstitut, Technische Universit¨at Wien . . . 28

3.5.1 Forschungsbereich Kern- und Teilchenphysik . . . 29

3.5.2 Forschungsbereich Pr¨azisionsspektroskopie von Kern¨uberg¨angen, Nukleare Atomuhr . . . 30

3.5.3 Forschungsbereiche Strahlenphysik, Strahlenphysik im Weltraum, Radiochemie 31 3.5.4 Forschungsbereich Neutronen- und Quantenphysik . . . 32

3.6 Stefan-Meyer-Institut, ¨Osterreichische Akademie der Wissenschaften, Wien . . . . 32

3.6.1 Uberpr¨¨ ufung der CPT-Symmetrie . . . 33

3.6.2 Hadronphysik . . . 33

3.6.3 Antiprotonen bei FAIR . . . 34

3.6.4 Zukunftsweisende Experimentiertechniken . . . 34

3.7 Arbeitsgruppen Isotopenforschung und Kernphysik, Fakult¨at f¨ur Physik, Universit¨at Wien . . . 34

3.7.1 Vienna Environmental Research Accelerator . . . 35

3.7.2 Aktuelle Forschungsprojekte . . . 35

3.8 Fachbereich Theoretische Physik, Institut f¨ur Physik, Karl-Franzens-Universit¨at Graz 36 3.8.1 Hadronphysik . . . 36

3.9 Arbeitsgruppe Teilchenphysik, Institut f¨ur Astro- und Teilchenphysik, Leopold- Franzens-Universit¨at Innsbruck . . . 37

3.9.1 Test und Ph¨anomenologie der Theorie der starken Kr¨afte . . . 38

3.9.2 Physik der B-Hadronen . . . 38

3.9.3 Software-Entwicklung und Validierung von Daten f¨ur das ATLAS-Experiment 38 3.9.4 Mitwirkung am Betrieb einer weltweiten GRID-Struktur f¨ur die Analyse der LHC-Daten . . . 38

4 Internationale Beteiligungen 38 4.1 Osterreich am Kernforschungszentrum CERN, Genf¨ . . . 38

4.1.1 Experimente am Large Hadron Collider (LHC) . . . 39

4.1.2 ”Fixed-Target“-Programm am Super-Proton Synchrotron (SPS), NA48 . . 39

4.1.3 ”Fixed-Target“-Programm am Proton Synchrotron (PS), n TOF . . . 40

4.1.4 Weitere Experimente und Projekte . . . 40

4.1.5 Beschleunigeraktivit¨aten am CERN . . . 41

4.1.6 Theorieabteilung des CERN . . . 41

4.1.7 Das ¨osterreichische Doktorandenprogramm am CERN . . . 41

4.2 Osterreich an der europ¨¨ aischen Neutronenquelle ILL, Grenoble . . . 42

4.3 Pl¨ane ¨Osterreichs am FAIR, Darmstadt . . . 43

4.4 European Centre for Theoretical Studies in Nuclear Physics and Related Areas (ECT), Trento . . . 44

(5)

1 Einleitung

Das Bestreben des Menschen, die Natur zu verstehen und, wenn m¨oglich, zu beeinflussen, hat ihn nach kleinsten Bausteinen der Materie und den zwischen ihnen wirkenden Kr¨aften suchen lassen.

Dieser Ansatz hat sich als erstaunlich fruchtbar erwiesen. Die in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts entwickelte Quantenmechanik hat gezeigt, dass im Mikrokosmos Naturgesetze herr- schen, die der menschlichen Alltagserfahrung widersprechen. Eine dieser Erkenntnisse aus der Quantenmechanik ist von zentraler Bedeutung f¨ur die Suche nach den kleinsten Bausteinen und besagt, dass zum Vordringen in kleinste Dimensionen h¨ochste Energien erforderlich sind. Das kann so verstanden werden, dass energiereiche Teilchen als Sonden kleinste Strukturen abtasten k¨onnen, und dass bei der Kollision energiereicher Teilchen aus deren Energie bisher unbeobachtete Teilchen neu geschaffen und auf ihre Eigenschaften hin untersucht werden k¨onnen.

Die f¨ur solche Prozesse erforderlichen Energien waren allerdings zun¨achst mit technischen Mit- teln nicht erreichbar. Von ganz enormer Bedeutung war daher die Entdeckung der kosmischen Strahlung durch den ¨Osterreicher Victor Franz Hess im Jahre 1912: durch Jahrzehnte war sie die einzige Quelle hinreichend energiereicher Teilchen, die es gestattete, in Stoßprozessen auch tats¨achlich die Existenz bisher unbekannter Elementarteilchen neben den Kernbausteinen Proton und Neutron und den Elektronen der Atomh¨ullen nachzuweisen. Die Entdeckung der kosmischen Strahlung durch Hess gilt daher als Beginn der modernen Teilchenphysik in ihrer heutigen Form als”Hochenergiephysik“ und

”Astroteilchenphysik“. Sie wurde 1936 durch die Verleihung des No- belpreises an Victor Franz Hess gew¨urdigt.

Ganz allgemein war der Beitrag ¨osterreichischer Wissenschaftler zur Erforschung der atoma- ren und subatomaren Welt in der ersten H¨alfte des vorigen Jahrhunderts herausragend: Erwin Schr¨odinger erhielt 1933 den Nobelpreis f¨ur Physik f¨ur seine fundamentalen Beit¨age zur Quanten- mechanik, Wolfgang Pauli im Jahr 1945 f¨ur die Entdeckung des nach ihm benannten Ausschlie- ßungsprinzips.

Auf dieser Tradition aufbauend, konnten auf dem Gebiet der atomaren und subatomaren Physik und ihrer theoretischen Grundlagen bis in die neueste Zeit von ¨osterreichischen Forschern zahlreiche bahnbrechende Ergebnisse erzielt werden. Genannt seien hier als Beispiele die Experimente zur Neutroninterferometrie von Helmut Rauch, die Entwicklung der Supersymmetrie durch Julius Wess (gemeinsam mit Bruno Zumino) und ein nach ihm benanntes Modell der Quantenfeldthorie von Walter Thirring.

Bemerkenswert ist der Beitrag von ¨osterreichischen Wissenschaftlerinnen, besonders im Bereich der Kernphysik: Marietta Blau und Hertha Wambacher entdeckten 1937 in Photoplatten, die am Innsbrucker Hafelekar der kosmischen Strahlung ausgesetzt worden waren, erstmalig den Prozess der Kernzertr¨ummerung, Lise Meitner teilte 1938 mit Otto Hahn die Entdeckung der Kernspaltung, Berta Karlik konnte gemeinsam mit Traude Cless-Bernert 1943 das Element Astat in nat¨urlichen Zerfallsreihen nachweisen.

Erst nach dem 2. Weltkrieg war man dann in der Lage, Beschleunigeranlagen zu bauen, in denen nun systematisch Experimente mit Teilchenstrahlen genau bekannter Art und Energie durchgef¨uhrt werden konnten, sodass Experimente mit der kosmischen Strahlung damals in den Hintergrund traten. Aus technischen Gr¨unden wachsen allerdings die Dimensionen und die Komplexit¨at der Beschleunigeranlagen mit steigender Energie enorm an, sodass Bau und Betrieb solcher Beschleu- niger und die dort ausgef¨uhrten Experimente als Großprojekte mit internationaler Beteiligung durchgef¨uhrt werden. Ein leuchtendes Beispiel einer solchen mittlerweile weltweiten Zusammen- arbeit ist das europ¨aische Forschungszentrum f¨ur Kern- und Teilchenphysik CERN in Genf, zu dessen Mitgliedsl¨andern ¨Osterreich seit 1959 geh¨ort. Die Experimente des CERN haben ganz we-

(6)

sentlich dazu beigetragen das so genannte Standardmodell der Teilchenphysik zu entwickeln, das alle bisher beobachtbaren subnuklearen Vorg¨ange mit eindrucksvoller Pr¨azision beschreibt. Diese Erkenntnisse stellen zugleich die moderne Kernphysik vor die Herausforderung, das Verhalten der Kernbausteine innerhalb des Standardmodells zu beschreiben.

Auch in der Beschleunigertechnik gab es wichtige Beitr¨age ¨osterreichischer Forscher: So wurde das Konzept der Elektron-Positron-Beschleuniger vom ¨Osterreicher Bruno Touschek entwickelt.

Neben einigen kleineren derartigen Beschleunigern wie etwa ADA (

”Anello d’Accumulazione“) im italienischen Forschungszentrum Frascati entsprach diesem Schema auch der große Elektron- Positron-Beschleuniger (LEP) des CERN.

Eines der wichtigsten CERN-Experimente war der Nachweis der W- und Z-Bosonen, die vom Standardmodell der elektroschwachen Wechselwirkung vorhergesagt worden waren, wof¨ur dann 1984 der Nobelpreis an Carlo Rubbia und Simon van der Meer verliehen wurde. An diesen Experi- menten war das Institut f¨ur Hochenergiephysik der ¨Osterreichischen Akademie der Wissenschaften mit dem Bau und Betrieb wesentlicher Detektorelemente und der Analyse der Daten beteiligt.

Die technologischen Spitzenleistungen, die bei Bau und Betrieb eines Großbeschleunigers und der Detektoren erforderlich werden, haben zu einer Vielzahl von Anwendungen außerhalb der Teil- chenphysik, besonders in der Medizin und Informationstechnologie gef¨uhrt. So entsteht z. B. in Wiener Neustadt das MedAustron, ein speziell auf die Strahlentherapie ausgerichtetes Beschleuni- gersystem.

Neben CERN gibt es weitere internationale Forschungszentren mit ¨osterreichischer Kern- und Teilchenphysikbeteiligung. So war z. B. die Teilnahme am Belle-Experiment am KEK in Japan sehr erfolgreich: die dort gemessene Verletzung der Zeitumkehrinvarianz war die endg¨ultige Best¨atigung der Theorie von Kobayashi und Maskawa, die 2008 mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet wurde.

Am DAFNE-Beschleuniger in Frascati beteiligten sich Wissenschaftler des Stefan-Meyer-Instituts am SIDDHARTA-Experiment zur Untersuchung von kaonischem Wasserstoff. Das Atominstut der Technischen Universit¨at Wien f¨uhrt Hochpr¨azisionsmessungen an Neutronen am Institut Laue- Langevin (ILL) in Grenoble durch.

Eine zentrale Vorhersage des Standardmodells, n¨amlich die Existenz des so genannten Higgs- Teilchens, konnte mit den bisherigen Beschleunigern noch nicht best¨atigt werden. Die Suche nach diesem Teilchen stellte ein wichtiges Motiv f¨ur den Bau des großen Hadron-Beschleunigers (LHC) im CERN dar, der 2009 seinen Betrieb aufgenommen hat. Dar¨uber hinaus erwartet man mit dem LHC Hinweise auf Ph¨anomene zu erhalten, die ¨uber die Vorhersagen des Standardmodells hinausgehen, wie die Frage nach dem Ursprung der Masse, die Frage nach einem gemeinsamen Ursprung aller Naturkr¨afte einschließlich der Schwerkraft, und schließlich die Frage, ob unsere Welt in mehr als den drei Raumdimensionen und der Zeit beschrieben werden muss.

In zunehmendem Maße ber¨uhren die Fragestellungen der Kern- und Teilchenphysik in letzter Zeit jene der Kosmologie und der Astrophysik. Dies einerseits wegen der Analogien zwischen dem Urknall und den Teilchenkollisionen in den Großbeschleunigern (in beiden F¨allen wandelt sich Energie in Materie um). Andererseits sind die Elementarteilchen in der Astrophysik nicht mehr vorrangig Objekte der Forschung, sondern sie dienen auch als Boten aus weit entfernten Teilen des Kosmos und geben so Hinweise auf dessen Entstehung und Entwicklung. ¨Osterreich ist seit 2009 Mitglied des

”European Southern Observatory“ (ESO), das ein h¨ochst leistungsf¨ahiges Sy- stem von Teleskopen in Chile betreibt. Das neu geschaffene Institut f¨ur Astro- und Teilchenphysik der Universit¨at Innsbruck ist an hochaktuellen internationalen Projekten zur Untersuchung hoch- energetischer kosmischer Gammastrahlen mit terrestrischen Anlagen und Satellitenexperimenten beteiligt.

Nachdem im Jahr 2010 die Datennahme am LHC erfolgreich begonnen hat, sehen die Teil-

(7)

chenphysiker weltweit nun mit h¨ochstem Interesse den Ergebnissen entgegen, die das physikalische Weltbild ganz entscheidend pr¨agen werden. Neben der Teilchenphysik an den Großbeschleunigern und Hochpr¨azisionsmessungen wird die Astroteilchenphysik mit ihren Erkenntnissen entscheidend dazu beitragen, die geheimnisvollen R¨atsel, die uns noch vom Verst¨andnis der Vorg¨ange im Kosmos trennen, zu l¨osen.

Die wichtigsten Fragen

1.1 Was ist der Ursprung der Masse?

Die Massen der Materieteilchen (Quarks und Leptonen) sowie der Austauschteilchen der Funda- mentalkr¨afte (Photon, W+-, W- und Z0-Boson) sind heute zum ¨uberwiegenden Teil mit hoher Genauigkeit experimentell bestimmt.

Das Photon besitzt keine Masse. Diese Tatsache l¨asst sich durch die so genannte Eichsymmetrie der elektromagnetischen Wechselwirkung erkl¨aren. Ebenso kann man die großen Massen der W- und Z-Teilchen durch die spontane Brechung der elektroschwachen Eichsymmetrie verstehen. Die Massen der elektrisch geladenen Leptonen (Elektron, Myon, Tauon) sind sehr pr¨azise gemessen.

Von den neutralen Leptonen (den in drei verschiedenenen Typen auftretenden Neutrinos) kennt man die absoluten Gr¨oßen ihrer Massen zwar noch nicht, man weiß jedoch, dass diese sehr klein sein m¨ussen. Aus Neutrino-Oszillationsexperimenten konnten außerdem die Differenzen der Mas- senquadrate der drei Neutrinos bestimmt werden. Obwohl Quarks nicht als freie Teilchen, sondern nur in Hadronen gebunden auftreten, k¨onnen ihre Massen durch ein kompliziertes Zusammenspiel von Theorie und Experiment gut bestimmt werden.

Die Massen der aus drei Quarks aufgebauten Kernbausteine (Nukleonen) Proton und Neutron sind sehr genau bekannt. Nun tragen aber die Quarkmassen nur mit einem Anteil von wenigen Prozent zur Gesamtmasse der Nukleonen bei. Der Hauptanteil ist Bindungsenergie aufgrund der starken Wechselwirkung. Die Quantenchromodynamik (QCD) beschreibt die starke Wechselwir- kung durch Austausch von Gluonen und erlaubt im Prinzip, den Hauptanteil der Nukleonmasse zu erkl¨aren. Wieder spielt hier die spontane Brechung einer Symmetrie, der so genannten chira- len Symmetrie der QCD, eine zentrale Rolle. Dieses theoretische Bild wird durch immer pr¨azisere Gittereichrechnungen gest¨utzt.

V¨ollig ungekl¨art sind aber die folgenden Fragen: Wieso ist das Elektron gerade 1836-mal leichter als das Proton? Wieso beschert die Natur dem Elektron einen 207-mal schwereren Zwilling, das Myon? Als ob das noch nicht genug w¨are, gesellt sich auch noch das 3477-mal schwerere Tauon in diese Reihe geladener Leptonen. Wieso sind dagegen die Massen der Neutrinos so viel kleiner als jene ihrer geladenen Verwandten? Bei den Quarks sind die Massenunterschiede ebenfalls gewaltig:

So liegen zwischen den Massen der leichten up- und down-Quarks und der Masse des top-Quarks mehr als vier Gr¨oßenordnungen.

Das Standardmodell der Teilchenphysik verkn¨upft die Massen von Quarks und Leptonen mit einem Feld, das gleichsam ein Hintergrundfeld des Universums ist. Das damit verbundene Ele- mentarteilchen ist das viel gesuchte Higgs-Teilchen. Sein experimenteller Nachweis w¨urde eine Art Schlussstein im Bauwerk des Standardmodells sein. Allerdings erkl¨art auch diese Theorie nicht, woher die individuellen St¨arken der Kopplungen der Quarks und Leptonen an das Higgs-Feld und damit die experimentell gemessenen Werte der Quark- und Leptonmassen kommen. So wird die Frage nach deren Massen wieder um eine Stufe weiter verschoben. Derzeit geh¨oren also diese Massenwerte zur Liste der Naturkonstanten, f¨ur deren Zahlenwerte noch keine Erkl¨arung vorliegt.

Solch eine Erkl¨arung ist nur durch Physik jenseits des Standardmodells m¨oglich.

(8)

1.2 Warum gibt es mehr Materie als Antimaterie?

Experimentelle Ergebnisse zeigen, dass heute das gesamte Universum (und nicht bloß unsere Gala- xie) aus Materie besteht und kaum aus Antimaterie. Gleichzeitig zeigen Beschleunigerexperimente bei ¨ahnlichen Energien wie im fr¨uhen Universum, dass Teilchen und Antiteilchen im gleichen Verh¨altnis erzeugt werden. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Teilchenphysik und der Kos- mologie, diese Diskrepanz zu erkl¨aren. In Erkl¨arungsans¨atzen f¨ur diese

”Baryon-Asymmetrie“ spielt die Verletzung der CP-Symmetrie eine wichtige Rolle, wobei man unter CP-Transformation die Ver- tauschung von Teilchen und Antiteilchen und die darauffolgende r¨aumliche Spiegelung versteht.

CP-Verletzung wurde experimentell bereits in schwachen Zerf¨allen von Kaonen und B-Mesonen beobachtet. Allerdings reicht diese heute bekannte CP-Verletzung bei weitem nicht aus, um die Dominanz der Materie im Universum zu erkl¨aren. Gibt es neue Arten von CP-Verletzung bei ho- hen Energien, im Leptonsektor, oder sogar in der starken Wechselwirkung? Ein Beispiel f¨ur eine

¨

außerst sensitive Messgr¨oße zur Suche nach CP-Verletzung durch neue Physik ist das elektrische Dipolmoment des Neutrons.

1.3 Gibt es eine vereinheitlichte Beschreibung aller Fundamentalkr¨afte?

Das Standardmodell der Teilchenphysik, das in seinen Grundz¨ugen bereits Anfang der 1970er Jah- re etabliert war, ist eine spezielle Quantenfeldtheorie, die pr¨azise die bekannte Materie und ihre Wechselwirkungen beschreibt. F¨ur die Erkl¨arung der inzwischen entdeckten Massen der Neutrinos ist allerdings noch keine eindeutige Erweiterung des Standardmodells gefunden worden. Dar¨uber hinaus bietet es keinen Platz f¨ur die von der Astrophysik postulierte dunkle Materie, und auch keine geeigneten Mechanismen f¨ur die von der Kosmologie geforderte Inflation. Das Standardmo- dell bietet zwar eine Vereinheitlichung von Elektromagnetismus und schwachen Kernkr¨aften, aber die Details der Theorie mit ihren zahlreichen elementaren Bausteinen und Parametern erscheinen etwas zu kompliziert und willk¨urlich f¨ur eine endg¨ultige Theorie. Es liegt daher nahe, die noch fehlenden Aspekte in einer umfassenderen Theorie zu suchen, und die attraktivsten Ideen dazu, n¨amlich Supersymmetrie (SUSY),

”Große Vereinheitlichte Theorien“ (GUT) und verborgene Di- mensionen, sind alle mit einer Vergr¨oßerung des Symmetriegehaltes verbunden. Als Kandidat f¨ur eine ultimative Vereinheitlichung, die auch eine Quantentheorie der Gravitation beinhaltet, inte- griert die Stringtheorie Supersymmetrie und zehn Raum-Zeit-Dimensionen auf nat¨urliche Weise.

Supersymmetrie (SUSY): Mit Ausnahme des Higgs-Teilchens sind alle Elementarteilchen ent- weder Materieteilchen mit halbzahligem Drehimpuls, die dem Pauli-Verbot gehorchen oder Kraft- teilchen mit ganzzahligem Spin, die makroskopische Quantenzust¨ande (z. B. Laserlicht) bilden k¨onnen. Supersymmetrie in Quantenfeldtheorien wurde 1974 von Wess und Zumino entdeckt und ist eine Symmetrie, die Materie- und Kraftteilchen eng miteinander verbindet. So wie die Quanten- feldtheorie zu jedem Teilchen ein Antiteilchen mit entgegengesetzter Ladung erfordert, postulieren supersymmetrische Theorien zu jedem Teilchen des Standardmodells ein Partnerteilchen mit an- derem Spin. Das leichteste dieser noch hypothetischen Teilchen w¨are ein nat¨urlicher Kandidat f¨ur die dunkle Materie und k¨onnte entweder direkt am LHC entdeckt oder indirekt ¨uber Pr¨azisions- messungen bei niedrigen Energien erschlossen werden.

Große Vereinheitlichte Theorien (GUTs): Bei extrem hohen Energien ¨andern sich die St¨arken der Wechselwirkungen von Elementarteilchen aufgrund von Quanteneffekten, sodass es plausibel erscheint, dass f¨ur Energien, die nochmals um einen Faktor 1012 ¨uber denen des LHC liegen, die elektromagnetische, die schwache und die starke Wechselwirkung gleich stark werden und sich in einer gemeinsamen h¨ohersymmetrischen Struktur verbinden, zumindest wenn es bestimmte Ele-

(9)

mentarteilchen gibt, wie sie durch die Supersymmetrie auch vorhergesagt werden.

Verborgene Dimensionen und Stringtheorie: Die Idee einer Vereinheitlichung der Naturkr¨afte durch eine mikroskopisch kleine f¨unfte Dimension geht bereits auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zur¨uck, als Nordstr¨om, Kaluza und Klein erkannten, dass in der Einsteinschen Gravitationstheorie der Elektromagnetismus ¨uber eine zus¨atzliche r¨aumliche Dimension geometrisch eingebaut werden k¨onnte. Analog k¨onnten weitere Wechselwirkungen in komplizierten h¨oherdimensionalen Geometri- en realisiert werden. Die Stringtheorie sagt bemerkenswerterweise sowohl Supersymmetrie vorher, als auch die Existenz von so viel mehr Dimensionen wie f¨ur eine

”Große Vereinheitlichung“ auf geometrischem Weg n¨otig sind.

Eines der wichtigsten Programme der Teilchenphysik ist die experimentelle ¨Uberpr¨ufung der- artiger Erweiterungen des Standardmodells.

1.4 Was ist die dunkle Materie im Universum?

Die uns bekannten Elementarteilchen tragen nur mit zirka 5 % zu der Gesamtenergie des Uni- versums bei. Die restlichen 95 % sind nach dem Standardmodell der Kosmologie dunkle Materie (zirka 23 %) und dunkle Energie (zirka 72 %). Wir wissen von verschiedenen astrophysikalischen und kosmologischen Beobachtungen, dass dunkle Materie und dunkle Energie existieren m¨ussen, beispielsweise aus den Rotationskurven von Galaxien, den Fluktuationen im kosmischen Mikro- wellenhintergrund und der Beobachtung der kosmischen Beschleunigung.

Dunkle Energie ist die Energie des leeren Raumes, die man noch vor zwei Jahrzehnten f¨ur Null hielt. Aufgrund der Beschleunigung von entfernten Supernovae wissen wir aber, dass die Energie des leeren Raumes nicht nur ungleich Null ist, sondern sogar das Energiebudget des gesamten Uni- versums dominiert! Das Verst¨andnis des exakten Wertes dieser Energie gilt als eines der gr¨oßten ungel¨osten R¨atsel der theoretischen Physik, und wird auch als das Problem der kosmologischen Konstante bezeichnet. Dunkle Materie ist eine bis dato unbekannte Form von Materie. Eine we- sentliche offene Frage ist: Was ist dunkle Materie? Wird sie aus Elementarteilchen gebildet, die am LHC entdeckt werden k¨onnen, z. B. den leichtesten supersymmetrischen Teilchen? Oder besteht sie aus Axionen, die eine CP-verletzende Spin-Massekopplung vermitteln und am ILL in Versuchen mit Neutronen entdeckt werden k¨onnten? Oder handelt es sich gar um eine exotische Form von Materie, die in keine der g¨angigen Theorien passt?

1.5 Gibt es mehr als drei Raumdimensionen?

Aus dem Alltag kennen wir drei Raum- und eine Zeitdimension. Es gibt aber keinen zwingenden Grund, dass dies der tats¨achlichen Zahl der Dimensionen entspricht: z. B. ist es denkbar, dass mehr als drei Raumdimensionen existieren, von denen alle bis auf drei nur sehr geringe Ausdehnungen haben, sodass sie praktisch unsichtbar sind, und erst bei Experimenten, die sehr kleine Abst¨ande aufl¨osen k¨onnen, sichtbar werden.

Die Stringtheorie – die einzig bekannte Theorie, die alle fundamentalen Wechselwirkungen kon- sistent beschreibt – sagt die Existenz von zehn Raumdimensionen vorher, von denen sieben bisher experimentell noch nicht nachgewiesen sind. Diese zus¨atzlichen Dimensionen k¨onnen aber im Prin- zip durch Teilchenphysikexperimente – bei entsprechend hohen Energien und/oder hoher Pr¨azision – sichtbar gemacht werden. Ein weiterer Aspekt der Stringtheorie ist die bahnbrechende Idee, dass die Anzahl der Dimensionen von der Betrachtungsweise abh¨angt: Es ist m¨oglich, ein und denselben physikalischen Sachverhalt mit Hilfe von so genannten Dualit¨aten durch zwei auf den ersten Blick verschiedene Theorien zu beschreiben, die noch dazu in unterschiedlichen Dimensionen formuliert

(10)

sind. Die popul¨arste Realisierung dieser Idee ist die so genannte AdS/CFT-Korrespondenz, die zahlreiche Anwendungen in Teilchen- und Gravitationsphysik und anderen Gebieten der theoreti- schen Physik hat.

Die Idee, die Komplexit¨at unserer Naturgesetze auf geometrische Strukturen von verborgenen Dimensionen zur¨uckzuf¨uhren, wie es Einsteins Traum entspricht, ist durch viele konkrete Erfolge im Bereich theoretischer Modellbildungen attraktiver denn je.

2 Status von Astro-, Kern- und Teilchenphysik

2.1 Standardmodell

Das Standardmodell der Teilchenphysik ist eine relativistische Quantenfeldtheorie, welche die elek- tromagnetischen, schwachen und starken Wechselwirkungen der derzeit bekannten Bausteine der Materie bis zu den gr¨oßten, bei Beschleunigerexperimenten bisher getesteten Energieskalen von etwa 200 GeV beschreibt. Eine derartige Energie entspricht der Ruhenergie von etwas mehr als 200 Protonen. Diese Energie kann mithilfe der Unsch¨arferelation in einen Abstand von ungef¨ahr 10−18m ¨ubersetzt werden, bis zu dem die G¨ultigkeit der Theorie experimentell getestet ist.

Eine relativistische Quantenfeldtheorie vereint die Spielregeln der Quantentheorie mit jenen der speziellen Relativit¨atstheorie. Ihr Anwendungsbereich geht daher weit ¨uber den der Quan- tenmechanik hinaus, welche nur bei Geschwindigkeiten g¨ultig ist, die viel kleiner als die Licht- geschwindigkeit sind. Erst die Vereinigung von Quantentheorie und Relativit¨atstheorie erkl¨art, warum Teilchen mit halbzahligem Spin (etwa Elektronen) Fermionen und Teilchen mit ganzzahli- gem Spin (etwa Photonen) Bosonen sind. Dies hat weitreichende Konsequenzen f¨ur den Aufbau der uns im Alltag umgebenden Materie: Identische Fermionen sind unleidliche Gesellen und bestehen auf einem Privatzimmer beim Auff¨ullen der Energieniveaus in Atomen, was etwa das Periodensy- stem der chemischen Elemente erkl¨art. Dagegen haben Bosonen keine Ber¨uhrungs¨angste, was sich in extremer Form bei einem Bose-Einstein-Kondensat beobachten l¨asst, bei dem sich alle Teilchen gleichzeitig im Grundzustand befinden. Eine weitere wichtige Folgerung aus der relativistischen Quantenfeldtheorie ist die Existenz von Antiteilchen: Zu jedem Teilchen gibt es ein Antiteilchen mit gleicher Masse und entgegengesetzter Ladung. Als Beispiel sei das negativ geladene Elektron mit seinem Antiteilchen, dem positiv geladenen Positron genannt. Bei manchen elektrisch neu- tralen Teilchen ist das Teilchen sein eigenes Antiteilchen (z. B. das Photon oder das Z0). Eine relativistische Quantenfeldtheorie gestattet nicht nur die Beschreibung reiner Streuprozesse, son- dern auch von Zerf¨allen und der Produktion anderer Teilchensorten in Kollisionsexperimenten. Die Wechselwirkungen (Kr¨afte) zwischen den Teilchen werden dabei durch den Austausch so genannter virtueller Teilchen beschrieben, in diesem Sinn wird das Kraftkonzept der klassischen Physik auf den Teilchenbegriff zur¨uckgef¨uhrt.

Beschr¨ankt man sich auf die im t¨aglichen Leben vorkommende Materie, so ist diese lediglich aus Elektronen sowie up- und down-Quarks aufgebaut. Dazu kommen noch die Elektronneutri- nos, welche z. B. in Prozessen in der Sonne eine Rolle spielen. Diese vier Teilchensorten bilden (gemeinsam mit ihren dazugeh¨origen Antiteilchen) die erste Generation von Materieteilchen des Standardmodells. Es handelt sich dabei um Teilchen mit Spin 1/2, also Fermionen. Das Elektron tr¨agt die elektrische Ladung -1, das Neutrino ist elektrisch neutral, w¨ahrend das up-Quark die Ladung 2/3 und das down-Quark die Ladung -1/3 besitzt. Erstaunlicherweise gibt sich die Natur mit dieser einen Generation von Materiebausteinen nicht zufrieden, sondern liefert noch zwei wei- tere Generationen von Materieteilchen, welche, abgesehen von ihren gr¨oßeren Massen, die gleichen Eigenschaften wie jene der ersten Generation besitzen. Das in der zweiten Generation auftretende

(11)

Myon ist die etwa 200-mal schwerere Kopie des Elektrons, in der dritten Generation tritt das noch wesentlich schwerere Tauon auf. Analog findet man in der zweiten Generation das charm- und das strange-Quark und schließlich in der dritten Generation das top- und das beauty- (oder bottom-) Quark.

Die Quarks sp¨uren sowohl die starke, als auch die elektromagnetische und schwache Wechsel- wirkung. Die Leptonen (Elektron, Myon, Tauon und die dazugeh¨origen Neutrinos) nehmen dagegen an der starken Wechselwirkung nicht teil. Diese fundamentalen Wechselwirkungen werden durch den Austausch von so genannten Eichteilchen mit Spin 1 (daher auch Eichbosonen) vermittelt.

Im Fall der elektromagnetischen Wechselwirkung handelt es sich um das Photon. Da das Photon masselos ist, besitzt die dadurch vermittelte elektromagnetische Wechselwirkung eine sehr große (makroskopische) Reichweite. Im Gegensatz dazu besitzen die f¨ur die schwache Wechselwirkung verantwortlichen Eichbosonen W+, W, Z0sehr große Massen (etwa das Hundertfache der Proton- masse), als Folge davon ist die schwache Wechselwirkung extrem kurzreichweitig. Die Eichbosonen, welche die starke Wechselwirkung zwischen den Quarks und auch untereinander vermitteln, be- zeichnet man als Gluonen (

”Klebstoffteilchen“). Jeder Quarktyp (u, d, c, s, t, b) tritt in drei so genannten Farbfreiheitsgraden auf. Daher wird dieser Teil des Standardmodells auch als Quan- tenchromodynamik bezeichnet. Die Gluonen dagegen treten in acht verschiedenen Varianten auf.

Es ist nun eine charakteristische Eigenschaft der durch die Quantenchromodynamik beschriebenen starken Wechselwirkung, dass Quarks und Gluonen nicht als freie Teilchen vorkommen k¨onnen, sondern nur in farbneutralen Bindungszust¨anden, den so genannten Hadronen. Man bezeichnet dies als (Quark-) Confinement. So besteht etwa das Proton aus zwei up-Quarks, einem down-Quark und den sie bindenden Gluonen, das Neutron dagegen aus einem up-Quark und zwei down-Quarks.

Mesonen, wie etwa die Pionen und Kaonen, sind aus einem Quark-Antiquark-Paar und Gluonen aufgebaut.

Das Standardmodell ist eine Eichtheorie, das heißt die Theorie weist eine so genannte lokale Eichsymmetrie bei Transformationen bez¨uglich einer bestimmten Symmetriegruppe auf. Die dem Standardmodell zugrunde liegende Eichsymmetriegruppe legt dann den Eichbosongehalt (Photon, W+, W, Z0, 8 Gluonen) eindeutig fest. Der Unterschied zwischen der Masselosigkeit des Photons und der Gluonen auf der einen Seite und den Massen der Eichteilchen der schwachen Wechselwir- kung auf der anderen Seite kommt dadurch zustande, dass die mit der elektroschwachen Wech- selwirkung verbundene Untergruppe des Standardmodells spontan gebrochen ist. Von spontaner Symmetriebrechung spricht man, wenn der Grundzustand (das

”Vakuum“) einer Theorie eine klei- nere Symmetrie aufweist als die Theorie selbst. Im Fall des Standardmodells ist das Vakuum nur unter den der elektromagnetischen und starken Wechselwirkung entsprechenden Symmetrietrans- formationen invariant, nicht jedoch unter jenen der schwachen Wechselwirkung. Als Folge dieser Struktur des Grundzustandes bleiben Photon und Gluonen masselos, w¨ahrend W- und Z-Bosonen Massen bekommen. Dieser Effekt der spontanen Brechung einer lokalen Eichsymmetrie ist auch aus der Festk¨orperphysik wohlbekannt. In einem Supraleiter wird die elektromagnetische Eichin- varianz durch die Bildung von Cooperpaaren spontan gebrochen. Dadurch erh¨alt das Photon eine Masse, die Reichweite des elektromagnetischen Feldes wird entsprechend verringert, wodurch ein Magnetfeld praktisch nicht in einen Supraleiter einzudringen vermag (Meißnereffekt).

W¨ahrend an der eben besprochenen Struktur des Vakuums des Standardmodells kein Zweifel besteht, ist der konkrete Mechanismus der spontanen Brechung der elektroschwachen Symmetrie noch eine offene Frage. In der minimalen Version des Standardmodells dient dazu der so genannte Higgsmechanismus, welcher die einfachste Parametrisierung der elektroschwachen Symmetriebre- chung darstellt. Dabei wird ein neutrales skalares Teilchen unbekannter Masse vorhergesagt, das bis jetzt noch nicht experimentell nachgewiesen werden konnte. Der Higgssektor des Standardmo-

(12)

dells k¨onnte aber durchaus eine komplexere Struktur aufweisen, in dem auch weitere (zum Teil geladene) Higgsbosonen auftreten w¨urden. Ebenso sind Szenarien ohne Higgsboson denkbar, falls die spontane Brechung der elektroschwachen Symmetrie in Analogie zur spontanen Brechung der chiralen Symmetrie in der starken Wechselwirkung realisiert ist. Die Kl¨arung dieser Fragen wird eine wesentliche Aufgabe der am LHC geplanten Experimente sein.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Higgsmechanismus im Standardmodell ist die Verkn¨upfung der Massen von Quarks und (geladenen) Leptonen mit der spontanen Brechung der elektro- schwachen Symmetrie, ohne jedoch in der Lage zu sein die beobachteten Gr¨oßen (und vor allem die großen Unterschiede) der Massen dieser Materiebausteine erkl¨aren zu k¨onnen. Die L¨osung dieses Massen- und Hierarchieproblems ist derzeit Gegenstand intensiver Forschungen, auch hier erhofft man sich neue Einblicke durch zuk¨unftige Experimente. Im Gegensatz dazu sind die beobachteten Massen der Hadronen im Rahmen der Quantenchromodynamik gut verstanden. Obwohl etwa das Proton aus drei Quarks besteht, tragen deren Massen nur einige wenige Prozent zur Gesamtmasse des Protons bei, w¨ahrend der Hauptanteil der Protonmasse ein Effekt der gluonischen Bindung ist.

Alle bisher durchgef¨uhrten Messungen konnten die Vorhersagen des Standardmodells mit be- eindruckender Pr¨azision best¨atigen. Dennoch ist klar, dass das Standardmodell nicht die endg¨ultige Antwort ¨uber die Struktur der Materie und alle fundamentalen Wechselwirkungen sein kann. Ab- gesehen von den oben bereits angesprochenen offenen Fragen, tritt dies besonders deutlich bei der Beschreibung des Neutrinosektors zu Tage. W¨ahrend in der urspr¨unglichen minimalen Version des Standardmodells Neutrinos als masselos angenommen wurden, zeigen die mittlerweile beobach- teten Neutrino-Oszillation, dass das Standardmodell in diesem Punkt einer Erweiterung bedarf.

Ebenso reicht die durch das Standardmodell beschriebene CP-Verletzung im Quarksektor (welche in Zerf¨allen von K- und B-Mesonen eindrucksvoll best¨atigt wurde) nicht aus, um auch die im Universum beobachtete Asymmetrie von Materie und Antimaterie zu erkl¨aren.

2.2 Neutrinophysik

Neutrinos wurden 1930 von Wolfgang Pauli vorgeschlagen, um die beim Betazerfall scheinbar verletzten Energie- und Impulserhaltungss¨atze zu retten. Tats¨achlich wurden diese zun¨achst hypo- thetischen Teilchen in den F¨unfzigerjahren dann in der Realit¨at an Kernreaktoren nachgewiesen.

Kernreaktoren sind intensive Neutrinostrahler, da die bei der Kernspaltung auftretenden Bruch- st¨ucke in der Regel instabile Kerne sind, die durch Betazerfall in stabile ¨ubergehen.

Neutrinos durchqueren uns zu jeder Zeit und an jedem Ort, ohne dass wir etwas davon merken, denn die einzige Wechselwirkung, zu der Neutrinos – abgesehen von der Gravitationwwechselwir- kung – f¨ahig sind, ist die schwache Wechselwirkung. Daher brauchen Neutrinodetektoren Tonnen von Detektormaterial, um wenige Ereignisse pro Tag nachzuweisen. Der gr¨oßte Neutrinofluss, etwa 60 Milliarden Neutrinos pro Quadratzentimeter und Sekunde, kommt von der Sonne. Allerdings ist zur Zeit nur ein Teil davon messbar, weil die Energie der meisten solaren Neutrinos zu klein ist, um im Detektor ein Signal zu erzeugen. Die Energie, die in der Sonne durch Kernfusion pro- duziert wird, wird fast zur G¨anze als elektromagnetische Strahlung abgegeben (sichtbares Licht, UV- und Infrarotstrahlung), welche uns auf der Erde das Leben erm¨oglicht, aber immerhin 2,3 % dieser Energie wird in Form von Neutrinos abgestrahlt. Das Umgekehrte ist bei einer Supernova der Fall, wo die frei werdende Energie fast zur G¨anze von Neutrinos abgef¨uhrt wird, w¨ahrend der optische Effekt, so spektakul¨ar er auch sein mag, nur einen winzigen Bruchteil der Supernova- energie repr¨asentiert. Weitere nat¨urliche Neutrinoquellen sind die Atmosph¨are, in der Neutrinos durch Effekte der kosmischen Strahlung produziert werden, und die Erdkruste, wo die so genannten

(13)

Geoneutrinos durch den Zerfall radioaktiver Isotope entstehen. M¨oglicherweise erreichen uns auch extrem hochenergetische Neutrinos aus aktiven galaktischen Kernen entfernter Galaxien. K¨unstli- che Neutrinoquellen sind die schon oben erw¨ahnten Kernreaktoren und durch Protonbeschleuniger erzeugte Neutrinostrahlen. Alle diese erw¨ahnten Quellen werden f¨ur Experimente gen¨utzt, um ent- weder Neutrinoeigenschaften zu erforschen oder durch bekannte Neutrinoeigenschaften Informa- tionen ¨uber die Sonne, Geologie (Erdw¨arme), Supernovae etc. zu erhalten. Die Neutrinoforschung ist gewissermaßen ein

”interdisziplin¨ares“ Gebiet innerhalb der Physik und der mit ihr verwandten Wissenschaften.

Zu jedem der drei geladenen Leptonen (Elektron, Myon und Tauon) gibt es ein dazugeh¨origes Neutrino. Man sagt auch, dass Neutrinos in drei

”Flavours“ vorkommen, welche nach den geladenen Leptonen benannt werden. Ein wesentlicher Fortschritt seit der Mitte der Neunzigerjahre war der Nachweis von Neutrino-Oszillationen. Das ist ein quantenmechanischer Effekt, bei dem sich der Flavour des Neutrinos der Quelle auf dem Weg zum Detektor mit gewissen Wahrscheinlichkeiten in andere Flavours umwandelt. Dieser Effekt ist nur mit massiven Neutrinos m¨oglich. Allerdings misst man bei Neutrino-Oszillationen nur Differenzen von Massenquadraten und daher sind absolute Neutrinomassen bei diesen Experimenten nicht zug¨anglich. Trotzdem kann man die gr¨oßte der drei Neutrinomassen schon relativ gut einengen, denn von Neutrino-Oszillationen erh¨alt man eine untere Schranke und aus dem Betazerfall von Tritium und durch kosmologische Argumente eine obere Schranke. Das Resultat ist, dass die Masse des schwersten Neutrinos etwa zwischen einem Zehnmillionstel und einem Millionstel der Elektronmasse liegt. Die Kleinheit der Neutrinomassen ist ein Gegenstand intensiver Forschung der theoretischen Teilchenphysik.

Eine fundamentale Frage bez¨uglich Neutrinos ist bis dato v¨ollig ungel¨ost: Sind Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen? Bei elektrisch geladenen Teilchen ist die Antwort klar: Teilchen und Anti- teilchen haben die entgegengesetzte Ladung und sind daher verschieden. Da Neutrinos die ein- zigen elektrisch neutralen fundamentalen Fermionen sind, kann man hier dieses Argument nicht ben¨utzen. Eine Antwort auf die obige Frage wird mithilfe von Experimenten zum so genannten neu- trinolosen doppelten Betazerfall gesucht; findet man so einen Zerfall, dann hat man einen Beweis, dass Neutrinos und Antineutrinos identisch sind.

2.3 Flavourphysik So wie die Neutrinos in drei

”Flavours“ auftreten, ist dies auch bei den geladenen Leptonen (Elek- tron, Myon, Tauon), den Quarks mit Ladung 2/3 (up, charm, top), sowie den Quarks mit Ladung -1/3 (down, strange, bottom) der Fall. Die Flavourphysik hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem breiten Forschungsgebiet entwickelt. Schon in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahr- hunderts konnte in den schwachen Zerf¨allen von Kaonen (das sind Mesonen, die ein strange-Quark enthalten) die Verletzung der CP-Symmetrie nachgewiesen werden. In den letzten Jahren sind hier Experimente mit D-Mesonen (mit einem charm-Quark) und B-Mesonen (welche ein bottom-Quark enthalten) sowie im Leptonsektor hinzugekommen.

Das Standardmodell der Teilchenphysik ist zwar in der Lage die experimentell beobachteten Uberg¨¨ ange von einem Quark-Flavour zu einem anderen (Quarkmischung) und die CP-Verletzung in der schwachen Wechselwirkung zu beschreiben, es erkl¨art jedoch nicht die Gr¨oße der dabei auftretenden drei Mischungswinkel und die St¨arke der gemessenen CP-Verletzung. Damit in Zu- sammenhang steht vermutlich auch das ungel¨oste Problem der Hierarchie der Quark- und Lepton- massen. Die Kl¨arung dieser Fragen z¨ahlt zu den großen Herausforderungen der Flavourphysik in den n¨achsten Jahrzehnten.

Andererseits bietet die Flavourphysik die einmalige Gelegenheit, mithilfe von Quanteneffekten

(14)

neue Teilchen zu entdecken, selbst wenn diese so große Massen besitzen, dass sie bei den derzeit zur Verf¨ugung stehenden Beschleunigerenergien noch nicht (als reelle Teilchen) erzeugt werden k¨onnen. Am LHC wird es m¨oglich sein, Teilchen mit Massen bis etwa 4 TeV direkt zu erzeugen, was nach der Unsch¨arferelation der Untersuchung von Distanzen von etwa 5·10−20m entspricht.

In absehbarer Zukunft werden aber mit großer Wahrscheinlichkeit keine Beschleuniger mit noch gr¨oßeren Strahlenergien zur Verf¨ugung stehen. Dagegen sind Flavour-¨andernde und CP-verletzende Prozesse im Standardmodell stark unterdr¨uckt, bei diesen kann sich die Anwesenheit

”neuer Phy- sik“ durch Quantenfluktuationen bemerkbar machen, welche es gestatten neue Freiheitsgrade bis zu einer Masse von etwa 200 TeV nachzuweisen. Auf diese Weise ist man sensitiv bis zu Distanzen in der Gr¨oßenordnung von 10−21m. Man sucht also in geeigneten Prozessen nach Abweichungen von den Vorhersagen des Standardmodells der Teilchenphysik. Dies erfordert die Kombination von Pr¨azisionsrechnungen auf der theoretischen und von Messungen mit hoher Statistik auf der experi- mentellen Seite. Unter Beteiligung von Experimenten bei LHC, Belle II, Super-Flavour-Fabriken, Kaon-Experimenten und der Suche nach Leptonflavour-¨andernden Prozessen beginnt so eine neue und viel versprechende ¨Ara der Flavourphysik.

2.4 Quantenchromodynamik und Confinement

Ein fundamentales Problem im Verst¨andnis der Physik der Hadronen ist das so genannte Quark- Confinement. Als Hadronen bezeichnet man all jene Teilchen, die der starken Wechselwirkung (der st¨arksten der vier fundamentalen Wechselwirkungen) unterliegen. Einerseits sind die Hadronen zusammengesetzte Objekte, andererseits lassen sie sich nicht in ihre Konstituenten zerlegen. Die Erkl¨arung dieses Ph¨anomens, welches die Elementarteilchenphysiker Confinement (also in etwa

”permanenter Einschluss“) nennen, hat sich als eines der schwierigsten Probleme der modernen Physik erwiesen.

Nach unserem heutigen Verst¨andnis sind Hadronen Bausteine von Atomkernen und ihrerseits wieder aus Quarks und Gluonen aufgebaut. Die zugrunde liegende Theorie der Quarks und Gluo- nen, die Quantenchromodynamik, ist eine Quantenfeldtheorie, die aufgrund von Symmetrieprinzi- pien definiert ist. Diese Symmetrie erfordert auch, dass man den Quarks und Gluonen neuartige, in unserer t¨aglichen Erfahrungswelt nicht vorkommende Ladungen zuordnet. Um ¨uber diese Art der Ladung sprechen zu k¨onnen, nennen die Physiker sie

”Farbe“, und man sagt, die Quarks gib es in den Farben

”rot“,

”gr¨un“ und

”blau“. Die in der Natur vorkommenden Hadronen sind farbneutrale Kombinationen der farbgeladenen Quarks und Gluonen. Im Gegensatz zu Atomen, die sich ionisieren lassen (d.h. dass sich die elektrisch geladenen Elektronen von den elektrisch geladenen Ionen trennen lassen), gibt es keine

”farbige“ Version des Ionisationsprozesses. Jeder Versuch ein Quark aus einem Hadron herauszuschlagen, z. B. durch einen hochenergetischen Stoß, produziert nur mehr farbneutrale Hadronen. Bis heute wurde keine Produktion eines farbgela- denen Teilchens beobachtet. Teilchen- und Kernphysiker haben sich an diese Tatsache gew¨ohnt, sie sprechen von Farb- oder Quark-Confinement. Obwohl das entsprechende Postulat schon seit

¨

uber 35 Jahren formuliert ist, und seitdem viele Anstrengungen unternommen wurden, diese f¨ur die Hadronphysik fundamentale Tatsache zu verstehen, fehlt bis heute eine allgemein akzeptierte Erkl¨arung. Farbconfinement hat sich als ein ¨außerst schwer verst¨andliches Ph¨anomen erwiesen, es wurde sogar aufgrund seiner Bedeutung f¨ur die mathematisch konsistente Formulierung von grundlegenden physikalischen Theorien vom

”Clay Mathematics Institute of Cambridge“ als eines von sieben

”Jahrtausendproblemen“ klassifiziert. Solange es unverstanden bleibt, fehlt ein ent- scheidender Baustein in unserem Verst¨andnis der Elementarteilchen. Die Bedeutung der L¨osung des Confinement-Problems f¨ur unser Weltbild ist zwar derzeit nicht vorherzusagen, es ist aber

(15)

m¨oglich, dass sie zu einem Paradigmenwechsel in der modernen Physik f¨uhren wird.

In der Tat hat es in den letzten Jahren interessante und ¨uberraschende Ergebnisse in Kollisi- onsexperimenten mit Schwerionen gegeben, bei denen man ein so genanntes Quark-Gluon-Plasma zu erzeugen versucht, wo auf kleinen Bereichen mit extremen Dichten und Temperaturen der Quarkeinschluss aufgeschmolzen wird. Die Wechselwirkung von Quarks und Gluonen kann hier in einem neuartigen Materiezustand untersucht werden, der w¨ahrend der ersten paar Mikrosekunden nach dem Urknall das fr¨uhe Universum dominierte. Die experimentell beobachteten Eigenschaften des Quark-Gluon-Plasmas stellen eine Herausforderung an die theoretische Physik dar, bei denen bereits revolution¨ar neue Konzepte mit Verbindungen zu Superstringtheorie und Gravitation in h¨oherdimensionalen R¨aumen entwickelt wurden.

2.5 Hadronphysik

Hadronen sind Teilchen, welche alle Fundamentalkr¨afte einschließlich der starken Wechselwirkung sp¨uren. Man unterteilt sie in zwei große Klassen: Mesonen und Baryonen. Mesonen besitzen gan- zahligen Spin, sie sind daher Bosonen. Baryonen dagegen haben halbzahligen Spin, sie sind somit Fermionen. Beispiele f¨ur Mesonen sind Pionen, Kaonen, ρ-, D- und B-Mesonen, sowie J|ψ und Υ. Alle Mesonen sind instabil und zerfallen nach kurzer Zeit in stabile Teilchen. Einige von ih- nen k¨onnen in der sekund¨aren H¨ohenstrahlung beobachtet werden, die meisten m¨ussen aber in Beschleunigeranlagen produziert werden. Die bekanntesten Vertreter der Baryonen sind die Kern- bausteine Proton und Neutron. Das Proton ist stabil, dagegen zerf¨allt das freie, nicht in einem Atomkern gebundene Neutron im Mittel nach etwa 15 Minuten. Daneben gibt es aber auch noch die schwereren und kurzlebigen Λ-, Σ-, Ξ-, ∆- und Ω-Baryonen.

Hadronen sind keine Elementarteilchen im eigentlichen Sinn des Wortes, sondern Bindungs- zust¨ande von Quarks und Gluonen. W¨ahrend Mesonen aus Quark-Antiquark-Paaren bestehen, sind Baryonen aus drei Quarks und den sie bindenden Gluonen aufgebaut. Im Aufbau der Materie stellen Hadronen die erste Stufe der Komplexit¨at dar, da sie die einfachsten aus den strukturlosen Elementarbausteinen gebildeten Systeme sind. Eine wesentliche Aufgabe der Hadronphysik ist das Verstehen der Komplexit¨at auf der Basis der elementaren Bestandteile – Quarks und Gluonen – im Rahmen der Quantenchromodynamik (QCD). Die L¨osung dieser Aufgabe ist von gr¨oßter Wichtigkeit f¨ur die gegenw¨artige Physik, da sie einerseits einem grundlegenden Verst¨andnis kom- plexerer stark wechselwirkender Systeme wie Atomkernen den Weg bereitet, sowie andererseits wichtige Beitr¨age zur Verbesserung der Pr¨azision in der Elementarteilchenphysik liefert, wo die Genauigkeit von Analysen oft durch Ergebnisse aus der Hadronphysik bestimmt ist.

Die QCD – die Theorie der starken Wechselwirkung – hat die bemerkenswerte Eigenschaft, dass die St¨arke der Quark-Gluon-Kopplung, beziehungsweise der gluonischen Selbstwechselwirkung bei zunehmender Energie abnimmt. Dieses auch als

”asymptotische Freiheit“ bezeichnete Verhalten der QCD gestattet die Anwendung st¨orungstheoretischer Verfahren bei der Berechnung hochener- getischer Prozesse mit starker Wechselwirkung. F¨ur die Hadronphysik ist jedoch das andere Ende der Energieskala, der Bereich kleiner Energien, wesentlich. Wegen des starken Anwachsens der Kopplungsst¨arke der QCD bei niedrigen Energien versagt hier die St¨orungstheorie und es m¨ussen andere Methoden zur theoretischen Untersuchung angewandt werden.

Eine dieser Methoden, die so genannte chirale St¨orungstheorie, ben¨utzt die Tatsache, dass die Massen der drei leichten Quarks (up, down, strange) sehr viel kleiner sind als jene der ¨ubrigen Quarks. In einer fiktiven Welt mit masselosen up-, down- und strange-Quarks besitzt die QCD n¨amlich eine zus¨atzliche Symmetrie, die so genannte chirale Symmetrie. Aufgrund der Vakuum- struktur der QCD ist diese Symmetrie spontan gebrochen und die Pionen, Kaonen und das η

(16)

w¨aren in dieser Phantasiewelt masselose Goldstonebosonen. Alle Kr¨afte zwischen diesen Teilchen w¨urden im Limes kleiner Energien schließlich verschwinden. In der realen Welt besitzen die leichten Quarks allerdings kleine Massen und so erhalten auch die Beinahe-Goldstonebosonen Massen, die aber deutlich kleiner sind als die der ¨ubrigen Mesonen und der Baryonen. Die chirale St¨orungstheo- rie ist nun ein systematisches Verfahren, das es gestattet, die Abweichungen der realen Welt von der fiktiven Welt masseloser Quarks zu berechnen. Auf diese Weise ist es gelungen, die Verh¨altnisse der Massen der leichten Quarks mit großer Genauigkeit zu bestimmen. Ebenso z¨ahlen auf diesem Gebiet, dank des intensiven Wechselspiels zwischen Theorie und Experiment, Untersuchungen zur Pion-Pion-Streuung und zu Kaon-Zerf¨allen inzwischen zur Hochpr¨azisionsphysik.

Ein weiteres wichtiges Verfahren zur nicht-st¨orungtheoretischen Behandlung der starken Wechselwirkung stellt die Gitter-QCD dar. Dabei wird die an sich kontinuierliche Raum-Zeit durch ein diskretes Raum-Zeit-Gitter approximiert, um die QCD durch Monte-Carlo-Rechnungen auf Hochleistungscomputern zu behandeln. Dadurch konnte gezeigt werden, dass das beobachte- te Massenspektrum der Hadronen tats¨achlich durch die QCD erkl¨art werden kann. Ebenso ist es gelungen, verschiedenene Messgr¨ossen der starken Wechselwirkung wie etwa die Pion- oder Kaon- zerfallskonstante mit großer Genauigkeit zu bestimmen.

Große theoretische und experimentelle Fortschritte sind in den letzten Jahren auf dem For- schungsgebiet der exotischen Atome erzielt worden. Darunter versteht man Atome, bei denen ein Elektron durch ein negativ geladenes Hadron ersetzt wird, wie etwa pionischer Wasserstoff (πp), pionisches Deuterium (πd), kaonischer Wasserstoff (Kp), kaonisches Deuterium (Kd), aber auch rein mesonische Atome wie Pionium (π+π). Diese Bindungszust¨ande werden vornehmlich durch die Coulombkraft zusammengehalten. Die Anwesenheit der starken Wechselwirkung f¨uhrt allerdings zu einer Verschiebung der Energieniveaus von ihren rein elektromagnetischen Werten.

Außerdem kommt es zu einer Verbreiterung der Energieniveaus, da die Atome aufgrund der starken Wechselwirkung zerfallen k¨onnen (zum Beispiel zerf¨allt Pionium in zwei neutrale Pionen). Auf diese Weise k¨onnen die Streuamplituden der beiden beteiligten Hadronen bei niedrigsten Energien sehr pr¨azise bestimmt werden.

Bei h¨oheren Energien entstehen schwere Mesonen als hadronische Bindungszust¨ande, an denen auch schwere Quarks (charm, bottom) beteiligt sind. Ein Beispiel daf¨ur w¨are etwa das B-Meson, das aus einem schweren bottom-Quark und einem leichten Anti-up-Quark besteht. Die theoretische Behandlung solcher Teilchen macht sich nun gerade die Tatsache zunutze, dass es sich um Systeme handelt, bei denen einer der Bestandteile viel schwerer ist als der andere (

”Heavy Quark Effective Theory“). In Kombination mit experimentellen Daten hoher Statistik, wie sie etwa in B-Meson- Fabriken gewonnen werden, gestatten es derartige Analysen, die maximale Information ¨uber die zugrunde liegende Physik zu gewinnen.

Von großer Bedeutung f¨ur ein tieferes Verst¨andnis der QCD ist auch das Studium schwerer Quarkonia. Unter Quarkonium versteht man einen hadronischen Bindungszustand, der aus einem Quark q und dem dazugeh¨origen Antiquark ¯q gebildet wird. Gebundene c¯c-Zust¨ande nennt man Charmonium, b¯b-Zust¨ande heißen Bottomium. In theoretischen Rechnungen kommt hier die nicht- relativistische QCD zum Einsatz, die entsprechenden experimentellen Ergebnisse gestatten genaue Bestimmungen der Massen der schweren Quarks und der Kopplungsst¨arke der starken Wechsel- wirkung. Die Physik der Quarkonia spielt eine wichtige Rolle im experimentellen Programm des LHC.

Spannend ist auch die Suche nach exotischen Zust¨anden, die nicht nur aus zwei oder drei Quarks bestehen, f¨ur welche bereits experimentelle Hinweise gefunden wurden. Zuk¨unftige Experimente wie PANDA an der FAIR-Anlage in Darmstadt werden wichtige Beitr¨age zum Verst¨andnis derartiger Zust¨ande und somit der Hadronstruktur liefern.

(17)

2.6 Nukleare Astrophysik

Kernphysikalische Prozesse bestimmen die Entwicklung des Universums und des Lebens seit den ersten Sekunden nach dem Urknall. Insbesondere die Entwicklung und der

”Tod“ von Sternen erfolgen durch Kernreaktionen im Wechselspiel mit der Gravitation und der schwachen Wechsel- wirkung und f¨uhren zu der beobachteten Verteilung der Elemente bzw. der Isotope. Die nukleare Astrophysik versucht im Zusammenspiel mit Kosmologie, Astrophysik und Astronomie die kom- plexen Zusammenh¨ange in der Entwicklung des Universums n¨aher zu erfassen, wobei folgende Schl¨usselfragen zu kl¨aren sind:

• Wo und wann wurden die Elemente gebildet?

• K¨onnen wir die wesentlichen Reaktionen f¨ur die Nukleosynthese im irdischen Labor messen?

• Wie ist der Zusammenhang zwischen Kernreaktionen und dem Ende von Sternen?

• Was sind die Eigenschaften kompakter Materie in Neutronensternen und in hypothetischen Quarksternen?

Im letzten Jahrzehnt konnten wichtige Erkenntnisse durch zahlreiche Experimente und theoreti- sche Arbeiten gewonnen werden. Messungen der R¨ontgen- und Gammastrahlung (INTEGRAL) in Satelliten lieferten detaillierte Information ¨uber die im Universum ablaufende Nukleosynthese und werden in naher Zukunft (NuSTAR) auch Messungen der Elementerzeugung in Novae, R¨ontgen- strahlungsblitzen und Supernovae erlauben. Effiziente Untergrunddetektoren haben den Neutrino- fluss von der Sonne und von Supernovae bestimmt und damit direkte Informationen ¨uber die in der Sonne ablaufenden Reaktionen geliefert sowie die derzeitigen Supernovae-Modelle best¨atigt.

Die Entdeckung einer Reihe von Neutronensternen und die damit verbundenen Ph¨anomene haben zahlreiche Aktivit¨aten in der Theorie angeregt, sodass man heute in der Lage ist, realistische Si- mulationen von Neutronensternen zu beginnen. Parallel zu diesen Aktivit¨aten wurde im letzten Jahrzehnt eine Generation neuer Anlagen errichtet, die erstmals Labormessungen von Schl¨ussel- reaktionen in explosiven astrophysikalischen Szenarien und experimentelle Untersuchungen der Eigenschaften von Kernmaterie hoher Dichte erm¨oglichen. In vielen F¨allen sind die relevanten Reaktionen unter astrophysikalischen Bedingungen einem Laborexperiment nicht zug¨anglich (zu kleine Reaktionsraten, zu extreme Bedingungen). Die nukleare Astrophysik umfasst daher auch aufw¨andige theoretische Studien und die Entwicklung mikroskopischer Modelle um Schl¨usseleigen- schaften wie Kernmassen, Energieniveaus, optische Potentiale und Zerfallsraten vorhersagen zu k¨onnen. Großer Theorieaufwand ist zur Kl¨arung der fundamentalen Fragen im Zusammenhang mit Neutronensternen erforderlich, z. B. der Zustandsgleichung von Kernmaterie, oder der exoti- schen Eigenschaft der Superfluidit¨at.

Nach dem heutigen Verst¨andnis unterscheiden wir drei Phasen der Nukleosynthese: die pri- mordiale Nukleosynthese in den ersten Minuten nach dem Urknall, die Nukleosynthese in Sternen im hydrostatischen Gleichgewicht und die komplexe Nukleosynthese in explosiver Umgebung wie Novae, Supernove und R¨ontgenstrahlungsblitze. Die primordiale Nukleosynthese betrifft die Er- zeugung von 4He, D, 3He und 7Li. F¨ur 4He, D und 3He k¨onnen die H¨aufigkeitsverteilungen aus den Modellvorstellungen ¨uber die primordiale Nukleosynthese f¨ur die aus der Hintergrundstrah- lung bestimmte baryonische Dichte sehr gut berechnet werden. Die berechnete H¨aufigkeit von7Li ist aber etwa f¨unfmal h¨oher als die in Sternen der ersten Generation beobachtete und stellt ein offenes Problem dar. Die Nukleosynthese in Sternen im hydrostatischen Gleichgewicht erfolgt in einer Abfolge von Brennphasen charakterisiert durch Kernfusionsprozesse bzw. Reaktionszyklen.

(18)

W¨ahrend das Wasserstoffbrennen - die l¨angste Brennphase eines Sterns - heute sehr gut verstanden ist (u. a. durch in die in den letzten beiden Jahrzehnten erfolgten Messungen im Untergrundlabor LUNA), so ist das quantitative Verst¨andnis der weiteren Brennphasen nach wie vor Gegenstand der aktuellen Forschung. Hauptproblem sind die zum Teil extrem kleinen Wirkungsquerschnitte bei den astrophysikalisch relevanten Energien, die eine experimentelle Verifikation sehr schwer bzw. unm¨oglich machen. Nach den Brennphasen erfolgt die stellare Nukleosynthese von Elemen- ten schwerer als Eisen ¨uber Neutroneinfangsreaktionen, die in Konkurrenz zum Betazerfall stehen.

Der in der Helium-Brennphase stattfindende s-Prozess (

”langsamer“ Neutroneinfang) l¨auft ent- lang der Linie der stabilen Elemente und ist heute f¨ur Isotope mit Massenzahlen von 90 bis 209 gut verstanden. Unverstandene Diskrepanzen mit der Beobachtung in metallarmen Sternen ergibt die s-Prozess-Nukleosynthese im Massenzahlbereich von 60 bis 90. Zur Kl¨arung dieses Problems werden umfangreiche Messungen von Wirkungsquerschnitten des Neutroneinfangs an Kernen in diesem Bereich vorgenommen, z. B. an der n TOF-Anlage am CERN, an der auch ¨osterreichische Gruppen beteiligt sind. Der dritte Bereich der Nukleosynthese erfolgt in explosiven Szenarien wie Novae, Supernovae oder R¨ontgenstrahlungsblitzen. Kernreaktionen spielen dabei eine entscheiden- de Rolle, wobei allerdings signifikante Unsicherheiten selbst bei Schl¨usselreaktionen gegeben sind, da die Prozesspfade ¨uber instabile radioaktive Kerne laufen. Zu diesen ¨uberlagern sich auch Unsi- cherheiten in den Umgebungsbedingungen durch den explosiven Ablauf. So h¨angen z. B. die Be- dingungen in einem R¨ontgenstrahlungsblitz von dem sensiblen Gleichgewicht zwischen unsicheren Kernreaktionsraten und ebenso unsicherer Brennstoffzufuhr durch einfallendes H¨ullenmaterial ab.

Eigenschaften der Lichtemission in R¨ontgenstrahlungsblitzen h¨angen mit einigen (αp)-Reaktionen zusammen, deren Reaktionsraten unverstanden sind und eine Herausforderung f¨ur die Theorie darstellen.

Die Fragestellungen der nuklearen Astrophysik sind also eng mit aktuellen Problemen der Kern- strukturforschung verkn¨upft. So konnten in den letzten Jahren wesentliche Erkenntnisse durch die Verf¨ugbarkeit eines Netzwerks von zum Teil der Astrophysik gewidmeten Beschleunigern f¨ur Strah- len stabiler Kerne gewonnen werden. Die Entwicklung der n¨achsten Generation von Anlagen mit radioaktiven Strahlen (FAIR, SPIRAL-2, HIE-ISOLDE und SPES) er¨offnet neue M¨oglichkeiten, um die in explosiven Szenarien fernab der Stabilit¨at stattfindenden Kernreaktionen zu studieren und gleichzeitig detaillierte Information ¨uber die Kernstruktur an der Linie der Stabilit¨at bzw. die Nukleon-Nukleon-Wechselwirkung zu erhalten.

2.7 Gravitation

Die Einsteinsche Allgemeine Relativit¨atstheorie (ART) ist unsere derzeit beste Theorie der Gravita- tion. Die von ihr vorhergesagten Effekte sind hervorragend best¨atigt durch zahlreiche Experimente und auch durch technische Anwendungen, z. B. GPS-Ger¨ate. Die ART wirft aber eine Reihe von offenen Fragen auf. Einige werden mit Experimenten in der nahen Zukunft gekl¨art werden k¨onnen:

die Existenz von Gravitationswellen (mit Experimenten die im kommenden Jahrzehnt durchgef¨uhrt werden, wie z. B. LIGO), die Natur der dunklen Materie, ¨uber die wir m¨oglicherweise bald mehr erfahren werden durch die Experimente bei LHC, durch Experimente mit Neutronen oder durch astrophysikalische Beobachtungen oder die von der Natur realisierte Zahl der Dimensionen (mit Experimenten zu Newtons Gravitationsgesetz bei kleinen Abst¨anden zu ¨uberpr¨ufen, wie dies mit mit Neutronen, Atomen oder Pendelexperimenten geschieht).

Bei zahlreichen anderen Fragen liegt der Ball bei der Theoretischen Physik: bei der Quantisie- rung der Gravitation (an der schon Einstein scheiterte), der Erkl¨arung der kosmologischen Konstan- te oder der Beschreibung von Schwarzen L¨ochern, die wohl spektakul¨arste Voraussage der ART.

(19)

Die Theorie von Schwarzen L¨ochern findet zunehmend in verschiedensten Disziplinen Eingang, insbesonders wegen der so genannten AdS/CFT-Dualit¨at (auch

”Eich/Gravitations-Dualit¨at“ ge- nannt).

Die AdS/CFT-Dualit¨at beruht auf einer bemerkenswerten Entdeckung: die Anzahl der Raum- dimensionen ist gewissermassen Ansichtssache. Eine Theorie mit Gravitation in z. B. drei Dimen- sionen kann ¨aquivalent sein zu einer Theorie ohne Gravitation in zwei Dimensionen. Konzeptuell ist das ¨ahnlich zu einem Hologramm, wie man es auf Geldscheinen und Kreditkarten findet: das Bild erscheint uns dreidimensional, obwohl es sich eigentlich nur um eine zweidimensionale Oberfl¨ache handelt. Je nach Anwendung kann die h¨oher- oder die niedrigdimensionale Beschreibungsweise vorteilhaft sein. Man kann die AdS/CFT-Dualit¨at daher in zwei Richtungen verwenden: entweder man ben¨utzt Methoden, die ohne Gravitation auskommen, um etwas ¨uber Systeme mit Gravitati- on zu lernen – z. B. ¨uber das fr¨uhe Universum oder quantenmechanische Schwarze L¨ocher – oder man verwendet gravitationsphysikalische Methoden um etwas ¨uber Systeme ohne Gravitation zu lernen. Ein erfolgreiches Beispiel ist die Anwendung der AdS/CFT-Dualit¨at auf Hadronphysik und Schwerionenkollisionen. Neben den ¨ublichen Forschungsbereichen wie ART, Astrophysik, mathe- matische Physik und Quantengravitation, gibt es aufgrund der AdS/CFT-Dualit¨at auch f¨ur die Quantenchromodynamik, die Stringtheorie, die Kosmologie und sogar die Festk¨orperphysik zum Teil methodische und zum Teil direkte Ankn¨upfungspunkte zur Theorie der Schwarzen L¨ocher und der Gravitationsphysik.

2.8 Suche nach dunkler Materie

Man kann Modelle entwickeln, die ohne dunkle Materie auskommen. Dazu geh¨ort die MOND- Theorie, eine modifizierte Newtonsche Dynamik. Ein starker Hinweis aber, dass es dunkle Masse tats¨achlich gibt, ist der so genannte

”Bullet Cluster“, bei dem zwei Galaxiencluster einander durch- dringen. Die r¨aumliche Trennung des Massenschwerpunkts des

”Bullet Clusters“ vom Schwerpunkt der baryonischen Masse kann nur schwer mit einer Ab¨anderung des Graviationsgesetzes erreicht werden.

Ein Viertel der Energiedichte unseres Universums besteht aus Materie. Davon ist das meiste eine derzeit noch unbekannte Materieform, die dunkle Materie. Denn die uns bekannte Materie in Form von Neutronen, Protonen, Elektronen und Neutrinos macht nur 4,6 % der gesamten Energiedichte des Universums aus.

Gute Kandidaten f¨ur dunkle Materie sind Teilchen, die schwach wechselwirken und sehr schwer sind: so genannte WIMPS (engl. Abk¨urzung f¨ur

”Weakly Interacting Massive Particles“). Einen besonders interessanten WIMP-Kandidaten f¨ur die dunkle Materie liefern supersymmetrische Er- weiterungen des Standardmodells, n¨amlich das leichteste supersymmetrische Teilchen, das f¨ur den fehlenden Massenbeitrag in Frage kommen k¨onnte. Die Masse liegt gerade in einem Bereich, in dem man große Hoffnung hat, das Neutralino am LHC nachzuweisen.

Das Axion ist ein weiterer Kandidat, der f¨ur die dunkle Materie im Universum verantwortlich sein k¨onnte. Urspr¨unglich war es von Roberto Peccei und Helen Quinn zur Erkl¨arung der expe- rimentell beobachteten starken Unterdr¨uckung der CP-Verletung in der durch die QCD beschrie- benen starken Wechselwirkung vorgeschlagen worden. Das Axion ist Tr¨ager einer hypothetischen Spin-Masse-Wechselwirkung und konnte bis jetzt noch nicht experimentell nachgewiesen werden.

Um f¨ur die dunkle Materie aufkommen zu k¨onnen, darf seine Masse aber nur im Bereich von etwa 10−5eV liegen. Massen- und Kopplungsschranken f¨ur den direkten Nachweis der Spin-Masse- Wechselwirkung kommen von Experimenten mit ultrakalten Neutronen am ILL in Grenoble, die Quantenzust¨ande im Gravitationsfeld ausmessen, und von Torsionspendelexperimenten. Experi-

(20)

mente mit Neutronen zur Suche nach einem permanenten elektrischen Dipolmoment bieten die besten indirekten Grenzen auf eine Axionkopplung.

2.9 Kosmische Strahlung

Bis in die fr¨uhen F¨unfzigerjahre stellten hochenergetische geladene Teilchen der kosmischen Strah- lung die einzige M¨oglichkeit dar, Elementarteilchen und deren Eigenschaften bei extremen Energien zu untersuchen. Auch heute ¨ubersteigen die in der kosmischen Strahlung vorkommenden Energi- en die im Labor erreichbaren noch um viele Gr¨oßenordnungen. Daher stellt die Erforschung der kosmischen Strahlung und ihrer Quellen einen zentralen Gegenstand der Forschung im Bereich Astroteilchenphysik dar. Die kosmische Strahlung besteht zu etwa 98 % aus Atomkernen (davon etwa 87 % Protonen, 12 % Heliumkerne, und noch schwere Kerne bis zu den Aktiniden) und zu 2 % aus Elektronen. Bereits die Existenz derart hochenergetischer Teilchen (1015–1020eV) wirft eine Reihe von Fragen auf: Woher kommen diese hochenergetischen Teilchen? Was sind ihre Quel- len und wie werden sie zu diesen Energien beschleunigt? Wie breitet sich die kosmische Strahlung durch das interstellare Medium aus und wie werden deren Eigenschaften dabei ver¨andert? Was sind die h¨ochsten in der Natur vorkommenden Teilchenenergien?

Die Experimente der Astroteilchenphysik haben wiederholt neue Beobachtungsfenster f¨ur die Erforschung des Ph¨anomens der kosmischen Strahlung aufgetan. So werden Teilchen der geladenen kosmischen Strahlung nicht mehr nur direkt bzw. indirekt (etwa durch Luftschauerexperimente) vermessen, sondern auch ¨uber Sekund¨arteilchen des elektromagnetischen bzw. Neutrinospektrums untersucht. Einen besonderen Stellenwert nimmt seit den fr¨uhen Neunzigerjahren die Hochenergie- Gamma-Astronomie ein. So werden einerseits Detektorkonzepte der Teilchenphysik zur Beobach- tung astrophysikalischer Objekte genutzt, anderseits astrophysikalische Untersuchungen mit di- rektem Bezug zur Teilchenphysik (z. B. dunkle Materie, fr¨uhes Universum) durchgef¨uhrt. Eines der besten Beispiele derartiger Partnerschaften stellt das

”Fermi Gamma Ray Space Observato- ry“ dar, das vom ersten instrumentellen Konzept bis zur gemeinsamen Interpretation der Daten von Teilchen- und Astrophysikern gemeinsam realisiert wurde. Als Weltraumobservatorium im Be- reich von Gammastrahlung im GeV-Bereich wird insbesondere das Hauptinstrument

”Large Area Telescope“ (LAT) in den kommenden Jahren grundlegende Fragen zu physikalischen Prozessen in extremen Umgebungen bzw. m¨ogliche Signaturen der Annihilation von dunkler Materie in verschie- denartigen Szenarien zu beantworten suchen.

”Fermi“ konnte bereits die bislang energiereichsten und entferntesten Objekte unseres Universums, die Gammastrahlungsblitze (

”gamma ray bursts“) dazu nutzen, um signifikante Grenzen an eine etwaige Verletzung der Lorentzinvarianz zu set- zen.”Fermi“ hat ebenso neue Messungen der diffusen galaktischen Emission, der eindrucksvollsten Signatur von Wechselwirkungen von Teilchen der kosmischen Strahlung in unserer Milchstraße, durchgef¨uhrt und konnte das Spektrum kosmischer Elektronen und Positronen bis zu etwa 1 TeV vermessen.

Bei noch h¨oheren Photonenergien stellt das abfallende Spektrum (und somit der detektierba- re Teilchenfluss) der kosmischen Strahlung Weltraumexperimente auf dem Prinzip der Paarbil- dung vor noch unl¨osbare Probleme. Ab etwa 100 GeV beginnt somit der Bereich der indirekten Nachweismethoden h¨ochstenergetischer Gammastrahlung. Luftschauerexperimente unter Ausnut- zung des Cherenkovlichtes der Teilchenkaskaden auf ihrem Weg durch die Atmosph¨are stellen derzeit die beste M¨oglichkeit dar, Quellen der kosmischen Strahlung und deren Morphologie zu studieren. Das

”High Energy Stereoscopic System“ (H.E.S.S.) hat hier den Schritt von sporadi- schen Beobachtungen zur systematischen Durchmusterung des Himmels auf der Suche nach den h¨ochstenergetischen Gammastrahlungsquellen vollzogen. Somit k¨onnen wir die prim¨are Teilchen-

(21)

verteilung in Quellen der kosmischen Strahlung durch sekund¨ar produzierte Gammastrahlung bis zu einigen 1014eV untersuchen. Eine unerwartete Vielfalt von astrophysikalischen Ph¨anomen und Objekten hat sich nunmehr etabliert: Bin¨arsysteme aus massiven Sternen und kompakten Objek- ten, Supernova¨uberreste und Pulsarwindnebel, Gebiete mit aktiver Sternbildung innerhalb und außerhalb unserer Galaxie, supermassive Schwarze L¨ocher in den Kernen aktiver Galaxien, und eine Vielzahl von Objekten, deren Natur wir noch nicht entr¨atselt haben. W¨ahrend die endg¨ultige Kl¨arung des Mechanismus der Quellen der kosmischen Strahlung noch aussteht, k¨onnen wir die r¨aumliche Verteilung der hochenergetischen Gammaquellen und die Ausbreitung der kosmischen Strahlung quantitativ studieren. Die kommende Generation von Experimenten der Hochenergie- Astroteilchenphysik mit Gammastrahlen hat damit das Ziel, alle Quellen der kosmischen Strahlung in unserer Milchstraße zu kartographieren und somit die Frage nach dem Ursprung der galaktischen kosmischen Strahlung zu beantworten.

2.10 Kosmologie

In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich vor allem dank einer Reihe von Satellitenexperimenten zur Analyse der kosmischen Hintergrundstrahlung die Kosmologie von einer qualitativen zu einer quantitativen Wissenschaft entwickelt, mit sehr konkreten Querverbindungen zur Teilchenphysik.

Nach dem bahnbrechenden Nachweis von Anisotropien in der Hintergrundstrahlung durch den COBE-Satelliten der NASA und der nachfolgenden Vermessung durch WMAP (

”Wilkinson Mi- crowave Anisotropy Probe“) bildet mittlerweile der europ¨aische PLANCK-Satellit hier die Speer- spitze f¨ur die Weiterentwicklung der Kosmologie zu einer Pr¨azisionswissenschaft, die wichtige Ein- schr¨ankungen f¨ur Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik vorgeben kann.

Bereits jetzt liefert die Kosmologie eine recht genaue Vorgabe ¨uber den Anteil dunkler Materie an der Zusammensetzung des Universums, die unabh¨angig von den astrophysikalischen Hinweisen zum Beispiel ¨uber Rotationskurven von Galaxien oder Gravitationslinsen sind. Dar¨uber hinaus ver- langt die primordiale Nukleosynthese zwingend, dass die dunkle Materie nichtbaryonischer Natur ist, das heißt aus Teilchen jenseits des Standardmodells besteht.

Die Entwicklung des extrem fr¨uhen Universums wird umgekehrt von der Kern- und Teilchen- physik mit großer Genauigkeit festgelegt. Die Verteilung der leichten Elemente h¨angt sehr emp- findlich von der primordialen Materie-Antimaterie-Asymmetrie ab, die damit gut eingegrenzt ist, deren Erkl¨arung aber Physik jenseits des Standardmodells ben¨otigt.

Die Experimente zur Produktion und Erforschung des Quark-Gluon-Plasmas sind neben ihrer Bedeutung f¨ur die Theorie der starken Kernkr¨afte auch wichtig f¨ur das Verst¨andnis des fr¨uhen Universums, das w¨ahrend der ersten 20 Mikrosekunden nach dem Urknall von einem Quark-Gluon- Plasma homogen ausgef¨ullt war, bevor sich im Anschluss Kernteilchen formen konnten.

Die Symmetriebrechung der elektroschwachen Wechselwirkung durch den Higgs-Mechanismus markiert einen noch viel fr¨uheren Zeitpunkt in der Entwicklung des fr¨uhen Universums, der in gewissen Erweiterungen des Standardmodells ein so genannter Phasen¨ubergang erster Ordnung sein k¨onnte, der dann zu bedeutenden Nichtgleichgewichtsph¨anomenen f¨uhren w¨urde, mit astro- physikalisch und kosmologisch bedeutsamen Konsequenzen.

Im Zusammenhang mit einer Vereinheitlichung aller Grundkr¨afte k¨onnte schließlich die aus kosmologischen Gr¨unden postulierte Inflation im fr¨uhen Universum stehen, ¨uber die der PLANCK- Satellit erstmals pr¨azise Aussagen liefern k¨onnte.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Nuclear & Particle Physics Wiley (2. Aufl., April 2009). „standard topics

Jones, Physics of Particle Accelerators, PHYS 4722, Circular Accelerators Lecture,

Figure 27.2: Mean energy loss rate in liquid (bubble chamber) hydrogen, gaseous helium, carbon, aluminum, iron, tin, and lead. Radiative effects, relevant for muons and pions,

Photonuclear and electronuclear interactions at still higher energies : At very high photon and electron energies, where the bremsstrahlung and pair production cross-sections

• Auch die zurückgestreuten ˛-Teilchen haben keinen bemerkbaren Energieverlust erlitten (ihre Szintillationen sind etwa gleich hell), sie sind also (im wesentlichen) nur mit

ist schlicht durch nichts Bekanntes zu beeinflussen. 4 Sie hat für jedes Radionuk- lid einen bestimmten Wert und konnte daher auch erfolgreich zur Identifizierung bekannter oder

6.4 Die erste Beobachtung der natürlichen Linienbreite bei Bildung und Zerfall eines neuen Elementarteilchens: die !-Resonanz des Nukleons, hier gebildet bei Streuung von Pionen an

Drehung im Raum absolute Richtung Drehimpuls Translation in der Zeit absolute Zeit Energie. Eichtransformation (QM)