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Archiv "Kreuzschmerzen (3): Rückenschmerzen eine Epidemie unserer Tage?" (05.11.1993)

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MEDIZIN ZUR FORTBILDUNG

Kreuzschmerzen (3)

Rückenschmerzen

eine Epidemie unserer Tage? Heiner Raspe

und Thomas Kohlmann

Ende der 40er Jahre lag die Häufigkeit von aktuellen Rückenschmerzen in der Bevölkerung höchstwahrschein- lich unter 20 Prozent ; heute erreicht die Punktprävalenz unter Erwachsenen in verschiedenen Städten der BRD 40 Prozent. Etwa zehn Prozent berichten von ausgeprägten Schmerzen und erheblichen Behinderungen. Nur etwa 15 Prozent der Befragten gaben an, noch nie an Rücken- schmerzen gelitten zu haben. Dies weist auf eine epide- mische Verbreitung des Leidens hin. Gleiches zeigen zeit- bezogene Analysen der Statistiken der Gesetzlichen Kran- ken- und Rentenversicherung. Aus postalischen Befragun-

gen von Einwohnern dreier westdeutscher Städte ergibt sich, daß schon Jüngere sehr häufig von Rückenschmerzen betroffen sind. Auffällig niedrige Prävalenzraten finden sich in den höchsten Altersgruppen. Bei wahrscheinlich guter Spontanprognose einzelner Attacken ist insgesamt von einem chronisch-rezidivierenden Verlauf auszugehen.

Rückenschmerzen kommen selten isoliert vor ; sie sind Be- standteil komplexer Beschwerdensyndrome und mit Schmerzen und Störungen der Propriozeption und Intro- zeption verbunden. Dieser Befund sollte weitere ätiologi- sche, therapeutische und präventive Überlegungen leiten.

1. Einleitung

M

it dem Begriff „Epidemie"

verbindet sich unwillkür- lich die Vorstellung eines mit bedrohlicher Häufig- keit um sich greifenden Gesundheits- problems. Aktuelle Daten aus allen Zweigen der Sozialversicherung bele- gen rasch die Berechtigung dieser Konnotation für den Bereich der Rük- kenleiden (Nummer 720-724 nach der 9. Revision der Internationalen Krankheitsklassifikation ICD): Rük- kenschmerzen rangieren immer auf einem der ersten Plätze — etwa in der Statistik der Arbeitsunfähigkeits- und Krankenhausfälle, der vorzeitigen Be- rentungen und der medizinischen Re- habilitation durch die Gesetzliche Rentenversicherung (Tabelle 1).

Zeitbezogene Analysen verdeut- lichen eine Zunahme der durch Rük- kenschmerzen veranlaßten Leistun- gen, besonders deutlich im Bereich der Rehabilitation: Bei einer leicht abnehmenden Gesamtzahl von Heil- verfahren 1980, 1985 und 1990 hat der Anteil der Rehabilitanden mit der Hauptdiagnose Dorsopathie (ICD 720-724) von 20 Prozent über

30 Prozent auf zuletzt 37 Prozent zu- genommen. Mehr als ein Drittel aller Aufwendungen der Gesetzlichen Rentenversicherung für die Medizi- nische Rehabilitation, das heißt mehr als 1,1 Milliarden Mark, entfielen 1991 auf diese Indikationsgruppe.

Es wäre interessant zu erfahren, welche anderen Diagnosen von den Dorsopathien tatsächlich oder durch Umetikettierung verdrängt wurden.

Man wird sich hüten müssen, die skiz- zierten Veränderungen mit Trends der tatsächlichen Inzidenz oder Präva- lenz des Leidens gleichzusetzen. Sie reflektieren wahrscheinlich mehr den (sozial)medizinischen Umgang mit Rückenschmerzen als deren wahre epidemiologische Situation.

2. Bevölkerungs- bezogene Studien:

Methoden und Ergebnisse

Schmerz ist eine unangenehme Sinnesempfindung von exklusiv sub-

Institut für Sozialmedizin der Medizinischen Universität Lübeck (Direktor: Prof. Dr. med.

et phil. Heiner Raspe)

jektivem Charakter. Nur der/die Be- troffene kann über das eigene Schmerzerleben umfassend Auskunft geben. Es gibt keinen objektiven

„Schmerztest". Dies macht den Schmerz-Fragebogen zu einer beson- ders angemessenen Erhebungsme- thode, auch und gerade in epidemio- logischen Studien.

Seit 1984 haben wir in verschie- denen Stichproben von deutschen Einwohnern in Hannover, Bad Säk- kingen und Lübeck postalisch immer gleiche Fragen gestellt: „Haben Sie heute Rückenschmerzen" — „Hatten Sie während der letzten zwölf Mona- te Rückenschmerzen?" — „Hatten Sie früher — vor mehr als zwölf Monaten

— schon einmal Rückenschmerzen?".

Solche Fragen sind leider nur scheinbar einfach: Es gibt ein Haupt- problem: Wo ist „der Rücken"?

Eine klassische Definition (1) lo- kalisiert ihn dorsal zwischen dem Un- terrand der zwölften Rippe und den Glutealfalten. Die obere Grenze ist auch der anatomisch geschulten (Selbst) Wahrnehmung nicht sicher zugänglich; zudem wird von vielen auch die Region der thorakalen Wir- belsäule als „Rücken" bezeichnet:

Al -2920 (40) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 44, 5. November 1993

(2)

10 538 793

AR Punkt-P Jahres-P Lebens- zeit-P N

Bad Säckingen

1991 541 80% 42% 71% 84%

Lübeck

1992 3 858 81% 40% 73% 82%

Hannover

1989 31%

38%

85%

85%

Tabelle 2: Prävalenzen von Rückenschmerzen in Hannover, Bad Säckingen und Lübeck

P = Prävalenzrate, AR = Antwortrate

Tabelle 1: Dorsopath en (ICD-9: 720-724) im Spiegel der deutschen Gesundheitsstatistik

Jahr Rang

Arbeitsunfähigkeitsfälle 1989 Männer: 1679 1 je 10 000 Pflichtmitglieder Frauen: 1082 3 (ohne Rentner) in der gesetzlichen

Krankenversicherung')

Krankenhausfälle 1989 Männer u. 42 2

je 10 000 Versicherte in der gesetz- Frauen lichen Krankenversicherung')

Stationäre medizinische 1990 Männer: 108 1

Heilbehandlungen Frauen: 110 1

in der gesetzlichen Rentenversiche- rung2) je 10 000 Pflichtmitglieder 3)

Frührenten 1990 Männer: 18 1

wegen Berufs- und Erwerbs- Frauen: 13 1

unfähigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung') je 10 000 Pflichtmitglieder' )

1) Daten des Gesundheitswesens, Ausgabe 1991.

2) VDR Statistik Rehabilitation des Jahres 1990.

3) Mitglieder mit Pflichtbeiträgen am Stichtag (Statistisches Jahrbuch 1992)

Deshalb zeigt die unserem Fragebo- gen vorangestellte Zeichnung eine größere „region of interest". Sie mar- kiert unter Aussparung der Schultern den gesamten Bereich zwischen BWK 1 und den Glutealfalten. Auf sie beziehen sich die unten genann- ten Daten.

Eine zweite Schwierigkeit be- steht darin, daß die genannten Fra- gen im Bereich niedriger Schmerz- intensitäten auch Steifigkeits- oder Druckgefühle und andere Beschwer- den miterfassen dürften (11). Sie ha- ben vermutlich eine hohe Sensitivi- tät, aber keine vollständige Spezifi- tät.

Schließlich kommt es auf den Kontext der Fragen an: Geht es in der betreffenden Studie vor allem um Rückenschmerzen (wie in den Studi- en in Bad Säckingen und Lübeck), oder wird nach ihnen nur am Rande gefragt (wie in Hannover)? Im ersten Fall ist mit einer größeren Häufigkeit von „ja"-Antworten zu rechnen.

Die Tabelle 2 enthält, entspre- chend unseren drei Fragen, Angaben zur Punkt-, Einjahres- und Lebens- zeitprävalenz von Rückenschmerzen.

Die Angaben beziehen sich im- mer auf die in der Einwohnermelde- datei geführten 25- bis 74jährigen deutschen Einwohner der genannten Städte, aus deren Grundgesamtheit jeweils repräsentative Zufallsstich- proben gezogen wurden. Der Anteil verwertbarer Fragebögen übersteigt in jedem Fall 80 Prozent, bezogen auf die prinzipiell erreichbaren, also nicht seit Stichprobenziehung ver- storbenen oder verzogenen Perso- nen.

„Heute" schildern sich zwei Fünf- tel aller Befragten als aktuell von Rük- kenschmerzen belastet. Die mittlere Schmerzintensität dieser Rücken- schmerzen liegt (auf einer numeri- schen Rating-Skala von 1= kaum spür- bare bis 10 = unerträgliche Schmer- zen) in Lübeck bei 4,4 (s = 2,1).

In allen eigenen Studien gaben Frauen häufiger Rückenschmerzen an als Männer, ohne daß die Diffe- renzen immer statistische Signifikanz erreichten. Bedeutsam und verwir- rend scheint uns eine zuverlässig zu

reproduzierende Altersabhängigkeit der Prävalenzen (Abbildung 1). Die aktuellen Rücken- (und auch die Ge- lenk-)Schmerzen haben ein Präva- lenzmaximum in der Gruppe der 55- bis 59jährigen. Dies ist bei den sub- jektiven Gelenkschwellungen anders, es entspringt also wohl nicht einer unspezifischen Antworttendenz.

Eine genauere Analyse der An- gaben der Lübecker Probanden zur Lebenszeitprävalenz zeigt zudem, daß Personen der jüngsten Alters- gruppe (25 bis 29 Jahre) in knapp über 80 Prozent schon einmal mit Rückenschmerzen zu tun hatten, während es bei den 70- bis 74jährigen

„nur" knapp über 60 Prozent waren (Daten nicht gezeigt).

Das Muster ist für aktuelle Be- schwerden auch in anderen Untersu- chungen (2) und für die Nackenregi- on (4) gefunden worden; es ist ange- sichts der altersabhängig zunehmen- den strukturellen Veränderungen am Achsenorgan (Diskusdegeneration, Spondylose, Spondylarthrose, osteo- porotische Deformitäten) nicht leicht zu verstehen. Es ist ebenso an biolo- gische wie an psychosoziologische Erklärungen zu denken.

Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 44, 5. November 1993 (41) A1-2921

(3)

nein

1 nein nein 50

nein nein nein 2

3 4

ja nein

ja

7 9 5 nein

ja ja ja

ja ja 5

6 7

3 3 5 18

8 ja ja ja

nein nein ja

nein ja nein U-Jahr

Frage

1988 RS heute

1989

RS letztes Jahr*) heute Tabelle 3: Der Verlauf von Rückenschmerzen über 12 Monate (Hannover, N 692/793)

*) für länger als eine Woche

60 50 40 30 20 10

0 25-29 -34 -39 -44 -49 -54 -59 -64 -69 70-74 alle

Alter in Jahren

BI Rückenschmerzen k Gelenkschmerzen 0-Schwellungen MEDIZIN

Die Prognose

von Rückenschmerzen

Immer wieder ist auf die exzel- lente Prognose akuter Rücken- schmerz-Episoden hingewiesen wor- den. Die Ergebnisse unserer Studien sprechen eine andere Sprache: Re- trospektiv geben die in Lübeck von Rückenschmerzen Betroffenen an, im Mittel seit 17 Jahren (s = 11,1, Median = 14) an Rückenschmerzen zu leiden. 92 Prozent derjenigen mit Rückenschmerzen „heute" berichten über Rückenschmerzen auch im letz- ten Jahr, die sich im Median an 167 Tagen manifestiert hätten. Dabei be- schreiben 25 Prozent der so Betroffe- nen diese Rückenschmerzen als täg- lich oder dauernd auftretend.

In Hannover hatten wir 1989 ei- ne Gruppe von 758 unausgewählten Probanden der in Tabelle 1 genann- ten großen Stichprobe nach zwölf Monaten ein zweites Mal befragen können. Die Tabelle 3 zeigt, daß fast zwei Drittel derjenigen, die bei der Erstbefragung Rückenschmerzen

„heute" angegeben hatten, auch im folgenden Jahr für länger als eine Woche und zum Zeitpunkt der Zweitbefragung betroffen waren.

Zusätzlich hatten 30 Prozent derjenigen ohne initiale Rücken- schmerzen während und/oder am Ende des folgenden Jahres Rücken- schmerzen erlebt. Zusammengefaßt muß man davon ausgehen, daß diese typischerweise chronisch-rezidivie- rend auftreten. Im zweiten Lebens-

ZUR FORTBILDUNG

Abbildung 1: Prävalenz rheumatischer Beschwerden (beide Geschlechter)

drittel stellen sie die häufigste Be- schwerde überhaupt dar. Ob die Pro- gnose im intraindividuellen Langzeit- Verlauf so günstig ist, wie es die in Abbildung 1 gezeigten Querschnitts-

daten als möglich erscheinen lassen, bleibt abzuwarten. Bisher liegen weltweit so gut wie keine Daten aus langfristigen Kohortenstudien vor.

Rückenschmerzen als Element komplexer Beschwerdensyndrome

Für das Verständnis und die Be- handlung von Rückenschmerzen we- sentlich ist die Einsicht, daß sie kaum isoliert vorkommen. Fast immer sind sie in komplexe Schmerz- und Be- schwerdensyndrome eingebunden.

„heute" in Hannover 1986-1988. n = 8907/10 538

An einem Teil der Hannover-Daten konnten wir zeigen (8), daß aktuelle Rückenschmerzen in über 80 Prozent aller Fälle mit Nackenschmerzen und/oder Gelenkschmerzen verge- sellschaftet sind. In einem Teil der Lübecker Stichprobe (N = 1367) wurde nach weiteren muskuloskelet- talen und anderen Schmerzen („heu- te" und „während der letzten zwölf Monate") gefragt. Die Tabelle 4 be- legt für jede der zehn Lokalisationen eine hochsignifikant größere Häufig- keit von aktuellen Schmerzen bei de- nen, die zur gleichen Zeit („heute") von Rückenschmerzen betroffen sind. Diese Personen geben andere Schmerzen bis zu 5,6mal häufiger an.

In Bad Säckingen hatten wir ne- ben Rückenschmerzen auch nach an- deren körperlichen („funktionellen") Beschwerden gefragt. Wir verschick- ten die Beschwerden-Liste von v.

Zerssen und Koeller (13). Diese ent- hält 24 Beschwerden, an denen man zwischen „stark" (3 Punkte) und „gar nicht" (0 Punkte) leiden kann (Ska- lenbereich 0-72 Punkte). Im Mittel wurden von allen 438 Probanden 17,3 Punkte erreicht. Probanden mit Rük- kenschmerzen „heute" erzielten 22,9 Punkte, Probanden ohne aktuelle Rückenschmerzen 13,1 Punkte (p <

0,001). Die Gruppe derer, die nach ihren Angaben bisher nie Rücken- schmerzen hatten, kam auf 5,4 Punkte.

Nach diesen Befunden scheint es uns diskussionswürdig, ob und

Al -2922 (42) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 44, 5. November 1993

(4)

wieweit man das Rückenschmerz- Problern ausschließlich auf lokale Störungen in einem oder mehreren Bewegungssegmenten zurückführen kann. Aus unseren Daten ergibt sich der Eindruck eines weiterreichenden Beschwerdensyndroms, in dem ne- ben einer Aktivierung des nozizepti- ven Systems auch eine veränderte Propria- und Introzeption eine Rolle spielen.

"Unspezifische"

Rückenschmerzen

Damit ist die Frage nach der Pathoätiologie von Rückenschmer- zen in der Bevölkerung angespro- chen. Ohne gerraueren Darstellun- gen vorgreifen zu wollen, haben wir auch in unserer Studie den Eindruck gewonnen, daß der weit überwiegen- de Anteil der von uns erfaßten Rük- kenschmerzen als "unspezifisch" be- zeichnet werden muß. Wir meinen damit folgendes: Der Einsatz von einfachen klinischen (auch psychia- trischen) und technischen sowie ma- nualdiagnostischen Mitteln (wie sie in dieser Kombination in der primär- ärztlichen Praxis selten zur Verfü- gung stehen dürften) führte in weni- ger als der Hälfte der Fälle zur siche- ren Identifikation

~ einer Grundkrankheit (zum Bei- spiel Spondylarthropathie ),

~ eines wesentlichen Pathomecha- nismus (beispielsweise Irritation ei- ner Radix, "Blockierung") oder

~ der irritierten Struktur (unter an-

-29 -34 -39 -44 -49 -54 -59 -64 -69 -74 Altersgruppen

RS-Grade

-Keine RS - Grad I k il Grad II

m

Grad 111

Abbildung 2: Aktuelle Rückenschmerzen in Lübeck, Prävalenz unterschiedlicher Grade in zehn Alters- gruppen (n = 3109)

derem Facettengelenk, Ligament, Diskus, Muskel).

Die Etikettierung von Rücken- schmerzen als "unspezifisch" ist und bleibt selbstverständlich eine "Dia- gnose" auf Widerruf, auch wenn sie (unter den Bedingungen einer pri- märärztlichen Praxis) an wenigstens 70 Prozent aller daran Leidenden vergeben werden muß (3). Man wird sie auch nur nach einem standardi- sierten Ausschluß abwendbar gefähr- licher Störungen stellen dürfen (sie- he auch Mau et al. in dieser Serie).

Sie soll nicht die klinische Aufmerk- samkeit einschläfern, sondern Arzt und Patient vor einer Überdiagnostik und vor vorschnellen (in der Regel

biomechanischen) Festlegungen be- wahren. Beides ist wahrscheinlich nicht selten Ausgangspunkt vermeid- barer iatrogener Chronifizierungen.

Zur Graduierung von Rückenschmerzen

Tabelle 4: Aktuelle Schmerzen (%) bei Personen mit und ohne Rückenschmerzen (RS)

Unter diesen Umständen scheint es wichtig, neben einer Klassifikation von Rückenschmerzen (spezifische versus unspezifische, unter diesen beispielsweise diskogene, arthroge- ne, myogene, neurogene etc.) auch eine Graduierung zu entwickeln. Da- für ergeben sich in der Literatur eini- ge Hinweise. V. Korff et al. haben sich ( 5) an den Schmerzen und dem Ausmaß Rückenschmerz-bezogener Behinderungen orientiert. In diesem Sinne haben wir bei allen in Bad Säk- kingen und in Lübeck untersuchten Personen auch nach der Schmerzin- tensität (siehe oben) und nach Ein- schränkungen bei zwölf alltäglichen Tätigkeiten gefragt (beispielsweise

"Können Sie sich strecken, um ein Buch von einem hohen Schrank oder Regal zu holen?"). Mit einer solchen ADL-Liste (Activities of Daily Li- ving) läßt sich die aktuelle Funkti- onskapazität bestimmen und in einer Prozentzahl ausdrücken (9). Eine Schmerzintensität von fünf und mehr Punkten und eine Funktionskapazi- tät von 70 Prozent und weniger gal- ten uns als schwerere Beeinträchti- gungen. Kombiniert man beide Merkmale in einem einfachen Sum- menindex, dann lassen sich Rücken-

"heuteu (lübeck 1992, N

=

1367}

Region alle Prdn RS heute

nein ja

Kopf 18 12 27

Gesicht, Kiefer, Ohr 7 3 12

Nacken 36 18 60

Schultern 35 16 60

Arme oder Hände 23 11 41

Brustkorb 8 3 14

Bauch oder Magen 9 6 13

Hüften 23 8 45

Unterleib 7 3 14

Beine oder Füße 33 19 53

Mittlere Anzahl 1,7 0,9 3,0

A1-2924 (44) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 44, 5. November 1993

(5)

WT 1990/91

438

HL 1990/92

3109 N

Keine RS RS ohne S und B RS mit S oder B RS mit S und B

59%

21 13 7

61%

17 12 10

Tabelle 5: Die Häufigkeit von Rücken- schmerz-Groden in Bad Säckingen (WT) und Lübeck (HL)

S = Schmerzintensität 5, B = Funktionskapazität 5_ 70%

MEDIZIN

schmerzen wie in Tabelle 5 gezeigt graduieren. Rund ein Zehntel der Bevölkerung leidet danach an schwe- ren (in aller Regel chronischen) und unseres Erachtens behandlungsbe- dürftigen Rückenschmerzen.

Die Häufigkeit der vier Grade der Rückenschmerzen (Abbildung 2) weist eine jeweils besondere Alters- abhängigkeit auf. Während die Prä- valenz von Rückenschmerzen mit ge- ringer Schmerzintensität und Behin- derung (Grad I) in den jüngeren Al- tersgruppen besonders hoch ist, zeigt sich für schwere Rückenschmerzen (mit hoher Schmerzintensität und ausgeprägter Behinderung, Grad III) eine annähernd lineare Häufigkeits- zunahme mit steigendem Alter. Das oben geschilderte anscheinend „pa- radoxe" (2) Prävalenz-Muster ver- liert an Präganz.

Aspekte der

aktuellen Versorgung von Rückenschmerz-Kranken Fragt man (in Lübeck) Personen mit nach unserer Definition aktuell schweren (und chronischen) Rücken- schmerzen nach ihrer ärztlichen Be- handlung im letzten Jahr, dann ergibt sich folgendes Bild: 87 Prozent such- ten im letzten Jahr einen Arzt auf (versus 47 Prozent bei leichtgradigen Rückenschmerzen); 41 Prozent wur- de Krankengymnastik (Grad I: 13 Prozent) und 63 Prozent physiothe- rapeutische Anwendungen (Grad I:

36 Prozent) verordnet. Als mittlere Zahl der Arztbesuche im letzten Jahr ergibt sich nach den Angaben der Probanden bei schweren Rücken- schmerzen 7,2, bei leichten 1,6. Diese Zahlen werfen ein Schlaglicht auf heutige Behandlungsroutinen und könnten der Ausgangspunkt von Dis- kussionen in einem entsprechend ausgerichteten Qualitätszirkel wer- den.

3. Rückenschmerzen - eine Epidemie unserer Tage?

Eine Zusammenstellung aller bekannten Studien zur Häufigkeit von Rückenschmerzen in der offenen Bevölkerung zeigt (10), daß die oben genannten Prävalenzraten die höch-

ZUR FORTBILDUNG

sten sind, die jemals berichtet wur- den. Die älteste uns bekannte Studie aus den Jahren 1948 ff. (6) beobach- tet in Großbritannien eine Punktprä- valenz von 15 Prozent für „present back-hip sciatic pain". Dagegen ver- mitteln die von uns gefundenen Ra- ten von 31 Prozent bis 42 Prozent den Eindruck einer exorbitanten Steige- rung. Wir können allerdings nicht ausschließen, daß ein Teil der Diffe- renzen auf unterschiedliche Erhe- bungsmethoden zurückzuführen sind.

In jedem Falle haben aber die durch Rückenschmerzen verursach- ten (beziehungsweise ihnen zuge- schriebenen) (sozial)medizinischen Leistungen dramatisch zugenommen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien (12) und an- deren europäischen Ländern (7).

Analysiert man die in der Literatur angegebene Häufigkeit der (nach sehr unterschiedlichen Kriterien de- finierten) schweren Rückenschmer- zen, dann findet sich seit Jahrzehn- ten eine konstantere Punktprävalenz im Bereich von zehn Prozent bis 15 Prozent (10). Es ist sehr wahrschein- lich, daß die herrschende Rücken- schmerz-Epidemie von leichten Rük- kenschmerz-Formen geprägt ist. Die- se Hinweise belegen sehr dringend die Notwendigkeit einer Graduie- rung von Schmerzen — auch und gera- de, wenn sie (vorläufig) als „unspezi- fisch" gelten müssen.

Über die Ursachen der epidemi- schen Verbreitung kann nur speku- liert werden: Es könnte sich um ei- nen Anstieg der wahren Inzidenz und/oder Prävalenz von Rücken- schmerzen handeln. Hierfür sind so- wohl biomechanische (zum Beispiel physische Inaktivität, ständiges Sit- zen) wie psychosoziologische Hypo- thesen zu erwägen (zum Beispiel Rücken als Projektionsfeld psychoso- zialer Spannungen). Es könnte sich aber auch der primäre und/oder sozi- almedizinische Umgang mit diesen geändert haben. Es ist nicht ausge- schlossen, daß sie heute eher als frü- her wahrgenommen, berichtet oder zum Anlaß von Arztkonsultationen und (aus epidemiologischer Sicht we- nig erfolgreichen) Behandlungsver- suchen genommen werden.

In jedem Falle scheinen Rücken- schmerzen heute zu einer leicht mit- teilbaren und sozial akzeptablen Form einer körperlichen Störung oder Krankheit geworden zu sein. Ih- re „ansteckende" Attraktivität könn- te auch in den vorherrschenden bio- mechanischen Erklärungsmodellen gesucht werden.

Deutsches Ärzteblatt

90 (1993) A 1 -2920-2925 [Heft 44]

Die in Klammern gesetzten Zahlen bezie- hen sich auf das Literaturverzeichnis beim Sonderdruck, anzufordern über die Verfas- ser.

Anschrift der Autoren:

Prof. Dr. med. Dr. phil.

Heiner Raspe

Dipl.-Soz. Thomas Kohlmann Institut für Sozialmedizin der Medizinischen Universität St.-Jürgen-Ring 66 23564 Lübeck

Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 44, 5. November 1993 (45) A1-2925

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