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Archiv "Der Autor dieses Beitrages: Richard Smith" (02.10.1998)

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eltweit befinden sich die meisten Gesundheitssyste- me in einer Krise. Haupt- grund dafür ist die Unfähigkeit, auf die breiter werdende Kluft zu reagie- ren zwischen dem, was bei uneinge- schränkten Ressourcen möglich wäre, und dem, was man sich tatsächlich lei- sten kann. Eine mögliche Reaktion wäre, die notwendige Rationierung von medizinischen Leistungen offen anzusprechen. Der Gouverneur des US-Bundesstaates Oregon, der Arzt John Kitzhaber, hat es so ausgedrückt:

„Die Frage, welche Leistungen im Gesundheitssystem erbracht werden sollen, ist sicherlich die schwierigste, die kontroverseste, aber möglicher- weise die wichtigste. Sie ist das sine qua non einer Gesundheitsreform.

Deshalb muß ein Prozeß zur Lösung dieses Problems in Gang gesetzt wer- den, der nachvollziehbar ist und die Öffentlichkeit ebenso einbezieht wie die Realität begrenzter Mittel.“

Gesundheitsleistungen rationie- ren bedeutet, Patienten eine wirksa- me Behandlung vorzuenthalten. „Pri- oritäten setzen“ klingt politisch ak- zeptabler, meint aber dasselbe. Geht man von der These aus, daß die Ratio- nierung medizinischer Leistungen un- vermeidbar ist, sollte sie besser offen als verschleiert erfolgen. Folglich müssen die Verantwortlichen

im Gesundheitswesen Ratio- nierung eingestehen und ent- scheiden, wie sie vonstatten gehen soll.

Die Debatte über Ratio- nierung ist weltweit unter- schiedlich fortgeschritten. In vielen Staaten, möglicher- weise in den meisten, hat die Diskussion nicht einmal be- gonnen. Politiker geben vor, daß für Kranke alles getan wird, was getan werden muß, und die Öffentlichkeit glaubt ihnen. Staaten wie Neusee- land, die Niederlande, Schweden und Norwegen ha- ben die Unvermeidbarkeit der Rationierung akzeptiert

und die Diskussion darüber vorange- trieben. Andere wie Großbritannien befinden sich irgendwo zwischen die- sen Positionen: Die meisten Beschäf- tigten im Gesundheitswesen erken- nen die Unvermeidbarkeit von Ratio- nierung (ebenso wie die Medien), aber die Regierung weigert sich, dies einzugestehen.

Verhältnis von Kosten und Nutzen

Die meisten im Gesundheitswe- sen Tätigen erkennen, daß nicht alles für jeden getan werden kann. Die Ärzte in Großbritannien erleben dies schon seit Jahren. Aber wie läßt sich diese Unvermeidbarkeit beweisen?

Während therapeutische und dia- gnostische Verfahren bei einigen Pati- enten kosteneffektiv sind, stehen bei anderen Kosten und Nutzen nicht mehr in Relation. Ein Beispiel: Die Mortalität von Patienten mit koro- naren Herzerkrankungen und einem erhöhten Cholesterinspiegel konnte

nachweislich gesenkt werden, wenn sie mit Statinen behandelt wurden. Die Statin-Therapie ist bei schwer erkrank- ten Männern in mittlerem Alter äußert kostengünstig. Bei Frauen im Alter zwischen 45 und 54 mit Angina pecto- ris und einer Cholesterinkonzentration von 5,5 bis 6,0 nmol/l kostet dagegen jedes weitere Lebensjahr 361 000 Pfund. Dasselbe – erwiesene Wirksam- keit bei unverhältnismäßig hohen Ko- sten – trifft unter anderem auf Patien- ten mit Bluthochdruck zu, die mit ACE-Hemmern behandelt werden.

Ein weiteres Beispiel betrifft eine Empfehlung aus den USA, sechs Tests auf okkultes Blut im Stuhl durchzu- führen, um ein Kolonkarzinom zu er- kennen. Die Mehrkosten, einen Krebs zu erkennen, der von fünf vorangegan- genen Tests nicht diagnostiziert wurde, betragen fast 50 Millionen Pfund.

Möglicherweise wird damit ein Leben gerettet, aber die Kosten sind unver- tretbar hoch. Das bedeutet, daß Ent- scheidungen getroffen werden müssen, einigen Patienten eine effektive Dia- gnostik und Therapie vorzuenthalten.

In Großbritannien und anderen Ländern wird der- zeit über den Einsatz neuer, aber teurer Arzneimittel un- ter anderem gegen Alzhei- mer oder Multiple Sklerose diskutiert. Hohen Kosten steht dabei ein verhältnis- mäßig geringer Nutzen für ei- nen kleinen Kreis von Patien- ten gegenüber. Die Medika- mente heilen die Krankhei- ten nicht, verzögern aber ihre Progression. Auf diese Weise erhöhen sie die Prävalenz der Erkrankungen und damit auch die Gesamtkosten. In Großbritannien erhält der- zeit nur eine Minderheit der betroffenen Patienten die A-2453 Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 40, 2. Oktober 1998 (33)

T H E M E N D E R Z E I T FORUM

Plädoyer für eine offene Rationierungsdebatte

Die Rationierung medizinischer Leistungen ist unvermeidbar, meint der Chefredakteur des British Medical Journal.

Er fordert, eine offene Debatte zu diesem Thema zu führen.

W

Der Autor dieses Beitrages, gebürtiger Londoner, ist seit 1991 Chefredakteur des British Medical Journal. Er studierte in Edinburgh Medizin und war nach Abschluß des Studiums 1976 in schottischen und neuseeländischen Krankenhäusern tätig. Er hat sich durch zahlreiche Vor- träge, Veröffentlichungen in Zeitschriften und Büchern sowie als Autor von medizinischen Fernsehsendungen einen Namen gemacht. Richard Smith ist Professor für Medizinjournalismus an der Universität Nottingham, Vi- siting Professor an der London School of Hygiene and Tropical Medicine und unter anderem Fellow der beiden Royal Colleges of Physicians in Edinburgh und London.

Das wöchentlich erscheinende British Medical Jour- nal, herausgegeben von der British Medical Association (Ärztevereinigung mit freiwilliger Mitgliedschaft), hat eine Auflage von etwa 115 000, von denen 20 000 ins Ausland gehen. Hinzu kommen etwa 15 Auslandsausga- ben, zum Teil in anderen Sprachen als Englisch, mit einer Gesamtauflage von rund 150 000. gb

Richard Smith

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neuen Mittel. Wem sie verordnet wer- den, gleicht häufig einem Glücksspiel.

David Eddy, US-amerikanischer Herzchirurg und anerkannter gesund- heitspolitischer Experte, vertritt die Meinung, daß Grenzen in der Gesundheitsversorgung Rationierung bedeuten. Die Mammographie bei- spielsweise steht in Großbritannien Frauen zwischen 50 und 65 Jahren zur Verfügung. Frauen über 65, die eine höhere Inzidenz für Brustkrebs ha- ben, würden vermutlich mehr von die- ser Untersuchung profitieren. Ähnli- ches trifft auf Frauen unter

50 zu, vor allem, wenn sie familiär vorbelastet sind.

Hier die Altersgrenze zu ziehen heißt rationieren.

Eddy unterscheidet

„sinnvolle“ und „unsinni- ge“ Rationierung. Als Bei- spiel nennt er die Behand- lung von Patienten mit ho- hen Cholesterinwerten.

Viele Richtlinien geben ei- nen Cholesterinwert vor, ab dem eine Behandlung beginnen sollte. Aber, so Eddy, Ärzte sollten mehr als den Grenzwert im Blick haben. Eine junge Frau

mit einem Cholesterinwert über dem Grenzwert, aber ohne weitere Risiko- faktoren wird mit wesentlich geringe- rer Wahrscheinlichkeit an einer Herz- erkrankung sterben als ein alter Mann, der an Diabetes, Bluthoch- druck und Übergewicht leidet, dessen Cholesterinwert jedoch zufällig unter- halb des Grenzwertes liegt. Deshalb plädiert Eddy dafür, Ressourcen dort- hin umzuverteilen, wo sie den größt- möglichen Nutzen erzielen. Um dies zu erreichen, müssen unter anderem die Ärzte über Kosten und Nutzen nachdenken. Der Kostenaspekt medi- zinischer Leistungen wird jedoch Ed- dy zufolge von Ärzten tabuisiert. Sie haben Nutzen und Qualität, Manager die Kosten im Blick. Folglich bekämpfen sich beide, weil, wie in je- dem anderen Bereich des Lebens auch, Kosten und Nutzen zueinander in Relation gesetzt werden müssen.

Die Lösung liegt nach Ansicht von Eddy darin, daß eine Person oder ein Team Nutzen und Kosten in der Ge- sundheitsversorgung gegeneinander abwägt. Das bedeutet, daß Ärzte in

die Rationierung einbezogen werden.

In Großbritannien zeichnet sich dies beispielsweise bei den General Prac- titioners ab, die ihr eigenes Budget verwalten.

Ronald Dworkin, Professor für Recht an den Universitäten Harvard und Oxford und einer der führenden Medizinethiker, betrachtet die Unver- meidbarkeit der Rationierung in der Gesundheitsversorgung und die gesell- schaftliche Reaktion darauf auf etwas andere Art. Er nennt seine Theorie die

„Klugheit des Versicherungsprinzips“.

Die gegenwärtige Ausgabenpra- xis im Gesundheitswesen basiert – mehr implizit als explizit – auf der Grundlage des „Isolierungsmodells“.

Das Modell setzt drei Dinge voraus:

1. Die Gesundheitsversorgung unterscheidet sich grundsätzlich von der Versorgung mit anderen Gütern.

2. Die Gleichheit des Zugangs zu Gesundheitsleistungen ist essentiell.

3. Wenn etwas den Tod verhin- dern kann, sollte dies auch getan wer- den („Rettungsprinzip“).

Dieses Modell hat beispielsweise in den USA dazu geführt, daß bei Ko- sten von mehreren Millionen Dollar siamesische Zwillinge getrennt wur- den, die am Herzen zusammenge- wachsen waren. Dabei stand fest, daß ein Zwilling sterben würde und der andere eine Überlebenschance von einem Prozent und keine Chance auf ein normales Leben hat.

Dworkin hält das „Isolierungs- modell“ weder für vernünftig noch für nachvollziehbar. Keine Gesellschaft könne ihre gesamten Ressourcen für die Gesundheitsversorgung aufwen-

den zu Lasten anderer Bereiche wie Bildung, Wohnen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen.

Dworkin entwirft eine Gesell- schaft mit fünf Eigenschaften:

1 Der Wohlstand ist gleich- mäßig verteilt.

1 Aktuelle Informationen über Stand und Nutzen der Medizin stehen allen zur Verfügung.

1 Die Menschen entscheiden rational.

1 Eltern betrachten die Inter- essen ihrer Kinder gleichrangig mit den eigenen.

1 Niemand weiß etwas über die genetische, kulturelle oder soziale Prädisposition für Krankheiten.

In dieser imaginären Gesellschaft würde die Regierung keine staatliche Gesundheitsversorgung bereitstellen.

Die Menschen müßten selbst ent- scheiden, wie und wogegen sie sich krankenversichern lassen. Dworkin behauptet, daß unter solchen Bedin- gungen jeweils ein angemessener Be- trag für die Gesundheitsversorgung aufgewendet würde und daß jeder- mann gleichermaßen Zugang zu allen medizinischen Leistungen hätte: Die Menschen würden rational darüber entscheiden, wieviel sie im Verhältnis für ihre gesundheitliche Versorgung ausgeben wollen. Sie würden selber entscheiden, ob sie eine Versiche- rungspolice erwerben, die ihnen den Zugang zur Herzchirurgie bis zum 75.

Lebensjahr ermöglicht, oder eine we- sentlich teurere, die ihnen dies bis zum 90. Lebensjahr erlaubt.

Die Frage ist, ob viele Menschen eine Police erwerben würden, die ih- nen lebenserhaltende Maßnahmen auch für den Fall garantiert, daß sie in einen dauerhaft vegetativen Zustand (PVS) fallen. Dworkin behauptet, daß sich dafür nur wenige entscheiden würden, und dennoch erhalte man derzeit einige 10 000 PVS-Patienten in den USA am Leben.

Würden die Menschen eine Poli- ce wählen, die ihnen eine lebenserhal- tende Behandlung verweigert, wenn sie innerhalb der folgenden vier Mo- nate sterben, oder eine sehr viel teure- re Police, die jede mögliche Behand- lung gewährleistet? Dworkin meint, daß die meisten sich für erstere Police entscheiden würden, obwohl 40 Pro- zent der Medicaid-Ausgaben derzeit A-2454 (34) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 40, 2. Oktober 1998

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Zeichnung: Tinos Otto

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auf die letzten vier Lebensmonate von Patienten entfallen.

Die meisten Menschen würden si- cherlich eine Versicherung wählen, die ihnen ab einem Alter von beispiels- weise 85 Jahren lebenserhaltende Maßnahmen verwehrt; zum Teil, weil sie möglicherweise ein solches Alter gar nicht erreichen, vor allem aber, weil sie sonst auf vieles verzichten müßten, um die Versicherungsprämie zu bezahlen.

Unter den Bedingungen von Dworkins Modell würden sich ver- mutlich drei Versorgungskategorien entwickeln: Leistungen, die nahezu jeder für erforderlich hält; Leistun- gen, die nahezu jeder für nicht erfor- derlich hält; und Leistungen, bei de- nen sich die Menschen unterschied- lich entscheiden. In den USA würde dies bedeuten, daß die Menschen zwi- schen unterschiedlichen Versiche- rungspaketen wählen (was amerikani- sche Arbeitgeber tatsächlich zuneh- mend anbieten). In Großbritannien könnte es bedeuten, daß der Staat Grundleistungen anbietet und dar- über hinausgehende Leistungen pri- vat versichert werden müssen.

Die These der Unvermeidbarkeit der Rationierung läßt sich anhand von Beispielen aus der Praxis belegen. Die Methoden lassen sich im Englischen durch Wörter klassifizieren, die alle mit „d“ beginnen: denial (Verweige- rung), deflection (Umlenkung), delay (Hinhalten), dilution (Ausdünnung) und deterrence (Abschreckung).

Die Verweigerung von Leistun- gen ist in Großbritannien an der Ta- gesordnung. Patienten, die ein be- stimmtes Alter überschritten haben, werden auf Intensivstationen nicht mehr aufgenommen. Pflegepersonen von chronisch Kranken wird die Un- terstützung verwehrt. Die In-vitro- Fertilisation ist für viele unfruchtbare Ehepaare nicht verfügbar.

Umlenkung bedeutet beispiels- weise, daß Patienten, die Langzeit- pflege benötigen, vom staatlichen Ge- sundheitssystem an den privaten Sek- tor weitergereicht werden.

Verzögerung ist eine der Haupt- methoden der Rationierung in Groß- britannien. Patienten müssen manch- mal Monate auf einen Termin beim Spezialisten warten, und danach mitun- ter Jahre auf einen Operationstermin.

Ausdünnung ist die möglicher- weise gängigste Form der Rationie- rung im britischen Gesundheitswesen.

Krankenschwestern kümmern sich auf einer Station häufiger um 20 als um die vorgesehenen 16 Patienten!

Patienten erhalten eher viertägige Be- handlungsreihen mit Medikamenten als fünftägige. Chirurgen verwenden eine billigere Prothese, obwohl sie überzeugt sind, daß eine teurere für den Patienten besser wäre.

Rationierung durch Abschrek- kung ergibt sich durch Bestimmun- gen wie Verordnungsgebühren, lange Wege zur Behandlung oder durch ausschließlich englischsprachige In- formationen.

Rationierungsprozesse nicht verschleiern

Die Unvermeidbarkeit der Ra- tionierung wird gerne geleugnet. Da- bei wird häufig betont, daß viele me- dizinische Behandlungsmethoden un- wirksam sind. Wenn, so lautet die Ar- gumentation, alles unterlassen würde, was nicht nachweislich wirksam ist, bestünde keine Notwendigkeit, Lei- stungen zu rationieren. Es ist richtig, daß ein großer Teil der ärztlichen Lei- stungen (dem US-amerikanischen Of- fice for Technology Assessment zufol- ge vermutlich 85 Prozent) nicht durch qualifizierte Nachweise gestützt wird.

Das Fehlen von Wirksamkeitsnach- weisen ist jedoch nicht gleichbedeu- tend mit dem Nachweis der Wirkungs- losigkeit. Zudem liegen häufig gute Nachweise dafür vor, daß Ärzte statt der preiswerten die teurere Therapie anwenden sollten.

Obwohl die Argumentation, sich auf effektive Therapien zu beschrän- ken, wichtig ist, unterscheidet sie sich grundsätzlich von der der Rationie- rung. Ähnlich bedeutsam ist die Dis- kussion darüber, wie die Effizienz der Gesundheitseinrichtungen verbessert werden kann. Sie wird die Notwendig- keit der Rationierung jedoch ebenso- wenig beseitigen wie die Debatte über die Finanzierung des Gesundheitswe- sens. Wenn mehr Geld für Gesundheit zur Verfügung stehe, so die Argumen- tation, schwinde die Notwendigkeit der Rationierung. Dies wird in Groß- britannien gewöhnlich von der jeweili-

gen Oppositionspartei vorgetragen.

Auch zusätzliche Mittel verlangen je- doch Entscheidungen, wie diese ver- wendet werden. Viele Ärzte befürch- ten zudem, daß eine Diskussion um Rationierung die Kostenträger aus der Pflicht entläßt, die Mittel für die Ge- sundheitsversorgung aufzustocken.

Rationierung hat unterschiedli- che Erscheinungsformen und findet auf verschiedenen Ebenen statt. In ei- nem staatlich finanzierten System wie dem in Großbritannien entscheidet die Regierung, wieviel Geld sie im Verhältnis zu anderen Bereichen des Staatshaushaltes in die Gesundheits- versorgung investiert. Regierungen zögern zunehmend, die Mittel für die Gesundheitsversorgung zu erhöhen.

Sie begreifen, daß der Gesundheits- zustand der Bevölkerung nicht aus- schließlich vom Gesundheitssystem abhängt. Größeren Einfluß haben so- zioökonomische Faktoren wie Wohl- stand, Ausbildungsniveau, Beschäfti- gungsstruktur oder Wohnungswesen.

Höhere Ausgaben für die Gesund- heitsversorgung führen letztlich dazu, daß sich der Anteil kranker Menschen in einer Gesellschaft erhöht.

Die meisten britischen Ärzte nehmen es hin, daß sie die medizini- sche Versorgung rationieren. Sie mö- gen es nicht und diskutieren es selten offen mit ihren Patienten. Aber sie tun es, weil sie wissen, daß in einem System mit begrenzten Mitteln, wie dem National Health Service, Res- sourcen, die einem Patienten zugute kommen, einem anderen vorenthal- ten werden.

Ob Gesundheitsleistungen expli- zit rationiert werden sollten oder ob wir uns „durchmogeln“ sollten, ist ei- ner der zentralen Punkte der Ratio- nierungsdebatte. Das Hauptargument vieler Kommentatoren gegen Offen- heit lautet: „Es ist unmöglich, die Fra- ge der Rationierung moralisch und methodisch zur Zufriedenheit aller zu lösen. Der Versuch der Offenheit wird das Vertrauen in die Ärzte und die Ge- sundheitseinrichtungen zerstören.“

Rationierung sollte jedoch nicht im Verborgenen erfolgen, nur weil sie schwierig ist. Die Menschen verste- hen, daß nicht jeder alles haben kann.

So zu tun, als wäre dies doch möglich, heißt sie zu entmündigen. Patienten verlieren vermutlich eher das Ver-

A-2456 (36) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 40, 2. Oktober 1998

T H E M E N D E R Z E I T FORUM

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trauen in ihre Ärzte, wenn sie von ih- nen getäuscht werden, als wenn ihnen gesagt wird, daß harte Entscheidun- gen getroffen werden müssen.

Ein zweites Argument gegen die Offenheit ist, daß sie vermutlich dazu führt, die Öffentlichkeit direkt in die Entscheidungen über Rationierung einzubeziehen. Möglicherweise hätte dies zur Folge, daß bestimmte Grup- pen wie Alte, psychisch Kranke oder Drogenabhängige diskriminiert wer- den. Dieser Einwand spricht aller- dings eher dafür, die Menschen besser zu informieren, statt die Notwendig- keit der Rationierung vor ih- nen zu verbergen.

Ein drittes Argument ist, daß das öffentliche Vertrauen in die Gesundheitseinrichtun- gen untergraben würde, wenn Patienten aufgrund abstrakter Prinzipien Therapien vorent- halten werden. Gewiß, die Be- stürzung in Großbritannien war groß, als einem leukämie- kranken Mädchen eine zweite Knochenmarktransplantation offenbar aus Kostengründen verwehrt wurde. Dies ist je- doch ein weiteres Argument für mehr Information und ge- gen eine Verschleierung der Rationierungsprozesse.

Für einen offenen Umgang mit Fragen der Rationierung spricht, daß Erwachsene Zugang zu den Entschei- dungen haben sollten, die ihr Leben beeinflussen. In einer Demokratie muß es den Bürgern erlaubt sein, Ent- scheidungsprozesse zu beeinflussen.

Zudem hindern offene Entschei- dungsprozesse bestimmte Interessen- gruppen daran, unter dem Einfluß mächtiger oder vermögender Grup- pen nach Tradition, Vorurteil oder Laune zu entscheiden. Rationierung ist ein „schmutziges Geschäft“, und gerade deshalb darf die Öffentlichkeit nicht getäuscht werden.

Außerdem kodifizieren klare Prinzipien der Rationierung nicht das Verhalten. Sie ziehen lediglich morali- sche Grenzen für die Entscheidungen im Einzelfall. In der Diskussion um völlige Offenheit oder völliges Ver- schleiern wird keine Gesellschaft ei- nen der Extremstandpunkte einneh- men. Sie wird sich vielmehr entschei- den, an welcher Stelle des Spektrums

sie sich wohlfühlt. In Großbritannien ist derzeit eine Bewegung zur Offen- heit spürbar.

Die Fragen, wer Rationierung durchführen wird und wie sie erfolgen sollte, können nicht definitiv beant- wortet werden. Jedes System wird ei- gene Methoden entwickeln. Kein Sy- stem wird das Problem lösen, weil es nicht zu lösen ist. Es bedarf vielmehr der fortgesetzten Diskussion und Ent- wicklung.

Ein Lösungsansatz stammt aus dem US-Bundesstaat Oregon, einem Vorreiter der offenen Rationierung

der Gesundheitsversorgung. Die Dis- kussion in Oregon begann, als der Staat beschloß, die Kosten für Trans- plantationen bei Patienten, die über Medicare (staatliche Krankenversi- cherung für Mittellose) versichert sind, nicht zu übernehmen. Zur Be- gründung hieß es, der Staat wolle lie- ber mehr Mittel für die medizinische Versorgung eines großen Personen- kreises bereitstellen, als teure Lei- stungen für eine kleine Zahl von Pati- enten zu übernehmen. Diese Ent- scheidung rief heftige Proteste hervor auch von denen, die behaupteten, daß Transplantationen unter bestimmten Umständen durchaus kosteneffektiv seien. Auf diese Weise wurde jedoch ein Prozeß eingeleitet, in dessen Ver- lauf die Unvermeidbarkeit der Ratio- nierung akzeptiert wurde ebenso wie die Notwendigkeit, dies offenzulegen.

Der Staat führte beispielsweise Mei- nungsumfragen zu Themen wie Le- bensqualität versus Lebensquantität durch. Die öffentliche Meinung wur-

de mit der Ansicht von Experten ab- gestimmt. Daraus ergab sich eine Rangliste verschiedener medizini- scher Interventionen. Das Ziel: Das Parlament setzt das Medicare-Budget fest, und der Staat finanziert daraus die medizinischen Leistungen nach ih- rer jeweiligen Priorität auf der Liste.

Die Neuseeländer haben ihre of- fene Rationierung darauf beschränkt, Prioritätenlisten für bestimmte Pati- entengruppen zu erstellen, die bei- spielsweise auf eine Katarakt-Operati- on, einen Koronar-Bypass oder auf ei- ne Hüft- oder Knieprothese warten.

Sie haben ein Punktesystem (scoring) entwickelt, wobei die- jenigen mit den höchsten Wer- ten die erforderliche Operation zuerst erhalten. Das Instru- mentarium basiert primär auf der klinischen Notwendigkeit.

Heftige Debatten gab es dar- über, inwieweit soziale Fakto- ren berücksichtigt werden soll- ten wie Alter, Gefährdung der Selbständigkeit, Pflege abhän- giger Personen, Arbeitsfähig- keit und Wartezeit. Letztlich wurden einige dieser Punkte berücksichtigt. Sowohl die pro- fessionelle als auch die öffentli- che Reaktion auf diese „Ratio- nierungsoffensive“ war positiv.

Medizinische Leistungen werden in allen Gesundheitssystemen ratio- niert. Steigende Effizienz und Effekti- vität werden daran ebenso wenig än- dern wie steigende Gesundheitsaus- gaben. Es sollte jedoch offen ratio- niert werden, um die Verantwortlich- keit zu gewährleisten und das öffentli- che Vertrauen zu erhalten. Einfache Lösungen gibt es nicht. Oregon und Neuseeland sind vorangegangen, an- dere Länder müssen folgen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-2453–2458 [Heft 40]

Anschrift des Verfassers Richard Smith

British Medical Journal BMA House

Tavistock Square

London WC1H 9JR, Großbritannien Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt von Friedrich Werner, Wiener Krankenanstal- tenverbund.

A-2458 (38) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 40, 2. Oktober 1998

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