629
Die runden Zahlen im Hohenliede.
Von S. J. Kaempf.
Im Hohenliede kommt die Zahl 60 zweimal (III, 7; VI, 8),
und die Zahl 80 einmal (VI, 8) vor. Der historische Charakter
dieser Zahlen wird von mehreren Interpreten ans triftigen Gründen
angezweifelt; zwingende Beweise für die diesbezüglich ausgesprochene
Vermuthung werden indessen nicht beigebracht. Nur Magnus
(Kritische Bearbeitung und Erklärung d. HL.'s S. 221) weist auf
eine Stelle im Talmud hin, wo die Zahl 60 als eine runde er¬
scheint *). Es braucht wohl aber nicht erst hervorgehoben zu wer¬
den, dass völlige Gewissheit in der fraglichen Beziehung nur zu
erlangen sei, wenn eine ganze Reihe authentischer Stellen nach¬
gewiesen wird, in denen die betreffenden Zahlen in einem Zusammen¬
hang stehen, der über ihre Bedeutung keinem Zweifel Raum ge¬
stattet. Demgemäss lassen wir hier mehrere einschlagende Stellen
aus der ausserbiblischen , hebräischen und chaldäischen Literatnr
Revüe passiren.
1. Synhedr. 7a:
nbi Nnuän • piSffi NliDtOT NTIEt * NfT» nfl iTinni IS
NISD Nb T'T^ö'ia V. ^ ria Nine • iinani NfT»
„Einst lagen wir — als uns're Lieb' war mächtig —
Auf Schwertesbreite nur — und schliefen prächtig;
Jetzt, wo die Liebe lau — genügt uns kaum
Ein Riesenbett von sechzig Ellen Raum". *)■
2. ChoL 48 b:
tiiDsnpa Npab ibr NbtiD ua 1 ^ n«* =
j,Mückenstachel viel Schmerz Dir machen kann, —
Sechzig Minen Eisen hängen daran".
1) Das zweite Citat ib. gehört Pseado-Sirach an, ist mithin anzu- verlässig. Siehe Ben-S^b, NI^D p »üältT« man, pag. VIII; Fürst, Miin Di5"»5B, S. 22; Dukes, Blumenlese, S. 83.
2) conf. Fleischer, Ali's hundert Sprr. p. 77: LojJt oöL/ö
Q*tXihLuit,i\ ; u. Schiller, der Parasit IV. Act, 4. Auftr.
630 Kaenipf, die runden Zahlen im Hohenliede.
3. B. Kam. 92 b:
b^DN Nbi »nüf ü^ian bpi tosb pDn vn«:
„Ach! sechzigfache Pein
f'ühlt dessen Zahngebein, Der fastend zu muss schauen.
Wie And're Speise kauen".
4. Moed Kat. 28 a:
(Ungleiches Schicksal bei gleicher Würdigkeit.)
In des Einen Hause
Sechzig Hochzeitsbälle (Pibn T'n®.)
In des Andern Kreise
Sechzig Sterbefälle (Pan pnui).
Zu dieser Stelle bemerken bereits die alten Glossatoren, dass
da die Zahl 60 nicht strict («piii isb) zu nehmen sei.
5. B. mez. 107 b: i)
'^■'15 N1DKM1 Niap T't:73 Nbn T>t:ni iiuini pnia:
„Wer einen guten Imbiss früh genommen.
Dem können sechzig Läufer nach nicht kommen".
In der Mischnah (Tract. Aboth V, 24) wird das vollendete
sechzigste Lebensjahr des Menschen als Beginn des Alters be¬
zeichnet, und demgemäss wird Moed Kat. 28 a die Ansicht aus¬
gesprochen, dass „vor vollendetem sechzigsten Lebensjahre sterben",
heisse: „vor der Zeit hingerafft werden" (nia). Ein berühmter
Lehrer — wird ebenda erzählt — feierte deshalb seinen sechzig¬
sten Geburtstag auf ganz besonders glänzende Weise, weil — wie
er sagte — er nnnmehr sicher sei, nicht vor der Zeit hingerafft
zu werden. In diesem Sinne wird der Zahl 60 die Zahl 6 gegen¬
über gestellt — der Ahschluss der Kindheit dem Beginn des
Alters; so z. B. M. Kat. 9b:
Nuni Nbau bpb nvi naa pnis na:
„Die Sechzigjähr'ge, wenn Musik erschallt.
Eilt hin gleich Jener, die erst sechs Jahr alt".
Die Zahl 60 wird häufig auch angewendet, um das Verhältniss
zwischeu Grossem und Kleinem zu bestimmen, ja, um das Kleine
zu einem Minimum herabzudrücken. Der dieses Verhältniss be¬
zeichnende Terminus lautet : öifflffiM IHN (das Eine verhält sich zum
Andern, wie) „1 zu 60". So, z. B., die Aussprüche Ber. 57b:
iriN aPn • nniab öifflüia inN nsiä • ajMip diöibm ihn «!N
Sai riNiasb a i b il5 m *j. In einem andern Sinne erscheint der
Terminus DittSiü» ihn in folgendem Ausspruch (Ned. 39b): „Wenn
eineu Kranken eine ihm sympathische Person besucht, so vermiu¬
dert dies sein Leiden um '/«o" (conf. B. mez. 30 b) — IHN bc3i:
dilöTIJM .
lj Diese Stelle citirt Magnus a, a. O.
2) Man vgl. auch Pesacb. 94 a.
Kaempf, die ruiulen Zahlen im Hohenliede. 631
Dieser Charakter der Zahl 60 wurzelt wohl darin , dass diese
ein Product der Verzehnfachung der Zahl 6 ist, welch' letztere
zu den Bezeichnungen einer kleinen unbestimmten Mehrheit gehört
(wie schon in der Bibel die Zahl 7). Z. B. Ber. 44 b:
Nnbio iDiip Nn^JM Nnbabnaja snyia nsd:
„Ein weichgesotten Ei giebt mehr Nahrung als sechs
Maass feines Mehl".
Desgl. Synh. 20 a:
nns nibua fliDanM tsiT^abn rtfflti :
Sechs Schüler bedecken sich mit einem Ueberwurf
(Bild grosser Armutb).
Was die Zahl 10 betrifft, so erscheint sie schon in der Bibel
nicht nur als heilige, sondern auch als runde Zahl, als Bezeichnung
einer grösseren unbestimmten Mehrheit. So Genes. 31,7; Lev. 26, 26;
Num. 14, 22; 1. Sam. 1, 8; Hi. 19, 2; Kohel. 7, 19 u. a. a. 0.
In der ausserbiblischen Literatur:
Ketub. 62 a:
misi-iET ^ap niWyn mbsm apa nuic* nxi-i:
„Ein einzig winzig Maass (schmale Kost)
Bei leichter Lebensart
Behagt dem Weibe mehr.
Als zehn mit Ernst gepaart".
Kidd. 49 b:
aiiöD ibus TOiiin • öbisb nniia T^ap mia»:
„Zehn Maass Geschwätz ist in die Welt gekommen.
Neun haben sich davon die Frau'n genommen".
Was aber die Zahl 6 betrifft, so dürfte sie ihre Bedeutung
als runde Zahl wohl den 6 Schöpfungstagen zu verdanken haben.
Einen Anhaltspunkt dafür bietet der Ausspruch : isui isbN nüs
Nab» (Synh. 97 a). Vgl. Ps. 90, 4.
Für die Beziehung der Zahlen 60 und 6 zu einander ist es
gewiss bezeichnend, dass für den biblischen Ausdruck mNa «ita
CjbN (Ex. 12, 37; Num. 11, 21) in der ausserbiblischen Literatur
der Terminus Niai DiffliD (60 Myriaden) sich findet.
Im Midr. Mechilta XII wird der Passus Dinaa aiffiffi (HL. III, 7)
geradezu auf qbN niNa ©ib 1. c. bezogen, freilich im Geiste der
allegorischen Interpretation (conf. Dan. 3, 2).
Dass die Zahl 60 anch auf nichtsemitischem Gebiete als
runde Zahl figurirt, ist bereits mehrfach hervorgehoben worden;
namentlich wird anf das Lateinische hingewiesen, wo „sexaginta"
als runde Zahl erscheint. Von entschieden grösserem Interesse ist
es aber, dass im Griechischen, in einer dem Hohenliede in viel¬
facher Beziehung so nahestehenden Dichtung, der Passus: „rsTQuxig
i^i^xovra xoQcii" sich findet (Theokr. XIII, 24).
Ist nun die wahre Bedeutung der Zahl 60 im HL. richtig er¬
kannt, so kann auch über den wahren Charakter der Zahl 80 da¬
selbst kein Zweifel mehr obwalten; letztere ist als eine unbestimmte
632 Kaempf, die runden Zahlen im Hohenliede.
Steigerung der ihr vorangehenden Zahl der grösseren Mehrheit zu
betrachten, was umsomehr einleuchtet, wenn man die 80 als ver¬
doppelte 40 in's Auge fasst. Für die Bedeutung der Zahl 80
als Bezeichnung einer unbestimmten grossen Mehrheit können fol¬
gende Stellen als Anhaltspunkte dienen. B. batr. ') wird mitgetheilt,
dass der Patriarch Hillel I. achtzig Schüler gehabt habe, was
gewiss nicht strict zu nehmen ist, besonders im Hinblick auf eine
andere Meldung, dass Menahem , der Gefährte des Ersteren, als er
sich von der Hillel'schen Partei trennte, achtzig Schüler-Paare
(DiJlt öUiaiB) nach sich gezogen habe (jerus. T. Chag. II, 2-, bab.
T. Chag. 16a). Ber. 44a ist von achtzig Brüder- nnd achtzig
Schwestern-Paaren die Rede. Zuweilen wird der Zahl 80 noch
eine kleine rnnde Zahl beigefügt, was den Zweck zn haben scheint,
den Begriff der unbestimmten Mehrheit noch zu steigern. So, z. B.,
wenn B. Kam. 92b von der Galle gesagt wird, dass von ihr 80
und 3 Krankheitsarten (v^bn üöbiBi QisiHttj) ausgehen u. drgl. m. *)•
Dass das Voranstehende geeignet ist, neben der Feststellung
der Bedeutung der Zahlen 60 und 80 im HL. auch über manche
Stelle im Kanon, wo die Zahlen 6, 60, 80 und 85 sich finden,
neue Vermuthungen hervorzurufen, und mänche exegetische Schwierig¬
keit zu beseitigen, dürfte sich von selbst verstehen s''
1) 118 a; Suk. 28 a.
2) Die Hinweisung ib. auf den Zahlenwerth von !lbt1p hat nur einen mnemonischen Zweck.
3) Unter der Ueberschrift: „Zahlen" hat Kneucker in jüngster Zeit in Schenkel's Bibel-Lexicon , Schlussheft, die in der Bibel vorkommenden heiligen und bedeutungsvollen Zahlen eingebend besprochen. — Näheres in meinem Commentar zum Hohenliede, der bald erseheinen dürfte.
633
Notizen und Correspondenzen.
Die Febleri-Erzählnng tob Gösht-i Fryänö und der idr-
gisisclie Bücliergesang „Die Lerclie'<.
Von Beinhold K»hler.
Es scheint bisher noch nicht bemerkt worden zu sein, dass
die Pehlevi - Erzählnng von G6sht-i Fryano nnd ein kirgisischer
„die Lerche" betitelter Büchergesang, welche beide Dichtungen erst
seit einigen Jahren bekannt gemacht worden sind ^) , in ihrem In¬
halte der Art mit einander übereinstimmen, dass eine aus der andern
herzuleiten sein wird.
Nach der Pehlevi-Erzählung sandte einst der Zauberer Akht,
welcher sich vorgenommen hatte, die Stadt der Räthsellöser zu
zerstören und ihre Einwohner zu tödten, an Gösht-i Fryänö, einen
frommen Einwohner dieser Stadt, die Botschaft: „Komm zu mir,
damit ich dir 33 Räthsel aufgeben kann, und wenn du keine
Antwort gibst oder sagst: Ich weiss nicht, dann werde ich dich
sofort tödten." Gösht^L Fryänö folgte der Auflforderung und löste
sämmtliche Räthsel auf. Hierauf gab er nun seinerseits dem Zau¬
berer drei Räthsel auf, und da dieser sie nicht beantworten konnte,
vernichtete er ihn durch eine gewisse heilige Formel.
In dem kirgisischen Gesang wird erzählt, wie der Prophet
Aesrät Ali, der die Schuld eines armen Gläubigen zu bezahlen
versprochen hat und deshalb auszieht, das Geld zu suchen, von
einer Lerche in eine von Ungläubigen bewohnte Stadt getragen
wird. Als er sich dort als einen der Propheten zn erkennen gibt,
1) Die Petilevi-Erzählnng ist von E. W. West im Original und in englischer Uebersetzung herausgegeben in M. Haug's Ausgabe des „Book of Ardä-Viräf"
(Bombay und London 1872), S. 205—66. Den kirgisischen Gesang hat
W. Radloff im Original und in deutscher Uebersetzung mitgetheilt in seinem Werke ,,Die Spracben der türkischen Stämme Süd-Sibiriens und der Dsun¬
garischen Steppe. I. Abtheilung. Proben der Volkslitteratur". III. Theil (St. Petersburg 1870), S. 693 ff., üebersetzung, IU. TheU, S. 780 ff.
4 4