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Archiv "Kindstötungen: Rechtsfindung nach Gefühl" (16.06.2006)

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indstötung ist ein klassischer li- terarischer Stoff, siehe etwa Fausts Gretchen. Immer steckt eine aus- weglose Lage dahinter. Sabine H. (heu- te 40) hatte mit 20 bereits drei Kinder und soll zwischen 1988 und 1998 neun folgende unmittelbar nach der Geburt getötet haben. Sie hat ihre Zwangslage nie geoffenbart. Sie schwieg noch vor Gericht. Über ihr Leben habe sie zwar klug und differenziert berichtet, ver- merkt der begutachtende Psychiater Dr. med. habil. Matthias Lammel (54), aber Sexualität „komplett ausgespart“.

Sobald die Sprache auch nur in die Nähe der ihr zur Last gelegten Taten kam, habe sie geschwiegen. Auf Geheiß ihres Anwalts. Das Landgericht in Frankfurt/Oder hat die Schweigerin wegen Totschlags in acht Fällen (der er- ste aus 1988 war verjährt) am 2. Juni zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Ein solcher „Fall“ von Kindstötung sprengt das Vorstellungsvermögen. Um- so wichtiger wäre ein rechtlich überzeu- gendes Ergebnis eines solchen Jahrhun- dertfalls. Doch es haperte an allem: Die Ermittlungen konzentrierten sich allein auf die Frau und vernachlässigten mög- liche Mitbeteiligte. Die Staatsanwalt- schaft beherrschte nicht einmal das Ver- fahrensrecht und redete noch von Mord, als längst wegen Totschlags verhandelt wurde. Die Verteidigung spielte auf Risi- ko und verlor. Das Gericht stützte sich in dem entscheidenden Punkt, ob es sich

um Tot- oder Lebendgeburten gehandelt hatte, auf Annahmen statt auf Beweise.

Das Gutachten des Brandenburgi- schen Landeskriminalamtes lässt keinen Schluss auf Todesursache und -zeitpunkt zu. So hat sich das Gericht auf seine Le- benserfahrung und vage Aussagen der An- geklagten im anfänglichen Polizeiverhör gestützt. Diese Aussagen waren indes nur in einem Fall klar genug, um zu ei- nem Urteil beizutragen, ansonsten berief sich Sabine H. darauf, volltrunken gewe- sen zu sein: Sie hatte von den Geburten nichts mitbekommen wollen und hatte sich beizeiten betrunken. Auch die Spu- renbeseitigung – Einhüllen in Plastiktüten und Begraben, angeblich in Blumenkä- sten – will sie nicht bewusst bemerkt ha- ben. Gutachter Lammel folgerte, weil die Spuren sorgfältig beseitigt worden seien, könne sie nicht völlig betrunken gewe- sen sein. Daraus lässt sich auch der Um- kehrschluss ziehen,falls die Frau doch voll- trunken war, muss jemand anderes die Spuren beseitigt haben oder dabei mitge- holfen haben.Lammel fand jedoch „keinen Hinweis,dass es ein anderer gemacht hat“.

Dürftige Beweislage

Die Spuren der Kindstötungen blieben jahrelang, bis 2005, unentdeckt. Die In- halte der Plastikbeutel müssen zu dieser Zeit eine übel riechende unförmige Mas- se gewesen sein. Das Landeskriminalamt hat bewundernwerterweise sieben weib- liche und zwei männliche Kinder zu un- terscheiden vermocht, alle von Sabine H.

und ihrem vormaligen Ehemann Oliver.

Die Richterinnen erkannten trotz der dürftigen Beweislage auf die Höchst- strafe. Das lag auch am Schweigen der Angeklagten. Sie hat sich damit jegliche Chance verbaut, Verständnis für ihre Zwangslage zu erwecken oder zu einer anderen Wahrheit beizutragen. Ihr An- walt, Matthias Schöneburg (50), hatte seine Verteidigung auf das Schweigen aufgebaut. Er vertraute darauf, dass nur

der eine vor der Polizei eingeräumte Fall als beweiserheblich herangezogen würde. Er hat sich geirrt.

Der Ex-Ehemann der Frau, ein ehe- maliger Stasi-Mann, der in den fraglichen Jahren mit der Frau, die fast ununterbro- chen schwanger war, das Bett geteilt hat, will von nichts gewusst haben. Ein Ermitt- lungsverfahren gegen ihn wurde schnell eingestellt.Welche Funktion dem Mann in dem Handlungsraster zufiel, wurde demnach nicht geklärt. Es gab deutliche Hinweise auf eheliche Gewalt. Zu unter- suchen wäre gewesen, wieweit das häus- liche Leben der Familie in einem abge- schotteten Stasi-Wohnblock die Willens- bildung der 1988 noch sehr jungen Frau geprägt hat. Das wäre spätestens ange- zeigt gewesen, als sich herausstellte, dass sich Sabine H. autoritären Forde- rungen zeitlebens schweigend fügte. 1988 kam es zu der ersten Kindstötung, die ei- ne Art Durchbruch für die folgenden ge- wesen sein muss. „Diese Wiederholungen darf man“, so der forensische Sachver- ständige Lammel, „nicht als höheres Maß an Pathologie einordnen.“ Entscheidend ist somit der „Fall 1988“, der zwar ver- jährt war, dessen Umstände aber wegen der Pilotfunktion vor Gericht hätten ge- klärt werden müssen. Doch nichts davon.

Der Ehemann habe „eine sehr unterge- ordnete Rolle gespielt“, so die Prozess- beobachterin einer Regionalzeitung.

Vorverurteilungen durch Volkes Stim- me und Politik setzten sofort nach Be- kanntwerden der Leichenfunde 2005 ein. Die Haftanstalt behandelte den Un- tersuchungshäftling wie eine verurteilte Wiederholungstäterin. Im Evangelischen Krankenhaus Luckau, in dem sie wegen eines gravierenden gynäkologischen Be- fundes operiert wurde, fanden Beobach- ter sie nach der Operation „mit Fußfes- seln im Bett, trotz Bewacher“ vor: „Wir waren ja so entsetzt. Wo sollte sie denn hin in ihrem Hemd?“ Das Krankenhaus verweigerte auf Anfrage jegliche Aus- kunft. Eine Nachoperation im Februar wurde von der Haftanstalt abgelehnt.

Nicht einmal Post und zugesandte Lite- ratur händigte die Anstalt aus, berichtete Dr. med. Annemarie Wiegandt, die Ver- bindung zu Sabine H. aufnehmen wollte.

Revision ist angekündigt. Der Bun- desgerichtshof kann nur die rechtliche Bewertung prüfen, nicht aber vermassel- te Ermittlungen heilen. Norbert Jachertz

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A1644 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 24⏐⏐16. Juni 2006

Kindstötungen

Rechtsfindung nach Gefühl

Prozess gegen Sabine H.:

wackeliges Urteil und mehr Fragen als Antworten

Foto:dpa

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